14 Fragen an Ingo Schulze

Am ersten Juli 2011 war Ingo Schulze auf Einladung der Universität des Saarlandes und des Saarländischen Rundfunks SR2 Kulturradio zu einer Lesung in Saarbrücken. Im Anschluss an seine Lesung unter anderem aus Adam und Evelyn stellte er sich in einem Gespräch den Fragen von Caroline Frank und einer Gruppe von Studierenden:
Zu Beginn eine sehr weit gefasste Frage, die Sie nach Belieben spezifizieren können: Wovon lassen Sie sich inspirieren, wenn Sie nach einer neuen Idee suchen?
IS: Mir ist es nicht möglich zu sagen, wie eine Idee entsteht. Man kann sich ja leider nicht hinsetzen und sagen: Jetzt will ich aber mal eine Idee haben! Eine Idee ist da oder nicht. Ob es eine gute Idee ist, muss sich erst herausstellen. Diese Idee kann mal ein Satz sein, den man dann weiterdenkt, mal eine Figuren-Konstellation, aus der heraus sich etwas entwickelt, mal ein Phänomen, von dem ich glaube, dass es etwas über unser Hier und Jetzt erzählen könnte. Bei einem Satz oder einer Konstellation kann man relativ schnell anfangen und ausprobieren, wohin es einen beim Schreiben führt. Entweder stellen sich dann Tonfall und Perspektive ein oder man lässt es erst mal liegen. Bei dem, was ich Phänomen nenne, muss man sich mit dem Stoff vertraut machen und sehen, was für eine Geschichte sich daraus spinnen lässt und wie diese erzählt werden kann.
Ihre Prosa zeichnet sich durch eine große Bandbreite unterschiedlicher Erzählformen, Stile und Genres aus. Mit jedem neuen Werk überraschen Sie den Leser auch mit einer anderen Art zu erzählen. Uns interessiert deshalb, ob Sie bei der Konzeption eines neuen Werkes manchmal zuerst die Form und danach die Geschichte erfinden?
IS: Das lässt sich nicht voneinander trennen. Was Sie in Form und Geschichte aufteilen, sind für mich unterschiedliche Aspekte oder zwei Pole ein und derselben Sache. Das Was und das Wie lassen sich nur begrifflich trennen, beim Schreiben und Lesen gibt es sie nur zusammen. Für mich geht es darum, den Stil aus dem Stoff kommen zu lassen, wie es Döblin formuliert hat, und dabei den angemessenen Stil zu finden. Ich empfinde das immer wie den Versuch, zwischen Stoff und Stil eine Art Resonanz zu erzeugen.
Sie schrieben einmal, dass Ihr Briefroman Neue Leben ohne die Lebensansichten des Katers Murr von E.T.A. Hoffmann in dieser speziellen Form nicht existieren würde – denn wie in den Lebensansichten zwei scheinbar unverbundene Geschichten aufeinandertreffen, erzählt auch Enrico Türmer in seinen Briefen von verschiedenen ›Leben‹: dem Leben vor und nach ’89. Wie wichtig sind literarische Vorbilder und damit Ihr eigenes Lesen eigentlich für Ihr Schreiben?
IS: Ganz wichtig. Die meisten Ideen kommen mir beim Lesen. Oft ist es ein Tonfall, der mich anregt, in dieser Tonlage selbst etwas zu versuchen. Die Literatur ist so reich, sie hält so viele Muster, so viel Stoffe bereit, dass ich glaube, dass wir letztlich – ob wir das wollen oder nicht – immer wieder die alten Geschichten erzählen, aber dies in der Hoffnung, ihnen etwas von unseren eigenen Erfahrungen, etwas von unserer eigenen Zeit hinzufügen zu können.
Sind Sie ein Viel-Leser, und was lesen Sie zurzeit?
IS: Ich bin leider kein Viel-Leser, wäre es aber gern. Ich möchte viel mehr lesen, als ich es tue. Zurzeit lese ich das Manuskript der großen Döblin-Biografie von Wilfried F. Schoeller, die Ende September erscheinen wird, von Wilhelm Raabe Stopfkuchen und von dem großen brasilianischen Autor Joaquim Maria Machado de Assis [1839-1908] Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas.
