Die halbtotale Erinnerung

Rainer Merkel: Lichtjahre entfernt. Roman
Von Boris Seewald

"Wie erinnert man sich? Was bleibt von den Nächten zurück, die man zusammen verbringt? Ich muss zurückrechnen. […] In einer systematischen Erinnerungsarbeit, und wenn man alles noch einmal durchgeht, findet sich vielleicht der entscheidende Moment"
- so beschreibt der Ich-Erzähler in Rainer Merkels letztem Roman den Versuch, das Scheitern seiner ungefähr fünf Jahre dauernden Beziehung mit Judith zu ergründen. Dieser retrospektive Versuch erstreckt sich in der Form des inneren Monologs über 200 Seiten. Am Ende steht wiederum das Scheitern: Das des Erzählers auf der Suche nach dem Moment und Rainer Merkels auf der Suche nach seinem Erzählgegenstand.

Sozialexpertise Loslabern – Autoren-Ich trifft Gesellschaftsnormalität

Rainald Goetz: Loslabern. Bericht 2008
Von Melanie Horn

Ein Bericht über den Herbst 2008 - das soll Rainald Goetz' Text Loslabern, folgt man dem Untertitel, sein. Doch objektiv berichtet wird hier nicht. Radikal subjektiv und in Ich-Form beschreibt der Autor Begegnungen rund um die Frankfurter Buchmesse, den Herbstempfang der FAZ und die Ausstellungseröffnung des Künstlers Albert Oehlen. Episoden des Herbstes 2008, bei denen Goetz seine Gegenüber gnadenlos zutextet. Er trifft Journalisten, Autoren und Künstler. In jeder Hinsicht enthemmtes Loslabern scheint dabei der Grundsatz seiner sozialen Kommunikation zu sein. 

Das vermeintliche Paradies

Thomas Klupp: Paradiso. Roman
Von Wolfgang Planz

"Irgendwann rastet ein Mechanismus ein, ich sage lauter Dinge, die ich überhaupt nicht so meine, und wenn ich mich erst einmal um Kopf und Kragen geredet habe, gibt es kein Zurück. […] Irgendwann werde ich mir die Zunge rausschneiden müssen oder als Einsiedler in die Wälder gehen, das ist die einzige Rettung, die es für mich gibt."
Thomas Klupp hat seinen Ich-Erzähler und Protagonisten mit einem unbändigen Hang zum Schwindeln ausgestattet: Alex Böhm ist ein Hochstapler und ein berechnender Lügner. Auf seiner rund 24-stündigen Reise entpuppt er sich sogar als ein ausgesprochen hinterhältiger Kerl, der in seiner Vergangenheit fast alle seine Freunde auf die eine oder andere Weise betrogen hat.

Rundumschlag gegen das System

Juli Zeh: Corpus Delicti. Ein Prozess
Von Nils Neusüß

Juli Zeh benötigt nur wenige Sätze um ihre dystopische Zukunftswelt in Corpus Delicti zu umreißen: Sauberkeit und Gesundheit sind Bürgerpflicht, Sterilität gehört zum guten Ton und alles wird von einem anonymen Staatsapparat (durchgängig nur als "METHODE" bezeichnet) überwacht. Den Rest haben Orwell, Huxley und Bradbury bereits vor Jahrzehnten beschrieben, Filme haben das Setting übernommen und so in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt.

"Keine Sicherheit für niemanden"

Sibylle Berg: Der Mann schläft. Roman
Von Christine Blinn

Im Zentrum des neuen Romans von Sibylle Berg steht eine namenlose Ich-Erzählerin mittleren Alters. Sie ist, ohne dies explizit zu deklarieren, eine Suchende - und damit kehrt Berg zu einem Problem zurück, das schon in ihrem Roman Ein paar Leute suchen nach Glück und lachen sich tot (1997) titelgebend war. Inmitten von Suizidgedanken und Anfällen von Todessehnsucht stehen die Fragen im Raum: Wofür lebt der Mensch? Wofür lohnt es sich zu leben? Es geht um nichts Geringeres als den Sinn des Lebens, um das "Erleben dessen, was die Welt zusammenhält", eine Formulierung, in der Goethes Faust anklingt. Da die Ich-Erzählerin damit keine neuen Fragen aufwirft, wird der Roman vor allem zu einer Auseinandersetzung mit den Kernfragen der westlichen Kultur. 

