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Die Anatomie der Melancholie

Kai Weyand: Schiefer eröffnet spanisch
Von Boris Seewald

Kai Weyands Romandebut wirft einen alkoholgeschärften Blick auf die Bildungsmisere - aus der Perspektive eines gescheiterten Lehrers. Der titelgebende Schiefer ist ein solcher: Verzweifelt aus dem Schuldienst ausgeschieden, von Frau und Sohn verlassen, widmet sich der ehemalige Pädagoge nun anderen, mehr ins Private zielenden Tätigkeiten: Gitarre spielen in einer Hochzeitsband, Schachpartien gewinnen und Unmengen geistiger Getränke konsumieren. Die allgemeine Daseinsmelancholie teilt er mit dem namenlosen Ich-Erzähler, seinem Schachpartner. Der ist von Profession Privatdetektiv und mit seinem Leben ebenfalls alles andere als zufrieden. Das zeigt sich nicht nur an der Bouteillenzahl, die sich im Laufe der Romanhandlung anhäuft. Seit drei Jahren treffen sich die beiden fast täglich zu Schach und Rotwein, begleitet von wenig Konversation, aber umso mehr desillusionierter Schwermut.

Von der Selbstfindung, von sprechenden Igeln und von Eichendorffs Taugenichts

Alexander Rösler: Ich bin nur mal kurz mein Glück suchen ... Neues vom Taugenichts
Von Michaela Kuntz

Ich bin nur mal kurz mein Glück suchen: Der Titel trifft den Nagel auf den Kopf: Das 'Ich' heißt Robert - und macht sich mit siebzehn Jahren und großer Gelassenheit einfach von seinem Elternhaus davon. Es sind keine tragischen Familienstreitigkeiten, die ihn mit gut gepacktem Rucksack und Haushaltskasse, aber ohne Plan und Ziel in die Ungewissheit der weiten Welt treiben. Nein, zuhause in der thüringischen Kleinstadt ist alles wie immer: Vater mäht allsamstäglich den Rasen, einmal längs und einmal quer, Mutter geht mit feuchtem Lappen und in Gesundheitssandalen auf Staubkornsuche. Dann fordert sein Vater Robert auf: "Mach endlich was, tu was Sinnvolles, lauf wenigstens irgendwohin und mach irgendwas von Nutzen!" Und genau das macht Robert. Er steht auf und sucht sein Glück woanders.

"Seither hieß Leben Zeit, geteilt durch Schnelligkeit"

Durs Grünbein: Strophen für übermorgen
Von Anna Rung

Als begebe man sich auf eine Reise durch die Zeit und zu den vielfältigen Schauplätzen des menschlichen Lebens - so wirkt es, wenn man Durs Grünbeins neuesten Gedichtband liest. Von der Antike, über die DDR-Vergangenheit Deutschlands, bis hin zu gegenwärtigen Gefühls- und imaginären Erfahrungswelten setzt sich der Autor mit grundlegenden Fragen des menschlichen Lebens auseinander. Im Zentrum stehen die Vergänglichkeit des Einzelnen, individuelle Erinnerung und kollektives Geschichtsbewusstsein. Die Gedichte sprechen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und vereinen für einen Moment die Zeit, vergleichbar mit der Atmosphäre beim Besuch eines Museums.

Über "Berganalphabeten" und die Macht der Sprache

Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Roman
Von Nils Neusüß

Die Weltordnung wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Lenin ist in der Schweiz geblieben und hat dort die kommunistische Revolution angeführt. Das Ergebnis ist ein bereits fast hundert Jahre andauernder Erster Weltkrieg, in dem die Schweizer Sowjetrepublik gegen ein faschistisches deutsch-englisches Bündnis und "Hindustanien" kämpft. Russland ist atomar verseucht und Afrika zu zwei Dritteln kolonialisiert. Der Ich-Erzähler ist ein in Afrika geborener, aber in der Schweiz lebender Kommissär. Sein Aufgabenbereich umfasst vor allem, das Militär auf die politische Linie hin zu überprüfen. Als solcher bekommt er die Mission, den polnischen Juden Brazhinsky festzunehmen, der sich im Réduit, einem in die Alpen gegrabenem Bollwerk, verstecken soll.

