Ein fast leeres Blatt voller Depressionen

Dea Loher: Das letzte Feuer
Von Nils Neusüß

Kathrin und Edna liegen bekifft in einer Wohnung und besprechen die Technik des Malers Qui Shihua. Sein Markenzeichen ist es, fast weiße Leinwände zu produzieren: "Auf den ersten Blick weiter nichts als ein bisschen angeschmutzte Leinwand. Unscheinbare Flecken. Aber ganz allmählich, wenn man lange genug davor steht, beginnt man zu ahnen, was man vor sich hat." Edna hat vor kurzer Zeit ein Kind überfahren, Karoline trägt eine übertrieben große Brustprothese und in dieser Szene, unscheinbar in die Mitte des Stücks verbannt, haben die beiden Dea Lohers Anspruch für ihr neuestes Werk offengelegt. Mit wenigen, fast schon spröden Dialogen und Monologen entwickelt sie eine Welt. Eine Welt voller Leid, Hass und Unmenschlichkeit.


Mit dem Tod des Kindes beginnt das Drama: Edna, Polizistin, jagt einen vermeintlichen Bombenleger in seinem Auto durch die Vorstadt und überfährt dabei den spielenden Edgar. Der 'Attentäter' aber ist nur Olaf, der unter Einfluss von Koks zu schnell mit einem gestohlenen Wagen fährt. Der einzige, der den Unfall sieht, ist Rabe, der Fremde. Susanne, Edgars Mutter, versucht mit allen Mitteln zu vergessen, am liebsten alles. Damit hat wiederum die von ihr gepflegte Schwiegermutter kein Problem - sie leidet an Alzheimer. Ihren Mann Ludwig scheint beides nicht zu tangieren, er sieht sein Leben schon lange als verloren an.

Dies ist die Ausgangskonstellation von Das letzte Feuer. Von hier aus verfolgt die Autorin die Schicksale ihrer Protagonisten. Allesamt stehen sie nicht auf der Sonnenseite des Lebens, wünschen sich ein anderes, eine andere Identität. Jeder von ihnen schleppt, mit viel Anstrengung, seine ganz eigenen Probleme durch das Leben. Doch Loher bindet sie aneinander, verwebt ihre Handlungsstränge und lässt sie immer wieder zusammen auftreten, als WIR, eine Art Chor. Aber dieser Chor ist in sich uneins, spricht nie synchron und erfüllt seine eigentliche narrative Funktion nur ungenügend - ein unzuverlässiger Erzähler. Selbstverständlich verlaufen viele der kühlen Dialoge, zahlreichen Monologe und ungenauen Chorgesänge allzu oft ins Nichts. Die Unfähigkeit der Kommunikation ist ein allgegenwärtiges Thema des modernen Theaters, das auch von anderen gefeierten Kollegen wie René Pollesch und Rimini Protokoll immer wieder aufgegriffen wird.

Dea Loher, ein Kind der 60er Jahre, hat einen Magister in Germanistik und Philosophie. Schon für ihr erstes Stück Tätowierung erhielt sie den Förderpreis des Goethe-Instituts. Neben vielen anderen Auszeichnungen folgten der Mühlheimer Dramatikerpreis und der Bertolt-Brecht-Literaturpreis. Auch für Das letzte Feuer wurde sie 2008 erneut mit dem Mühlheimer Dramatikerpreis geehrt. Seit Jahren werden ihre Stücke unter der Regie von Andreas Kriegenburg im Thalia Theater Hamburg uraufgeführt. Zwischen den beiden hat sich eine kreative Symbiose entwickelt. Für Das letzte Feuer hat Kriegenburg zum Beispiel eine permanent rotierende Drehbühne bauen lassen, auf der die Schauspieler, bis auf wenige Augenblicke, nie zum Stillstand kommen. Ihre wissenschaftliche Ausbildung zeigt sich in ihren Stücken. Besonders auffällig ist ihre literarische Nähe zu Brecht: Neben dem Chor nutzt sie auch typische V-Effekte, jene Stilmittel, die helfen zu begreifen, dass es sich um ein Theaterstück handelt, dass dies nur eine Vorführung - im Wortsinn - ist. Damit reißt sie die Zuschauer aus der Handlung und mahnt, bloß nicht mitzufiebern. Loher möchte die Rezipienten zum Denken bringen und auf keinen Fall den bloßen Konsum des Theaters unterstützen.