"Ich war keiner von ihnen. Das sagte ich mir jeden Tag"

Benedict Wells: Spinner. Roman
Von Mareike Voigt

"Ich verfluchte die Tatsache, dass mein Leben wie ein mieser Hollywood-Film war." - Der Hauptdarsteller dieser Produktion heißt Jesper Lier, ist wohnhaft in Berlin, Alibi-Student und hauptberuflich Schriftsteller eines neuen 'Ausnahme-Romans'.  Frei nach seiner Vorstellung von einem jungen, vereinzelten und in Selbstfindung begriffenen Genies, ist sein Künstlerdomizil ein finsteres Kellerloch. Der Fußboden ist übersät mit beschriebenen Seiten von "Der Leidensgenosse", seines Welterfolgs in spe. Weitere Charakteristika: wenig Freunde, um genauer zu sein nur Gustav und Frank; allerdings mit dem ehemaligen Lehrer Borning immerhin eine Art Mentor; ein ungesunder Lebensstil, hauptsächlich Alkohol und zu wenig Essen; ein problematisches Verhältnis zur Familie, die er nie schafft, zu besuchen; Probleme mit dem weiblichen Geschlecht, denn Jesper ist noch immer Jungfrau und erfindet sogar eine Freundin; und zu guter Letzt: ausgewachsene Wahnvorstellungen.

Schein und Sein

Daniel Kehmann: Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten
Von Christoph Hümpfner

In der Schnelllebigkeit des modernen Kommunikationszeitalters ist der Ruhm mehr oder minder nur eine Frage der nicht selten selbst inszenierten Fügung. In Ruhm präsentiert Daniel Kehlmann neun Kurzgeschichten von Menschen, die zurecht kommen müssen in einer Welt von Sein und Schein. Dabei sind die Geschichten nicht chronologisch angeordnet und mal mehr, mal weniger eindeutig miteinander verbunden. Ihr Zusammenhang erschließt sich meist erst nach und nach: "Ein Roman ohne Hauptfigur! Verstehst du? Die Komposition, die Verbindungen, der Bogen, aber kein Protagonist, kein durchgehender Held."

Intensivierung der Gegenwart

Henning Kober: Unter diesem Einfluss. Roman
Von Wolfgang Planz

Die "Intensivierung der Gegenwart" lässt Henning Kober seinen skandalumwitterten Autor Bobby geradezu programmatisch in einem seiner Blogeinträge fordern. Damit formuliert Kober zugleich die zentrale Lebensmaxime seiner Protagonisten und in gewisser Weise auch die Leitlinie seines Debüts.

Die Macht der Erinnerung

Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht. Roman
Von Josephine Kretschmer

Wenn ein Mensch durch ein unerwartetes Ereignis plötzlich die Sprache und alle Erinnerungen verliert, dann bedeutet dies auch den Verlust eines erheblichen Teils seiner Identität. Es erfordert unheimliche Energie und einen starken Willen, sein Gedächtnis, und damit die eigene Persönlichkeit, zurückzugewinnen. Sich selbst kennenlernen und wieder entdecken, kann heißen, mit den traditionellen Moralvorstellungen zu brechen und sich selbst so anzunehmen, wie man ist. Vor wem muss man sich eigentlich rechtfertigen für seine Vergangenheit - außer vor sich selbst? Bereut man seine Entscheidungen, Gefühle oder Verhalten?

