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Alphabetisierung der Abgründe

Franz Dobler: Letzte Stories. 26 Geschichten für den Rest des Lebens
Von Nils Neusüß


Es sind natürlich nicht die Letzten Stories, wie der Titel der Kurzgeschichtensammlung von Franz Dobler androht. Nach ihnen ist nicht alles gesagt, und Dobler versucht zum Glück auch gar nicht, dem Leser die Welt zu erklären. Umso seltsamer scheint dann allerdings der Aufbau der Sammlung: Dobler war sich offenbar nicht zu schade, die Erzählungen alphabetisch zu sortieren – was dann eben auch zu so wunderbar unsinnigen Titeln wie Yang und X-Beine führen musste – und diese Entscheidung dann mit dem Prädikat »ABC des Lebens« zu rechtfertigen.

Die highe Radikale

Helene Hegemann: Axolotl Roadkill
Von Boris Seewald

Der gemeine Verdacht, das Feuilleton langweile sich (und damit den Leser) in diesen Zeiten fast zu Tode, schien sich 2010 besonders deutlich zu bestätigen. Als gelte es, den literarischen Durchbruch des neuen Görenwunders Helene Hegemann bloß nicht in Philisterhaltung zu verschlafen, wurde Axolotl Roadkill mit schamloser Verehrung gefeiert. Offenbar verzweifelt nach literarischen Sensationen gierend, artete das mitunter in peinliche Lobeshymnen aus, wie sie eben nur die Literaturszene zustande bringt. Oder zeugt der Vorgang gar davon, dass der Literaturbetrieb mittlerweile von ähnlichen, auf Hype basierenden Vermarktungsstrukturen beherrscht wird, wie sie beispielsweise in der Musikindustrie üblich sind? Denn das stilarme, bestenfalls mittelmäßige Debüt der damals Siebzehnjährigen sollte eigentlich weder in positiver noch negativer Richtung Anlass zu Getöse geben. 

Gebrauchstheater

Ulrike Syha: Herr Schuster kauft eine Straße
Von Johannes Birgfeld


Theater sind mitunter eigenwillige Orte: Während heute Regisseure, Bühnenbildner oder Ausstatter vehement ihre künstlerische Autonomie betonen und durchsetzen, sind sie zugleich gemeinsam mit den Dramaturgen überwiegend der Auffassung, dass dramatische Texte prinzipiell einer Bearbeitung, Kürzung oder Ergänzung bedürfen, bevor sie zur Aufführung gebracht werden können. Ähnlich lässt sich an Theatern eine Praxis beobachten, die in anderen literarischen Gattungen unüblich ist: Fast niemand erwägt heute, Autoren für eine festgeschriebene Summe mit der Niederschrift eines Romans oder eines Gedichtes zu beauftragen. Theater hingegen entscheiden sich regelmäßig für die Kommissionierung neuer Auftragsdramen. Auch dabei kann der Eindruck entstehen, dramatische Literatur gelte an Theatern als auf Zuruf herstellbare Ware mit einiger Nähe zur Gebrauchsliteratur. Dies ist besonders dann der Fall, wenn zwischen Autor und Theater sogar konkrete Themen für das zu schreibende Stück vereinbart werden.

Der Flug ist das Leben wert

Uwe Timm: Halbschatten
Von Kathrin Paszek


Margarete (Marga) Wolff gen. von Etzdorf war eine der ersten Fliegerinnen zur Zeit der Weimarer Republik. Mit 19 Jahren startete ihre Fliegerkarriere, mit 23 Jahren flog sie ihr erstes eigenes Flugzeug und erlebte am 18. August 1931 ihr persönliches Highlight: als erste Frau in Japan gelandet zu sein. Bei ihrem Rückflug stürzt sie in Bangkok ab. Ohne Flugzeug kehrt sie nach Deutschland zurück. Die daraufhin als Bruchmarie titulierte Frau musste auf ihrem letzten Flug Richtung Australien wieder eine Bruchlandung nahe Aleppo (Syrien) hinnehmen. Eine erneute Rückkehr nach Deutschland ohne Flugzeug wäre aber fatal gewesen, denn keiner würde einer Bruchpilotin erneut ein Flugzeug sponsern. Am syrischen Flughafen fielen schließlich zwei Schüsse. Am 28. Mai 1933 nahm sich damit Marga von Etzdorf im Alter von 25 Jahren das Leben.