Im weiteren Verlauf des Stückes drängt alles auf die bereits hinter allem lauernde Katastrophe hin. Besonders der Liebesaffäre zwischen Susanne und Rabe widmet Loher viel Aufmerksamkeit. Kurz nach dem ihr Ehemann Ludwig seine Mutter ertränkt hat und dann ohne Abschied im Wald verschwunden ist, zieht Susanne in Rabes Hotelzimmer ein. Dort in der Enge reiben aber ihre Probleme, die sie für sich und miteinander haben und die sie eigentlich durch ihre Liebelei vergessen wollten, zu stark aneinander und enden im gewalttätigen Fiasko. Rabe, der seine Wut nicht mehr kontrollieren kann, schlägt Susanne erst bewusstlos, um sich dann anzuzünden. Als Leuchtfeuer lässt Dea Loher ihn auf all die Depressionen, hervorgerufen durch die moderne, kalte Welt, aufmerksam machen und dabei verenden. Doch Das letzte Feuer lebt nicht allein von Sozialkritik und dem mahnendem, erhobenem Zeigefinger. Lohers sorgfältig gewählte Sprache besitzt eine zerbrechliche Sensibilität. Sie verzichtet auf die großen Gefühle, die durch den Tod eines Kindes so leicht zu erzeugen wären. WIR machen diese Einstellung deutlich, wenn sie schon in der dritten Szene erklären: "Wir zeigen Ihnen nicht, wie die Nachricht vom Tod ihres Kindes die Eltern erreicht. Kein Schrei. Kein Schock. Nix Hysterie."

Loher lässt sich nicht dazu verführen, im Zuschauer Mitleid zu erwecken, oder dieses gar mit aller Gewalt erzwingen zu wollen, obwohl es so viele Momente gibt, die dazu wie geschaffen wären. Sie verweigert sich dem Mitleid, und die rückblickende Erzählweise gibt ihr die Möglichkeit dazu. Loher berichtet nur, dass der kleine Junge stirbt, dass Rabe sich, um seinen inneren Schmerz nicht mehr zu fühlen, die Fingerkuppen abfeilt, oder dass Ludwig seine Mutter ertränkt. Der Zuschauer oder Leser des Stücks soll es nicht miterleben, es reicht, wenn man ihm davon erzählt. Damit bleibt das Geschehen fern wie ein Nachrichtenbericht über Bombenanschläge im Irak, kurz bevor der Moderator zum Sport übergibt und damit jegliche Betroffenheit unmöglich macht. Die Situation wirkt aufgrund dieser Verweigerung allzu oft unwirklich: Obwohl die Figuren und ihre Probleme so individuell bleiben, sind es doch nur Stereotypen. Da ist zum Beispiel der Ehemann, dem sein langweiliges Leben nicht mehr reicht, und der daher einfach verschwindet; der Soldat mit Aggressionsproblemen, der von seinen Dämonen gequält wird und als einzigen Ausweg den helden- und märtyrerhaften Selbstmord sieht; der koksende Autodieb; die Großmutter mit Alzheimer; die Schwiegertochter, die ihre musikalischen Neigungen zum Wohle der Familie aufgegeben hat.

Die ganze Handlung spielt natürlich in einer so heruntergekommenen Vorstadt, wie sie wohl nirgendwo in Deutschland mehr zu finden ist. Der handlungsanstoßende Unfall findet selbstverständlich im heißesten Sommer seit Jahren statt. So, wie ein Nachrichtenbericht der Neutralität verpflichtet ist, bleibt auch Lohers Stück uneindeutig, nicht wertend. Es zeigt Missstände auf, lenkt aber die Interpretation nicht. Es gibt wenige Ansätze zum Verständnis, weswegen man geneigt ist, das Buch schnell wieder aus der Hand zu legen, respektive den Theatersaal zu verlassen. Das Stück ähnelt also fast jenem nahezu weißen Bild, vor dem man erst lange Zeit stehen muss, bevor man beginnt zu ahnen, was man vor sich hat. Eine Aufgabe, die allein durch einen Theaterbesuch womöglich nicht zu bewerkstelligen ist, für die vielleicht mehr Zeit und eine ausgiebigere Studie des Werks benötigt wird.

Dea Loher: Land ohne Worte. Das letzte Feuer. Frankfurt/M.: Verlag der Autoren 2008. 136 S. 14,00 €

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