Pfefferminz auf der Friedhofscouch

Hanne Kulessa: Der große schwarze Akt. Roman
Von Ina Kroker

"Der Grabstein war umgefallen. Über dem Sterbedatum klebte ein gelber Zettel, und auf dem gelben Zettel stand: ›Umfallgefahr!‹" Es ist eine absurde Begebenheit, mit der sich die kunstsinnige Paula konfrontiert sieht, als sie auf dem Friedhof an das Grab ihrer Mutter tritt. Es soll nicht die einzige Absurdität bleiben, aus der Hanne Kulessa ihren Debutroman Der Große Schwarze Akt zusammenwebt. Paula kann nur kurz über das umgekippte Grabmal sinnieren, denn plötzlich steht ein Fremder vor ihr und bietet ihr ein Pfefferminzbonbon an. Wie der Mann heißt, der tatsächlich ein Pfefferminzbonbonvertreter ist, und woher er kommt, danach fragt Paula nicht.

Die Überwindung des Menschen

Dietmar Dath: Die Abschaffung der Arten
Von Christoph Hümpfner

Die Fabel hat eine lange Tradition. Vom antiken Äsop angefangen über den mittelalterlichen Reinhart Fuchs bis zum Märchen des 19. Jahrhunderts sind Tiere beliebte Handlungsträger. In seinem Roman Die Abschaffung der Arten, der sich auf der Shortlist des deutschen Buchpreises 2008 befand, geht Dietmar Dath einen Schritt weiter: Seine Tiere stellen nicht einfach Tiere mit menschlichen Eigenschaften dar, die dem Menschen den Spiegel vorhalten sollen. Nein, diese Tiere, welche sich Gente nennen, haben die Herrschaft des Homo sapiens auf der Erde abgelöst. Losgelöst vom Diktat der Form, durch welche die Arten beschrieben sind, geht es um Identität, Humanität und deren Behauptung im Kampf ums Dasein.

Ein fast leeres Blatt voller Depressionen

Dea Loher: Das letzte Feuer
Von Nils Neusüß

Kathrin und Edna liegen bekifft in einer Wohnung und besprechen die Technik des Malers Qui Shihua. Sein Markenzeichen ist es, fast weiße Leinwände zu produzieren: "Auf den ersten Blick weiter nichts als ein bisschen angeschmutzte Leinwand. Unscheinbare Flecken. Aber ganz allmählich, wenn man lange genug davor steht, beginnt man zu ahnen, was man vor sich hat." Edna hat vor kurzer Zeit ein Kind überfahren, Karoline trägt eine übertrieben große Brustprothese und in dieser Szene, unscheinbar in die Mitte des Stücks verbannt, haben die beiden Dea Lohers Anspruch für ihr neuestes Werk offengelegt. Mit wenigen, fast schon spröden Dialogen und Monologen entwickelt sie eine Welt. Eine Welt voller Leid, Hass und Unmenschlichkeit.

"Ja, sie ist ewig und ganz kurz. Sie entzieht sich immer dann, wenn man denkt, man hat sie."

Albert Ostermaier: Wer sehen will. Gedichte zu Photographien von Pietro Donzelli
Von Julia Brinkmann

"Gedichte von der Liebe und vom Verlassenwerden" - das verspricht der Ankündigungstext des Verlages. Und gleich das erste Gedicht scheint diese Ankündigung unterstreichen zu wollen: spiegelverkehrt beschreibt die Verzweiflung eines Mannes, der aufwacht und feststellen muss, dass seine Geliebte gegangen ist: "er hätte sie fesseln wollen doch sie / ging der spiegel hätte zerspringen / sollen doch er empfing das erste / licht der sonne am morgen von / dem er erwachte getroffen alleine / den arm ausgestreckt ins leere". Einsamkeit ist es, die die ersten fünf Gedichte prägt. Das sechste Gedicht, stazione, beginnt mit einer Ankündigung: "doch kann ich nicht so rauhe / wege so ungebahnte finden / dass nicht die liebe dazu käme / mit worten, die noch nicht / fertig sind [...]".

Auferstehung in China

Tilman Rammstedt: Der Kaiser von China. Roman
Von Dominik Steinmann

Obwohl sich Tilman Rammstedt nach seinem 2005 erschienenen Roman Wir bleiben in der Nähe eigentlich schon von der Romanform losgesagt hatte, wagte er sich 2008 doch noch einmal an diese Gattung. Sein aktuelles Buch Der Kaiser von China überzeugte bereits im vergangenen Sommer in Gestalt der ersten zwei Kapitel des damals noch unvollendeten Werks sowohl Jury als auch Publikum des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs und gewann gleich zwei der begehrten Preise. Doch kann das mit vielen Vorschusslorbeeren versehene Buch auch halten, was seine ersten beiden Kapitel versprachen?

