»Schuld aus Unachtsamkeit«

Silke Scheuermann: Shanghai Performance
Von Jennifer Stockum

Es gibt in Hotelzimmern nie besonders viel zu tun. Ich betrachtete das Telefon. Lief ein paar Mal auf und ab. Im Bad drückte ich mir ein feuchtes Handtuch in den Nacken. Mein Gesicht im Spiegel hatte die Farbe von getrocknetem Thymian und lief nach unten spitz aus wie ein Ziegenkopf, und hier, in der ersten schlaflosen Shanghaier Hotelnacht und angesichts meines befremdlichen, um nicht zu sagen hässlichen Anblicks, musste ich plötzlich an das Bildnis des Dorian Gray denken und gleichzeitig daran, dass ich, womöglich, in den vergangenen Wochen die letzte Chance vertan hatte, je ein anständiger Mensch zu werden, dass es vielleicht kein Zurück mehr gab und die Fehler, die ich begangen hatte, längst Teil meines Charakters geworden waren, ja, dass man sie auch nicht mehr Fehler nennen musste, sie waren ureins mit meinem Wesen, bösartig und unausweichlich, eine der bösesten von Millionen von Seelen, verloren wie ein Haar im Abwasser. Hier, heute, jetzt spürte ich immerhin noch, dass ich an einem Tiefpunkt angekommen war, aber bald schon würde ich gar nicht mehr merken, zu was für einem üblen Charakter ich mich entwickelt hatte, und ich würde weiterhin Spaß haben und glauben, ich könnte andere Menschen beurteilen und über richtig und falsch befinden, während ich bei mir selbst völlig andere Regeln gelten ließ.

»Ein Aufriss der Schädeldecke«

Albert Ostermaier: Schwarze Sonne scheine
Von Nicolas Franke


Bereits der Buchtitel von Ostermaiers neuem Werk lässt Spannendes und Mysteriöses erhoffen: Wer oder was ist diese schwarze Sonne, deren finsteres Licht erstrahlen soll?
»Wie ein Torwart Tore schießen will, so wollte ich schon immer als Lyriker einen Roman schreiben. Im Ernst: es war schon immer eine meiner größten, unerfüllten Sehnsüchte«, antwortete der Torwart der deutschen Autorennationalmannschaft und bekannte Gegenwartslyriker und -dramatiker in einem früheren Interview mit Blattwerk. Nach seinem Romandebüt Zephyr 2008 erschien 2011 sein zweiter: Schwarze Sonne scheine.

Philosophie zum Nichtanfassen

Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg
Von Tanja Begon

Mit dem Titel ihres neuen Romans Blumenberg lässt Sibylle Lewitscharoff keinen Zweifel am Gegenstand ihres Romans: Er ist eine Hommage an den 1996 verstorbenen Philosophen, den sie in dieser Geschichte mit einem Löwen in sein Arbeitszimmer und damit gleichzeitig vor ein ernst zu nehmendes Rationalitätsproblem setzt:

Der ewige Ritt auf dem Bock

Peter Höner: Gynt
Von Nils Neusüß

Jakob Blatter ist Peer Gynt. Auch seine Tochter Anita war es einmal und ihr ehemaliger Liebhaber Felix ist es immer noch: Dies sind nur drei der zehn Figuren, von denen Peter Höner in Gynt erzählt, und die alle, miteinander verwoben, Henrik Ibsens Peer Gynt als Gemeinsamkeit haben. In zehn Kapiteln, jeweils mit Fokus auf einer Figur, entfaltet sich die Geschichte einer Theateraufführung: Die beiden Lehrer Severin und Anita möchten mit ihren Klassen, unter Anleitung der beiden Schauspieler Daniel und Felix, Peer Gynt auf die Bühne bringen. So wird nicht nur das Geschehen im Umfeld dieses Vorhabens berichtet, sondern auch die einzelnen Schicksale und ihre ganz persönliche Verbindung zu Peer und seinem Charakter beleuchtet.

Wir müssen innerlich sauber sein und äußerlich blitzblank und rein

Rabea Edel: Ein dunkler Moment
Von Jennifer Stockum

Ich hatte die Augen geschlossen, als sie sich neben mich auf das Bett setzte, sehr vorsichtig die Hand unter meinen Nacken schob, ihn festhielt und mit einer schnellen Bewegung das Messer von links nach rechts durch meinen Hals zog. Ein roter Sprühregen, der zu einem Fluss auf das Laken wurde, als sie zurückzuckte, das Messer aus der Wunde nahm, und ich die Augen öffnete. Mein Blick traf ihren Blick. Der Schnitt klaffte auf, Luft wurde ins Herz gepumpt, Blut geriet in Nase und Mund. Ich tastete nach meinem Hals, mein Körper krampfte, meine Hand schlug zur Seite und traf sie hart ins Gesicht. Ich sah sie an und mein Blick wurde starr.

»Der Gottfixierte« und das »realitätsunfähige Phantasma«

Christian Uetz: Nur Du, und nur Ich
Von Isabel Kreimes

»Kann der Leib traurig sein ohne unser Wissen?« – Das ist die erste Frage, die sich Uetzs namenloser Ich-Erzähler mittleren Alters in Nur Du, und nur Ich stellt. Er berührt damit sogleich ein umfassendes Thema, das in dem Roman immer wieder aufgegriffen wird: Das Leiden an der Liebe. Die Figuren aus Nur Du, und nur Ich kennzeichnet vor allem eins: Ein großes Verlangen nach Liebe, dessen Erfüllung aber an einer allgegenwärtigen Unfähigkeit, Nähe zuzulassen, scheitert.

Die Hölle der Dialektik

Peter Handke: Der große Fall. Erzählung
Von Nils Neusüß

In seiner neuen Erzählung Der große Fall nimmt Peter Handke den Leser mit in das Epizentrum der Hölle – den Stadtkern. Den namenlosen Protagonisten, einem modernen Orpheus gleich, schickt der Erzähler auf die Suche nach einer Frau, die er nicht liebt, sondern nur verehrt, ihr dankbar ist.
 
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