Orgasmen als Lebenselixier

Helmut Krausser: Einsamkeit und Sex und Mitleid. Roman
Von Melanie Horn

Der Callboy Vincent sitzt am Weihnachtsabend in einer Kneipe. Als er nach Hause kommt und sich seiner Kleider entledigt, wird er von einer blutjungen Einbrecherin überrascht. Statt die Polizei zu rufen, bietet er ihr sein zuvor eingelassenes Badewasser an und lädt sie zu einem Glas Sekt ein. Ekkehard Nölten, ehemaliger Lateinlehrer, zwangspensioniert, sucht an diesem Abend dieselbe Kneipe auf wie Vincent und un-erhält sich mit der Besitzerin Minnie. Er erzählt ihr vom Römischen Reich und davon, dass alles irgendwie schon einmal da war. Julia König teilt ihrem Ehemann Uwe nach sechs Jahren mitten in ihrem alljährlichen Weihnachtsritual mit, dass sie sich trennen müssen, sofort. Uwe verlässt das Haus und sucht Zuflucht im Alkohol. 

Die Anatomie der Melancholie

Kai Weyand: Schiefer eröffnet spanisch
Von Boris Seewald

Kai Weyands Romandebut wirft einen alkoholgeschärften Blick auf die Bildungsmisere - aus der Perspektive eines gescheiterten Lehrers. Der titelgebende Schiefer ist ein solcher: Verzweifelt aus dem Schuldienst ausgeschieden, von Frau und Sohn verlassen, widmet sich der ehemalige Pädagoge nun anderen, mehr ins Private zielenden Tätigkeiten: Gitarre spielen in einer Hochzeitsband, Schachpartien gewinnen und Unmengen geistiger Getränke konsumieren. Die allgemeine Daseinsmelancholie teilt er mit dem namenlosen Ich-Erzähler, seinem Schachpartner. Der ist von Profession Privatdetektiv und mit seinem Leben ebenfalls alles andere als zufrieden. Das zeigt sich nicht nur an der Bouteillenzahl, die sich im Laufe der Romanhandlung anhäuft. Seit drei Jahren treffen sich die beiden fast täglich zu Schach und Rotwein, begleitet von wenig Konversation, aber umso mehr desillusionierter Schwermut.

Von der Selbstfindung, von sprechenden Igeln und von Eichendorffs Taugenichts

Alexander Rösler: Ich bin nur mal kurz mein Glück suchen ... Neues vom Taugenichts
Von Michaela Kuntz

Ich bin nur mal kurz mein Glück suchen: Der Titel trifft den Nagel auf den Kopf: Das 'Ich' heißt Robert - und macht sich mit siebzehn Jahren und großer Gelassenheit einfach von seinem Elternhaus davon. Es sind keine tragischen Familienstreitigkeiten, die ihn mit gut gepacktem Rucksack und Haushaltskasse, aber ohne Plan und Ziel in die Ungewissheit der weiten Welt treiben. Nein, zuhause in der thüringischen Kleinstadt ist alles wie immer: Vater mäht allsamstäglich den Rasen, einmal längs und einmal quer, Mutter geht mit feuchtem Lappen und in Gesundheitssandalen auf Staubkornsuche. Dann fordert sein Vater Robert auf: "Mach endlich was, tu was Sinnvolles, lauf wenigstens irgendwohin und mach irgendwas von Nutzen!" Und genau das macht Robert. Er steht auf und sucht sein Glück woanders.

"Seither hieß Leben Zeit, geteilt durch Schnelligkeit"

Durs Grünbein: Strophen für übermorgen
Von Anna Rung

Als begebe man sich auf eine Reise durch die Zeit und zu den vielfältigen Schauplätzen des menschlichen Lebens - so wirkt es, wenn man Durs Grünbeins neuesten Gedichtband liest. Von der Antike, über die DDR-Vergangenheit Deutschlands, bis hin zu gegenwärtigen Gefühls- und imaginären Erfahrungswelten setzt sich der Autor mit grundlegenden Fragen des menschlichen Lebens auseinander. Im Zentrum stehen die Vergänglichkeit des Einzelnen, individuelle Erinnerung und kollektives Geschichtsbewusstsein. Die Gedichte sprechen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und vereinen für einen Moment die Zeit, vergleichbar mit der Atmosphäre beim Besuch eines Museums.