Der Tod und das Mädchen - "eine Grammatik des Abschieds"

Siegfried Lenz: Schweigeminute. Novelle
Von Lisa Huber

Eine Geschichte, so zeitlos und selbstverständlich wie das Meer: Ein Schüler verliebt sich in eine junge Frau, sie ist wenige Jahre älter als er, und sie verbringen einen Sommer zusammen. So schön hätte es sein können, so idyllisch, inmitten einer zeitentrückten Meeresszenerie, so tragisch endet die Liebe zwischen den beiden, und Siegfried Lenz beschreibt es mit schmerzvoller Poesie. Christian befindet sich auf einer Gedenkfeier zu Ehren seiner verstorbenen Lehrerin und Geliebten Stella. Während der titelgebenden Schweigeminute teilt er die Erinnerungen an die Beziehung zu Stella mit dem Leser, versetzt sich zurück in eine Zeit, die zu schön war, um nicht vergänglich zu sein. Lenz' Novelle spielt in einem Hafenort, zu einer Zeit, als man Ray Charles und Benny Goodman im Radio hörte. Mehr erfährt man nicht, und mehr ist zu wissen nicht nötig. Christian rekapituliert Szene für Szene dieser Liebesgeschichte, schmerzbeladen, verzweifelt und voller Trauer, aber nie selbstmitleidig. Wie sie zusammen spazierten, diskutierten, schliefen, bis es zu dem verhängnisvollen Unfall kam, der Stellas Leben so unerwartet beendete. Eine kurze Episode im Leben des jungen Christian wird hier geschildert, ausschnitthaft und einschneidend, so, wie sie in unser aller Leben hätte passieren können. Die Tragik ist unausweichlich.

Es war einmal in einem versunkenem Land ...

Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman
Von Mareike Voigt

"Elektrische Zitronen aus dem VEB 'Narva'" als Weihnachtsbaumlichter, ein aknegeplagter Teenager, Kohlenknappheit und ein "Tausendaugenhaus": Es ist Winter in der Deutschen Demokratischen Republik, sieben Jahre vor der Wende und Christian Hoffmann ist auf dem Weg zum Geburtstag seines Vaters Richard. Christian ist der älteste Spross einer bildungsbürgerlichen Familie, die ihre Nische im 'real-existierenden Sozialismus' im Dresdener Turmviertel gefunden hat. Mit der Ausleuchtung dieser Nische nebst ihrer Bewohner beschäftigt sich der im Herbst 2008 erschienene Roman Der Turm von Uwe Tellkamp, für den er im selben Jahr den Deutschen Buchpreis erhielt.

Terror und Identität

Raul Zelik: Der bewaffnete Freund. Roman
Von Peter Ullinger

Was soll man von einem Roman erwarten, der einen solchen Stil pflegt: "In »Zur Kritik der Gewalt« unterscheidet Walter Benjamin zwischen rechtssetzender und rechtserhaltender Gewalt. Die erste etabliert die Ordnung, die zweite erhält sie. Recht und Gewalt sind dadurch miteinander verschränkt: »Rechtsetzung«, schreibt Benjamin, »ist Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt«." Das klingt nach einer Seminararbeit - abstrakt, trocken, mit Literaturverweis. Raul Zelik ist 1968 geboren, wurde 1998 Gewinner des Walter-Serner-Preises des SFB und des Literaturhauses Berlin und ist durch Werke wie Friss und stirb trotzdem (1997), La Negra (2000), grenzgängerbeatz (2001) wie auch durch seine Sachbücher und Beiträge in Zeitungen, Zeitschriften und sozialwissenschaftlichen Organen als politisch engagierter, linker Autor bekannt. Weniger bekannt ist seine zeitweilige Lehrtätigkeit am Lateinamerika-Institut der FU Berlin. Zelik hat sich auch in seinem aktuellen Roman ein brisantes und ambiges Thema herausgesucht: den Baskenkonflikt.

Vom Leben ausgezählt

Clemens Meyer: Die Nacht, die Lichter. Stories
Von Christian Mohorko

Es ist Nacht, als der farbige Boxer durch die Straßen einer ostdeutschen Stadt hetzt. Er presst sich an die Fassaden verfallener Häuser, schleicht durch dunkle Gassen in heruntergekommenen Vierteln und schiebt sich am Schein der Laternen vorbei wie ein Verbrecher: Und alles nur, damit sie ihn nicht finden. Er ist auf der Flucht, auf der Flucht vor den Schlägern, die es auf ihn und sein Geld abgesehen haben. "Er hatte acht lange und harte Runden gekämpft, aber er hatte mindestens Luft für zwölf." Sie werden ihn nicht kriegen, da ist er sich sicher. Er ist nicht nach Deutschland gekommen, um auf der Straße zu kämpfen, sagt er sich. Die harte Zeit im Ghetto von Rotterdam liegt schon lange zurück, das ist vorbei. Jetzt muss er eine Familie ernähren.
 
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