Wie bereits in der Geschichtensammlung 33 Augenblicke des Glücks greifen Sie auch in Neue Leben auf eine Herausgeberfiktion zurück: Welche Funktion(en) hat Ingo Schulze, der fiktive Herausgeber von Türmers Briefen, für den Roman?
IS: Eine Briefedition braucht natürlich einen Herausgeber. Um den kam ich also nicht herum. Die Frage war, wie ich mit ihm umgehe. Mein Wunsch war, dass die Leser gegenüber diesem Herausgeber, der meinen Namen trägt, schnell Distanz entwickeln, dass sie skeptisch werden, den Herausgeber in seiner Fragwürdigkeit erkennen und ihn damit zu einer Figur unter anderen machen. Von diesem Schulze ist ja auch in den Briefen kurz die Rede. Als Leser vertraut man natürlich erstmal einem Herausgeber. Aber hier wird man schnell erkennen, dass dieser Herausgeber seine eigenen Interessen und Absichten verfolgt, dass er Partei ist. In Neue Leben gibt es keinen Fixpunkt, man kann nicht sagen, dieser Blickwinkel ist richtig und dieser ist falsch. Das war mir wichtig. Die Fußnoten rufen unentwegt: So ist es nicht gewesen! Aber auch ich kann nicht entscheiden, ob Türmer oder Schulze recht hat oder keiner von ihnen.
Mit Enrico Türmer haben Sie eine Figur geschaffen, die sich einer eindimensionalen Charakterisierung entzieht. Wie würden Sie selbst die Hauptfigur beschreiben und warum war es Ihnen wichtig, eine widersprüchliche Figur erzählen zu lassen?
IS: Ich hätte es gar nicht anders erzählen können, obwohl mir viele sagten: Warum hast Du nicht mit seiner Jugend angefangen und dann schön der Reihe nach erzählt. Mir war es nicht möglich, einfach noch mal über die DDR zu schreiben. Das wurde so pseudodissidentisch. Ich konnte aber erzählen, wie jemand in der DDR versucht über die DDR zu schreiben, kritisch zu schreiben, und wie er dabei auf die zweigeteilte Welt angewiesen ist, auf den Westen als den eigentlichen Empfänger seiner Werke. Türmer wird ja durch die Hilfe eines nach Schwefel riechenden Unternehmensberaters ein erfolgreicher Geschäftsmann. Und aus dieser Perspektive rechnet er mit sich, mit seinem Wunsch, berühmt zu werden, aber auch mit der DDR ab. Es ist aber der Blick eines Geschäftsmannes, der selbst mehr und mehr Skrupellosigkeit entwickelt, also selbst auch immer fragwürdiger wird. Offensichtlich ist auch jemand, der so viele Briefe schreibt, nicht von dem Drang geheilt zu schreiben. Das ist ja ein Widerspruch in sich. Ich wollte die Voraussetzungen des Schreibens mitliefern. Meine Hoffnung als Autor war, dadurch die Verschiedenartigkeit der Systeme, von Ost und West, klar zu machen, welch unterschiedliche Verführungen und Abhängigkeiten existieren. Es ging mir darum zu zeigen, wie die Abhängigkeiten wechseln. Und das sollte Türmer durch sein eigenes Erzählen offenbaren, durch die Veränderungen, die unmerklich mit ihm geschehen.
Zwischen Ihrer eigenen Biographie und der fiktiven Lebensgeschichte Türmers bestehen Parallelen. Vielleicht erlauben Sie uns die neugierige Frage, wie viel Ingo Schulze mal ganz abgesehen von den offensichtlichen lebensgeschichtlichen Überschneidungspunkten tatsächlich in der Figur Enrico Türmer steckt?
