Die halbtotale Erinnerung

Rainer Merkel: Lichtjahre entfernt. Roman
Von Boris Seewald

"Wie erinnert man sich? Was bleibt von den Nächten zurück, die man zusammen verbringt? Ich muss zurückrechnen. […] In einer systematischen Erinnerungsarbeit, und wenn man alles noch einmal durchgeht, findet sich vielleicht der entscheidende Moment"
- so beschreibt der Ich-Erzähler in Rainer Merkels letztem Roman den Versuch, das Scheitern seiner ungefähr fünf Jahre dauernden Beziehung mit Judith zu ergründen. Dieser retrospektive Versuch erstreckt sich in der Form des inneren Monologs über 200 Seiten. Am Ende steht wiederum das Scheitern: Das des Erzählers auf der Suche nach dem Moment und Rainer Merkels auf der Suche nach seinem Erzählgegenstand.

Dabei ist die Frage nach einem nahe liegenden Grund für das Beziehungsende nach Lektüre des Textes leicht zu beantworten: Thomas Kaszinski ist ein von sich selbst gelangweilter, egoistischer Unsympath, der eine lustlose, aber sehr aktive Promiskuität an den Tag legt. Es ist fast zu bedauern, dass die teils etwas merkwürdig verlaufenden Zusammentreffen des Protagonisten mit Prostituierten und andere erotische Begebnisse lediglich in sparsamen Andeutungen und distanzierten, abwesenden Eindrücken geschildert werden. Das Wagnis einer stärkeren Ausführlichkeit hätte dem Roman ein Mindestmaß an Witz verleihen können, denn daran scheitern Autoren nun einmal gerne und oft, im Prozess unfreiwillige Komik erzeugend. So aber bleibt der gesamte Text geradezu erschreckend humorlos, was der allgemeinen Ödnis des Geschilderten sehr zuträglich ist.

Dabei besteht die eigentliche Primärhandlung lediglich darin, dass Kaszinski sich in einer New Yorker Wohnung, dann auf dem ca. drei Stunden dauernden Weg zum Flughafen befindet. Seine Beobachtungen dabei vermengen sich sprunghaft und spärlich markiert mit Rückwendungen unterschiedlicher Reichweite. "Die Ereignisse überlagern sich, wiederholen sich, löschen sich gegenseitig aus." Als systematisch kann das wohl kaum bezeichnet werden, und auch stilistisch ist das mehr der Versuch einer Annäherung ans Naturalistische, ohne in den Bewusstseinsstrom zu verfallen: "Draußen ist die Hitze noch größer. Ich könnte ein Taxi nehmen, […] Was bedeutet mir Judith eigentlich. Liebe ich sie noch? Ich ziehe die Taschen hinter mir her".

Zwischendurch gibt es zwar Episoden, die innerhalb der rückblickenden Erinnerung linear geschildert werden, aber sonst herrschen ideenflüchtige Beschreibungen von Orten, Umständen und unwichtigen Details vor. Es fehlen Dialoge, menschliche Interaktion und vor allem: Emotionen. Was diesem Menschen durch den Schädel plätschert ist zumeist oberflächlich, aussagearm und beleuchtet nur geringfügig sein Verhältnis zur angeblich geliebten Judith. Stattdessen: ausführliche Analysen von Hitze, Wüstensand und beliebige Beobachtungen ohne Mehrwert: "Das Licht gleitet aus dem Mond, verliert sich, tröpfelt in die schmalen dunkelgrauen Wolkenbänder hinein." Falls solche manieristischen Petitessen dem Roman einen neoromantischen Überbau verleihen sollen, ist dieses Unterfangen unelegant gescheitert. Es geht noch schlimmer: New York City ist laut Erzähler "wie ein großer silberner Schrein, der immer heller und glänzender wird." Dieser sonst so inspirationsreiche Schauplatz verleiht dem Text keine Besonderheiten, sondern bleibt austauschbar wie alle anderen Lokalitäten. 