Favourite Worst Utopia

Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Roman
Von Boris Seewald

Christian Kracht ist - so viel Floskel möge erlaubt sein - eine Ausnahmeerscheinung. In den Neunzigern noch als Popliterat gehandelt, musste von dieser Bezeichnung spätestens seit 1979 abgelassen werden. Kracht ist Weltreisender, Kosmopolit, viel­seitig und fundiert gebildeter Reisejournalist und seine Veröffentlichungen im Ver­bund mit seinen öffentlichen Auftritten können fast schon als Gesamtkunstwerk gel­ten. Es ist ein Glücksfall, dass Kracht finanziell nicht auf Verkaufszahlen angewiesen ist, keinen Trends folgt und sich erst recht weigert, zwanghaft welche zu setzen. So kann er sich diverse Freiheiten erlauben. Beispielsweise eine in hochwertigem Layout gedruckte Literaturzeitschrift im Axel­ Springer-­Verlag herausgeben (Der Freund, 2004­-2006). Redaktionssitz: Nepal. Oder die inszenierte Realität Nordkoreas vor Ort erkunden und affirmierend in einem Bildband porträtieren (Die totale Erinnerung. Kim­ Jong Ils Nordkorea, 2006). Solche Aktivitäten sind gleichzeitig ernst, spöttisch und ironisch, können in ihrer Exzentrik als absurde Gesten, eigentlich schon als post­postmoderne Aktionskunst verstanden werden.

Über "Berganalphabeten" und die Macht der Sprache

Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Roman
Von Nils Neusüß

Die Weltordnung wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Lenin ist in der Schweiz geblieben und hat dort die kommunistische Revolution angeführt. Das Ergebnis ist ein bereits fast hundert Jahre andauernder Erster Weltkrieg, in dem die Schweizer Sowjetrepublik gegen ein faschistisches deutsch-englisches Bündnis und "Hindustanien" kämpft. Russland ist atomar verseucht und Afrika zu zwei Dritteln kolonialisiert. Der Ich-Erzähler ist ein in Afrika geborener, aber in der Schweiz lebender Kommissär. Sein Aufgabenbereich umfasst vor allem, das Militär auf die politische Linie hin zu überprüfen. Als solcher bekommt er die Mission, den polnischen Juden Brazhinsky festzunehmen, der sich im Réduit, einem in die Alpen gegrabenem Bollwerk, verstecken soll.

Pfefferminz auf der Friedhofscouch

Hanne Kulessa: Der große schwarze Akt. Roman
Von Ina Kroker

"Der Grabstein war umgefallen. Über dem Sterbedatum klebte ein gelber Zettel, und auf dem gelben Zettel stand: ›Umfallgefahr!‹" Es ist eine absurde Begebenheit, mit der sich die kunstsinnige Paula konfrontiert sieht, als sie auf dem Friedhof an das Grab ihrer Mutter tritt. Es soll nicht die einzige Absurdität bleiben, aus der Hanne Kulessa ihren Debutroman Der Große Schwarze Akt zusammenwebt. Paula kann nur kurz über das umgekippte Grabmal sinnieren, denn plötzlich steht ein Fremder vor ihr und bietet ihr ein Pfefferminzbonbon an. Wie der Mann heißt, der tatsächlich ein Pfefferminzbonbonvertreter ist, und woher er kommt, danach fragt Paula nicht.

Die Überwindung des Menschen

Dietmar Dath: Die Abschaffung der Arten
Von Christoph Hümpfner

Die Fabel hat eine lange Tradition. Vom antiken Äsop angefangen über den mittelalterlichen Reinhart Fuchs bis zum Märchen des 19. Jahrhunderts sind Tiere beliebte Handlungsträger. In seinem Roman Die Abschaffung der Arten, der sich auf der Shortlist des deutschen Buchpreises 2008 befand, geht Dietmar Dath einen Schritt weiter: Seine Tiere stellen nicht einfach Tiere mit menschlichen Eigenschaften dar, die dem Menschen den Spiegel vorhalten sollen. Nein, diese Tiere, welche sich Gente nennen, haben die Herrschaft des Homo sapiens auf der Erde abgelöst. Losgelöst vom Diktat der Form, durch welche die Arten beschrieben sind, geht es um Identität, Humanität und deren Behauptung im Kampf ums Dasein.