Wer jetzt, wie jetzt? Wenn man das nur wüsste

Katharina Hacker: Alix, Anton und die anderen. Roman
Von Maike Elisa Schug

Lesern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist die 1967 geborene Katharina Hacker seit einigen Jahren ein Begriff: Erst gewann Hacker 2006 mit ihrem Roman Die Habenichtse den Deutschen Buchpreis und erreichte anschließend mit einer Verkaufsauflage von mehreren hunderttausend Exemplaren eine ungewöhnlich große literarische Öffentlichkeit. 2009 folgte dann, von den Feuilletons mit lautem Blätterrauschen wahrgenommen und als weiteres Signal für die Krise des Verlagshauses gedeutet, ihre spektakuläre Trennung von Suhrkamp. Grund für den Abschied von ihrem bisherigen Hausverlag war ihr vierter Roman: Alix, Anton und die anderen.

Ein Jahrhundert im Zeitraffer

Hans Joachim Schädlich: Kokoschkins Reise. Roman
Von Susanne Schnur


Die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts in nur 192 Seiten zu verpacken – ein ehrgeiziges Unterfangen. Hans Joachim Schädlich hat es mit Kokoschkins Reise versucht: Er schildert darin das Leben des Russen Fjodor Kokoschkin, eines rüstigen Mittneunzigers, der im wahrsten Sinne des Wortes eine Reise in die Vergangenheit unternimmt. Mit seinem alten Freund Hlaváček besucht er viele für ihn wichtige Orte, klappert gleichsam die verschiedenen Stationen seines bewegten Lebens ab.

Zwei junge Frauen aus Berlin beschreiben, wie es ist, heute eine Frau zu sein.

Jana Hensel/Elisabeth Raether: Neue deutsche Mädchen
Von Lisa Huber


Jana Hensel und Elisabeth Raethers Werk wirkt wie ein Film im Parallelschnitt. Sie berichten abwechselnd über Männer, Eltern, Berufe und Geld. Sie erheben keinen Anspruch, für alle Frauen ihrer Generation zu sprechen; sie grenzen sich ab von einem ›totalitären‹ Feminismus in der Tradition Alice Schwarzers. Dieser ist nach Auffassung der Autorinnen nicht mehr aktuell nicht mehr anwendbar für Frauen der Gegenwart.

Sozialengagiertes Theater der Gegenwart

Nis-Momme Stockmann: Das blaue blaue Meer
Von Johannes Birgfeld


Nis-Momme Stockmann, Jahrgang 1981, ist unter den jüngeren deutschsprachigen Theaterautoren so etwas wie ein Shootingstar: Im Juni 2009 gewann er, bis dahin ungespielt auf deutschen Bühnen, beim Heidelberger Stückemarkt mit Der Mann, der die Welt aß den Haupt- und den Publikumspreis. Im Dezember folgte die Uraufführung in Heidelberg, am 22. Januar die Erstaufführung von Das blaue blaue Meer in Frankfurt und schließlich in Stuttgart im Februar Kein Schiff wird kommen. Seither wurde Stockmann im August 2010 in Theater heute zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gekürt und je eine Inszenierung seiner Stücke zu den Mühlheimer Theatertagen eingeladen bzw. in das Rahmenprogramm des Berliner Theatertreffens 2010 aufgenommen.

Der Pop bleibt

Benjamin von Stuckrad-Barre: Auch Deutsche unter den Opfern
Von Nils Neusüß

Man muss sich von der Idee, Benjamin von Stuckrad-Barre sei ein sogenannter Popliterat, verabschieden. Das vergangene Jahrzehnt hindurch hatte man gehofft, er würde dort weitermachen, wo er im Jahre 1998 mit Soloalbum begonnen hatte. Zurecht kritisiert, vor allem für seine deutlichen Anleihen bei Nick Hornby und Christian Kracht, hatte er mit seinem Debut und seiner Selbstinszenierung dennoch geschafft, was von anderen Autoren schon lange aufgegeben wurde: deutsche Gegenwartsliteratur war endlich wieder populär.

Dionysos in Mexiko City

Airen: I Am Airen Man
Von Christoph Hümpfner

Geboren aus einer Tragödie und einem Lurch, welcher dem Literaturbetrieb Anfang des Jahres 2010 über die Leber lief, nutzt Airen die ihm gewidmete, willkommene Aufmerksamkeit, um sein zweites Buch auf den Markt zu bringen. Nachdem Jungautorin Helene Hegemann im feuilletonistisch durchzelebrierten Plagiatsstreit die fremden Federn lassen musste, mit welchen sie ihren Debütroman ausgeschmückt hatte, war der Weg frei für den düpierten Blogger.