IS: Die Lebensstationen von Türmer sind mit meinen identisch. Ich dachte, wenn man so genau über Ort und Zeit schreibt, dann muss man wissen, wie es da gerade war. Und das konnte ich am besten, in dem ich meiner eigenen Biografie folgte. Diese hatte für mich insofern etwas Exemplarisches, weil es auch in ihr den Wechsel gibt vom Theatermann zum Geschäftsmann – und das ohne Trauer und in kürzester Zeit. Ich wusste, wovon ich erzähle. Der Blick von Türmer auf die Welt und das, was vor diesem Hintergrund geschieht, hat wohl kaum etwas mit mir zu tun. Aber darüber zu reden ist schwierig. Das würde wohl auch jeder, der mich kennt, wieder anders beantworten. Es zählt, was da steht. Und ob es tatsächlich so gewesen ist oder anders – und es war, so viel mir bewusst ist, anders – spielt ja für den Text keine Rolle.
War ein gewisser produktiver Abstand nötig, um über die Zeit vor und nach der deutschen Wiedervereinigung zu schreiben?
IS: Wäre ja schön gewesen, wenn es eine Vereinigung gewesen wäre, es war aber leider nur ein Beitritt. Der Westen hatte nie die Chance, sich selbst zu befragen und zu korrigieren. Und der Osten hat einfach den Westen übernommen. Leider hat sich der Westen nach 1989 nicht zu seinem Vorteil verändert. Aber zu ihrer Frage: Ja, ich brauchte etwas Distanz. Mit jeder neuen Erfahrung ändert sich auch das Bild, das man sich von der Vergangenheit macht. Man zieht mehr und andere Kriterien heran, man hat andere Vergleichsmöglichkeiten. Beim Schreiben gab es die tagtägliche Erfahrung und es gab die Distanz zu dem, was 89/90 geschehen ist. Und in diesem Wechsel von Nähe und Distanz konnte ich dann über diese ferne nahe Zeit schreiben.
Viele Ihrer Texte werden vom Feuilleton häufig mit dem Label Wendeliteratur versehen. Wie treffend finden Sie diese Zuordnung und mit welchen Genretermini würden Sie selbst zum Beispiel Ihren Roman Neue Leben beschreiben?
IS: Ich finde den Begriff Wendeliteratur einfach fürchterlich, weil ich auch das Wort Wende nie benutze. Egon Krenz sagte damals: »Das Politbüro hat die Wende eingeleitet«. Das war falsch, erinnert fatal an die Bonner Wende und lässt für mich am ehesten an einen Segelturn denken.
Zudem habe ich Vorbehalte gegen solche thematischen Einordnungen. Jede Vereinfachung hat sicherlich in bestimmten Zusammenhängen auch einen bestimmten Wert. Aber Literatur nur inhaltlich zu definieren, beraubt sie ihrer Eigenheit, eben gerade dem, was sie ausmacht. Man kann natürlich Texte unter diesem Begriff rubrizieren, aber eine literarische Kategorie ist das keinesfalls.
In der Leipziger Poetikvorlesung Tausend Geschichten sind nicht genug schreiben Sie, dass der Westen verschwunden sei. Was meinen Sie eigentlich damit?
IS: Vermutlich können Menschen aus dem Westen diese Frage viel besser beantworten. Selbstverständlich verändert sich ein Land in zwanzig Jahren. Aber wie schon gesagt, der Westen hat sich seit ’89 nicht zu seinem Vorteil verändert. Mein Wunsch wäre ein ›Westen mit menschlichem Antlitz‹. Heute gibt es ganz andere Selbstverständlichkeiten, andere soziale Standards in der Medizin, der Altenversorgung, der gewerkschaftlichen Organisation; die Vereinzelung ist größer und der Leistungsdruck, der Konkurrenzkampf auf allen Ebenen wird immer härter und absurder. Eine der falschen Selbstverständlichkeiten, die sich mit 89/90 eingeschlichen haben, ist die Überzeugung, dass Privatisierung gut überall und immer gut ist. Das ist fatal und ruiniert das Gemeinwesen, denken Sie an das Verhalten der Banken, der Stromkonzerne, der Pharmaindustrie etc. Eine Folge der Veränderungen von 1989 ist auch das, was wir Globalisierung nennen. Die begann schon lange vor 1989, aber durch die Implosion des Ostblocks und dem Ende des Kalten Krieges begann sie erst nach 1989 so richtig. Der wirtschaftlichen Vernetzung hinkt die politische um Jahrzehnte hinterher. Das rächt sich täglich. Dass sich nach ’89 im Osten alles verändert hat, das ist klar und lässt sich nachweisen, interessant ist aber eigentlich, was im Westen anders geworden ist: und das ergäbe dann das, was ich inkorrekt einen »Wenderoman« nennen würde.