Ein fast leeres Blatt voller Depressionen

Dea Loher: Das letzte Feuer
Von Nils Neusüß

Kathrin und Edna liegen bekifft in einer Wohnung und besprechen die Technik des Malers Qui Shihua. Sein Markenzeichen ist es, fast weiße Leinwände zu produzieren: "Auf den ersten Blick weiter nichts als ein bisschen angeschmutzte Leinwand. Unscheinbare Flecken. Aber ganz allmählich, wenn man lange genug davor steht, beginnt man zu ahnen, was man vor sich hat." Edna hat vor kurzer Zeit ein Kind überfahren, Karoline trägt eine übertrieben große Brustprothese und in dieser Szene, unscheinbar in die Mitte des Stücks verbannt, haben die beiden Dea Lohers Anspruch für ihr neuestes Werk offengelegt. Mit wenigen, fast schon spröden Dialogen und Monologen entwickelt sie eine Welt. Eine Welt voller Leid, Hass und Unmenschlichkeit.

"Ja, sie ist ewig und ganz kurz. Sie entzieht sich immer dann, wenn man denkt, man hat sie."

Albert Ostermaier: Wer sehen will. Gedichte zu Photographien von Pietro Donzelli
Von Julia Brinkmann

"Gedichte von der Liebe und vom Verlassenwerden" - das verspricht der Ankündigungstext des Verlages. Und gleich das erste Gedicht scheint diese Ankündigung unterstreichen zu wollen: spiegelverkehrt beschreibt die Verzweiflung eines Mannes, der aufwacht und feststellen muss, dass seine Geliebte gegangen ist: "er hätte sie fesseln wollen doch sie / ging der spiegel hätte zerspringen / sollen doch er empfing das erste / licht der sonne am morgen von / dem er erwachte getroffen alleine / den arm ausgestreckt ins leere". Einsamkeit ist es, die die ersten fünf Gedichte prägt. Das sechste Gedicht, stazione, beginnt mit einer Ankündigung: "doch kann ich nicht so rauhe / wege so ungebahnte finden / dass nicht die liebe dazu käme / mit worten, die noch nicht / fertig sind [...]".

Auferstehung in China

Tilman Rammstedt: Der Kaiser von China. Roman
Von Dominik Steinmann

Obwohl sich Tilman Rammstedt nach seinem 2005 erschienenen Roman Wir bleiben in der Nähe eigentlich schon von der Romanform losgesagt hatte, wagte er sich 2008 doch noch einmal an diese Gattung. Sein aktuelles Buch Der Kaiser von China überzeugte bereits im vergangenen Sommer in Gestalt der ersten zwei Kapitel des damals noch unvollendeten Werks sowohl Jury als auch Publikum des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs und gewann gleich zwei der begehrten Preise. Doch kann das mit vielen Vorschusslorbeeren versehene Buch auch halten, was seine ersten beiden Kapitel versprachen?

Der Tod und das Mädchen - "eine Grammatik des Abschieds"