»Meta-Trash«

Max Goldt: Gattin aus Holzabfällen. Mit Text versehene Bilder
Von Ruven Karr

›Es ist nicht alles Goldt, was glänzt‹ – das wäre eine ganz schlechte Überschrift für diese Rezension. Und das nicht nur, weil Max Goldt ein bekennender Hasser aller journalistischen Phrasendrescherei ist, sondern vor allem, weil sein neues Buch trotz bibliophiler Aufmachung überhaupt nicht glanzvoll wirkt. Seinen Einband ziert nämlich ein grundhässliches Kunstwerk aus Abfall. Um es anzufertigen nehme man ein Dutzend Holzscheite verschiedener Größe, forme daraus ein kompaktes Bündel und drapiere es mit einem dicken braunen Seil. Dazu schreibe man ein Schildchen wie in einem Museum: »Gattin«, Holzabfälle, Sisalseil, 2006 und schenke es der Liebsten zum Hochzeitstag. Max Goldt meint, die werde sich über eine solche selbstgemachte Plastik sicherlich mehr freuen als über einfallslose Blumen- oder Pralinengeschenke. Außerdem sieht das Gebilde ja auch ein bisschen wie so eine »Gattin« aus: der sprußige Zopf des geflochtenen Seils und darunter ein löcheriges Mosaik aus Holzteilen, in dem man mit ein bisschen Phantasie ein Gesicht erkennen mag.

Ich bin noch da, ihr Schweine!

Clemens Meyer: Gewalten. Ein Tagebuch
Von Adrian Froschauer


Aua ist der simple und leicht nachvollziehbare Titel jenes Bildes Paule Hammers, das den Einband von Gewalten ziert. Ein schwarzer Nachthimmel, gespickt mit Hunderten weißer Punkte, und auf jedem steht in winziger Schrift »Aua« geschrieben. Zig Wehklagen, ein universeller Schmerzensschrei – wie dieses Buch?

11 Fragen an Benjamin Stein

In einem Email-Interview stand Benjamin Stein Melanie Horn Rede und Antwort. Wir danken Benjamin Stein an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich für das Interview.

»Die Welt in mir war für mich die Welt«

Benjamin Stein: Die Leinwand
Von Melanie Horn

Jan Wechsler, Münchner Verleger, verheiratet, Vater von zwei Kindern, wurde 1960 in Berlin-Friedrichshagen geboren. Aufgewachsen unter dem begrenzten Himmel des Sozialismus und in finanziell bescheidenen Verhältnissen, war seine Jugend geprägt von Enge und Beschränkungen. Einen Ausweg fand er im Lesen von Büchern: »Ich wuchs auf mit ihnen, ich liebte sie. [...] Es dauerte nicht lange, und ich lebte nur noch mit, in und um die Bücher«. Eigene Texte hat er nicht veröffentlicht. – Dies zumindest ist Jan Wechslers Version seiner Vergangenheit.

Krise statt Karriere

Kristof Magnusson: Das war ich nicht
Von Jennifer Stockum

 Meike, Jasper und Henry stehen an einem Scheideweg ihres Lebens. Schicksalhafte Fügungen werfen sie in ein Netz wechselseitiger Abhängigkeiten, die sie alle in Chicago aufeinandertreffen lassen. Aus der Ich-Perspektive erzählen die drei Protagonisten des in die Longlist des Deutschen Buchpreises 2010 aufgenommenen zweiten Romans Kristof Magnussons abwechselnd ihre Geschichte.

Liebe als Fernziel

Stephan Thome: Grenzgang
Von Boris Seewald


Das Scheitern wird früh zum Leitmotiv in Stephan Thomes Romandebüt: Sein männlicher Protagonist ist vorzeitig am Ende seiner akademischen Karriere angelangt. Vom »übermächtigen« Institutsleiter geschasst, verliert Thomas Weidmann seine Habilitationsstelle – wenig überraschend, wusste er doch um dessen Ablehnung seiner Forschungsrichtung, die er gleichwohl starrsinnig weiter verfolgte. Die bisherige Arbeit ist somit nutzlos geworden und er betrachtet seine Laufbahn als Historiker in Berlin als beendet:
 
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