Generell scheint im Kopf des Erzählers die Vergangenheit, insbesondere seine Erinnerungen an Judith, hauptsächlich aus den Stationen der zahlreichen gemeinsamen Reisen mit ihr zu bestehen. Das geht kurz ins Obsessive über, wenn er "eine Liste der Schauplätze unserer Beziehung" niederzuschreiben beginnt, was naturgemäß zu nichts führt. Was spielt es schon für eine Rolle, ob es nun "in der Bedford Avenue" war, oder "die Parkbank im Fulton Park, die Aussichtspromenade in Brooklyn Heights" oder Baltimore, San Diego, Las Vegas oder München, wo nichts von Belang passiert ist? 

Entsprechend will dann aus Judith auch kein vorstellbarer Charakter werden, ihre Eigenschaften werden ihr willkürlich und unbelegt zugeordnet. So bemerkt Kaszinski an der Asthmakranken erst ihre "Präsidentengattinnenhaftigkeit", dann wiederum "ihre unnachahmliche, herzzerreißende Mädchenhaftigkeit" und die "Schwingungsfrequenz ihrer Lunge nimmt die Frequenz ihrer Trauer an, die in Wirklichkeit vielleicht Wut ist." Das Hinzufügen kleiner Beziehungsgagaismen, wie die ritualisierte Verabschiedung von Hotelzimmern, trägt da auch nichts mehr zur Glaubwürdigkeit bei, im Gegenteil.

Es darf wohl angenommen werden, dass dies Absicht ist, um die Unfähigkeit des Protagonisten hervorzuheben, sich in eine ihm nah stehende Person einzufühlen. Keinesfalls aber ist das unterhaltend, erhellend oder insgesamt ein wichtiger Beitrag zur Literatur. Merkels Komposition passt sich konsequenterweise seinem Erzähler an, dessen Erinnerungsbemühungen Relevantes einfach nicht zu fassen vermögen und sich lieber in egozentrischen Kreisen Belanglosem, wie der Beschaffenheit der Umgebung und den eigenen Befindlichkeiten widmen. Die permanente Gedankenvermischung beim Rekapitulieren einer Beziehung anhand verschwommener Momente und der Versuch, diese mit Ortsbestimmungen zu fixieren, legitimiert also den Erzählstil. Die Distanz, die Kaszinski gegenüber Personen und Geschehnissen hat, überträgt sich auf den Lesenden. Schließlich ist im Titel gar von Lichtjahren die Rede.

Merkel schafft es zwar, trotz der häufigen Gedankensprünge nicht zu verwirren, aber dafür befindet er sich unrettbar im erzählerischen Leerlauf. Das Verharren des Erzählers in seiner fruchtlosen, zähen Introspektion soll als intendierte Methode dessen menschliche Unzulänglichkeiten offen legen. Allein: Dieses Vorgehen mutiert zu einer Art Golemeffekt, und der Leser wird mit Banalitäten zu Boden geschildert. Oder soll so nur der Umstand verschleiert werden, dass Rainer Merkel einfach wenig bis nichts zu erzählen hatte?

In jedem Fall bleibt am Ende vor allem die Frage: Wieso überhaupt einen Erzählversuch unternehmen, wenn der Stoff offensichtlich zu wenig her gibt? An der Originalität von Material und Schreibstil kann es nicht liegen, aber immerhin stand dieses Buch auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2009. Warum soll die im Text behandelte Lebenserfahrung dieses Protagonisten beachtenswert sein? Er eignet sich weder als Identifikationsfigur, noch lassen sich eindeutig symptomatische menschliche oder soziale Schieflagen an ihm erfahren. Die Hauptthematik muss geraten werden: Beziehungsunfähigkeit, eine gewisse Kommunikationsgestörtheit, ein wenig urbane Verlorenheit und Spuren von Ennui? Hier findet sich maximal eine ballistische Annäherung an zeitkritische Probleme bezüglich der conditio humana. Das Interesse, das an diesem Individuum bestehen kann, ist sehr begrenzt, und wenn das ein typischer Vertreter eines zeitgenössischen Menschenschlags sein soll, dann sollte besser über ihn geschwiegen werden.

Rainer Merkel: Lichtjahre entfernt. Roman. Frankfurt/M.: S. Fischer 2009. 202 S. 18,95 €

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