Siegfried Lenz: Schweigeminute. Novelle
Von Lisa Huber

Eine Geschichte, so zeitlos und selbstverständlich wie das Meer: Ein Schüler verliebt sich in eine junge Frau, sie ist wenige Jahre älter als er, und sie verbringen einen Sommer zusammen. So schön hätte es sein können, so idyllisch, inmitten einer zeitentrückten Meeresszenerie, so tragisch endet die Liebe zwischen den beiden, und Siegfried Lenz beschreibt es mit schmerzvoller Poesie. Christian befindet sich auf einer Gedenkfeier zu Ehren seiner verstorbenen Lehrerin und Geliebten Stella. Während der titelgebenden Schweigeminute teilt er die Erinnerungen an die Beziehung zu Stella mit dem Leser, versetzt sich zurück in eine Zeit, die zu schön war, um nicht vergänglich zu sein. Lenz' Novelle spielt in einem Hafenort, zu einer Zeit, als man Ray Charles und Benny Goodman im Radio hörte. Mehr erfährt man nicht, und mehr ist zu wissen nicht nötig. Christian rekapituliert Szene für Szene dieser Liebesgeschichte, schmerzbeladen, verzweifelt und voller Trauer, aber nie selbstmitleidig. Wie sie zusammen spazierten, diskutierten, schliefen, bis es zu dem verhängnisvollen Unfall kam, der Stellas Leben so unerwartet beendete. Eine kurze Episode im Leben des jungen Christian wird hier geschildert, ausschnitthaft und einschneidend, so, wie sie in unser aller Leben hätte passieren können. Die Tragik ist unausweichlich.

Es war einmal in einem versunkenem Land ...

Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman
Von Mareike Voigt

"Elektrische Zitronen aus dem VEB 'Narva'" als Weihnachtsbaumlichter, ein aknegeplagter Teenager, Kohlenknappheit und ein "Tausendaugenhaus": Es ist Winter in der Deutschen Demokratischen Republik, sieben Jahre vor der Wende und Christian Hoffmann ist auf dem Weg zum Geburtstag seines Vaters Richard. Christian ist der älteste Spross einer bildungsbürgerlichen Familie, die ihre Nische im 'real-existierenden Sozialismus' im Dresdener Turmviertel gefunden hat. Mit der Ausleuchtung dieser Nische nebst ihrer Bewohner beschäftigt sich der im Herbst 2008 erschienene Roman Der Turm von Uwe Tellkamp, für den er im selben Jahr den Deutschen Buchpreis erhielt.

Terror und Identität

Raul Zelik: Der bewaffnete Freund. Roman
Von Peter Ullinger

Was soll man von einem Roman erwarten, der einen solchen Stil pflegt: "In »Zur Kritik der Gewalt« unterscheidet Walter Benjamin zwischen rechtssetzender und rechtserhaltender Gewalt. Die erste etabliert die Ordnung, die zweite erhält sie. Recht und Gewalt sind dadurch miteinander verschränkt: »Rechtsetzung«, schreibt Benjamin, »ist Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt«." Das klingt nach einer Seminararbeit - abstrakt, trocken, mit Literaturverweis. Raul Zelik ist 1968 geboren, wurde 1998 Gewinner des Walter-Serner-Preises des SFB und des Literaturhauses Berlin und ist durch Werke wie Friss und stirb trotzdem (1997), La Negra (2000), grenzgängerbeatz (2001) wie auch durch seine Sachbücher und Beiträge in Zeitungen, Zeitschriften und sozialwissenschaftlichen Organen als politisch engagierter, linker Autor bekannt. Weniger bekannt ist seine zeitweilige Lehrtätigkeit am Lateinamerika-Institut der FU Berlin. Zelik hat sich auch in seinem aktuellen Roman ein brisantes und ambiges Thema herausgesucht: den Baskenkonflikt.

Vom Leben ausgezählt

Clemens Meyer: Die Nacht, die Lichter. Stories
Von Christian Mohorko

Es ist Nacht, als der farbige Boxer durch die Straßen einer ostdeutschen Stadt hetzt. Er presst sich an die Fassaden verfallener Häuser, schleicht durch dunkle Gassen in heruntergekommenen Vierteln und schiebt sich am Schein der Laternen vorbei wie ein Verbrecher: Und alles nur, damit sie ihn nicht finden. Er ist auf der Flucht, auf der Flucht vor den Schlägern, die es auf ihn und sein Geld abgesehen haben. "Er hatte acht lange und harte Runden gekämpft, aber er hatte mindestens Luft für zwölf." Sie werden ihn nicht kriegen, da ist er sich sicher. Er ist nicht nach Deutschland gekommen, um auf der Straße zu kämpfen, sagt er sich. Die harte Zeit im Ghetto von Rotterdam liegt schon lange zurück, das ist vorbei. Jetzt muss er eine Familie ernähren.
 
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