Wie beurteilen Sie die immer noch virulente Unterscheidung in Osten und Westen bzw. in Ost- und Westdeutsche?
IS: Osten und Westen sind nicht mein Problem. Andererseits sind die meisten meiner Figuren Ostler. Für mich war es lange Zeit eine große Schwierigkeit, über Westler zu schreiben, das hat sich langsam geändert. Denken Sie zum Beispiel an Uwe Johnson, wann hat er eigentlich das erste Mal plausibel über Westler geschrieben? Er wich gleich nach Amerika aus. Die Unterscheidung spielt in bestimmten Kontexten eine Rolle. Sie unterstellt aber eine Homogenität, die es nicht gibt. Die größten Auseinandersetzungen habe ich mit Menschen, die das Gleiche oder doch sehr Ähnliches erlebt haben, es jedoch ganz anders beurteilen. Mich beschäftigt aber vielmehr die Unterscheidung von Oben und Unten. Für bestimmte Erfahrungen spielt es eine Rolle, ob man aus dem Osten oder Westen kommt, welcher Jahrgang man ist. Das Kriterium ist einfach da wie andere Kriterien auch, aber es ist für mich nicht bestimmend und beschäftigt mich nicht großartig. Schon gar nicht im Alltag.
Was sagen Sie dazu, dass ihre Texte inzwischen auch Teil des Schulkanons sind?
IS: Darüber freue ich mich erst mal. Wie immer kommt es jedoch darauf an, was im Unterricht daraus gemacht wird. Es ist keine Frage von Autoreneitelkeit, dass ich möchte, dass eine Geschichte oder ein Kapitel vollständig abgedruckt wird. Andernfalls sollte man es lieber lassen. Eine Geschichte kann man interpretieren, ohne den ganzen Band gelesen zu haben – obwohl es auch bei einer Geschichte darauf ankommt, in welchem Kontext, in welchem Buch sie steht. In einem Buch wie Simple Stories zum Beispiel, das aus mehreren Geschichten besteht, ist gerade das Interessante, welche Stationen die Figuren durchlaufen und wie sie sich verändern. In Nordrhein-Westfalen war Handy, die Titelerzählung eines Buches von mir, Prüfungsstoff für zehnte Klassen. Da wurde aber weniger als eine Seite aus dem Kontext gerissen und dann auch noch eine völlig falsche Frage gestellt. In der Geschichte erhält der Erzähler einen Anruf von einem Mann, den er in seinem Urlaub kennengelernt hat. Der berichtet, dass wieder wie im Sommer nachts Randalierer ihr Unwesen treiben. Es bleibt aber offen, ob dies wirklich stimmt oder der Bekannte nur anruft, weil er seine Einsamkeit nicht mehr aushält. Und in der Prüfungsfrage wurde diese Uneindeutigkeit einfach aufgelöst und behauptet, der Anrufer melde sich nur, weil er einsam sei. Und sowas finde ich abartig.
Uns als Literaturwissenschaftler interessiert außerdem, wie viel Notiz Sie von der Forschung zu Ihren Texten nehmen?
IS: Schreiben und Lesen gehören ja zusammen, und was Sie Forschung nennen, ließe sich ja auch als eine Art professionelles Lesen bezeichnen, und die Lesermeinung interessiert mich immer. Ich muss aber als Leser dieser Texte das Gefühl haben: Hier geht es um etwas und das betrifft mich. Ein Text über einen Roman muss mindestens so interessant sein wie der Roman selbst. Und Fragen der Poetik sind zugleich auch immer grundsätzliche Fragen nach unserem Alltagserleben.
Abschließend möchten wir Sie fragen, ob Sie uns einen Einblick in Ihre Werkstatt gewähren möchten: Worauf darf sich der gespannte Leser vorab schon einmal freuen?
IS: Ich würde ihnen gern viel davon erzählen – wenn ich es nur selbst wüsste. Ich habe einen Roman begonnen, aber ich bin noch ganz am Anfang. Er soll Neue Leben auf eine andere Art fortführen.

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