Rundumschlag gegen das System

Juli Zeh: Corpus Delicti. Ein Prozess
Von Nils Neusüß

Juli Zeh benötigt nur wenige Sätze um ihre dystopische Zukunftswelt in Corpus Delicti zu umreißen: Sauberkeit und Gesundheit sind Bürgerpflicht, Sterilität gehört zum guten Ton und alles wird von einem anonymen Staatsapparat (durchgängig nur als "METHODE" bezeichnet) überwacht. Den Rest haben Orwell, Huxley und Bradbury bereits vor Jahrzehnten beschrieben, Filme haben das Setting übernommen und so in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt.

Mia Holl ist die tragische Heldin des Romans. Zunächst ist sie als Naturwissenschaftlerin eine eifrige Verfechterin der METHODE, bis ihr freidenkender Bruder von eben diesem System inhaftiert - wegen eines Mordes, den er nicht begangen hat - und damit in den Selbstmord getrieben wird. Mia Holl beginnt zu zweifeln. Es wird ein Gesundheits- und Hygienesystem infrage gestellt, welches nur eine radikale Fassung unseres eigenen ist. Ähnliches hatte bereits Charlotte Roche mit ihrem Roman Feuchtgebiete versucht und wurde dabei sowohl von den Massenmedien, als auch vom Feuilleton weitestgehend belächelt. Wie um diesem Urteil zu entgehen, ist Corpus Delicti um einige Probleme erweitert. Neben der Auflehnung des Individuums gegen eine gleichschaltende, anonyme Obrigkeit (ein klassisches Thema der Dystopien), sind noch zu nennen: die bedingungslose Geschwisterliebe zwischen Mia und ihrem Bruder Moritz; die Frage, ob ein Freitod vertretbar sein kann; die sich rasant entwickelnde Liebe von Mia zu ihrem Gegenspieler und Peiniger Heinrich Kramer, die stark an das Stockholm-Syndrom erinnert. In dieser Fülle von Themen verschwimmen die einzelnen, für sich genommen interessanten Probleme zu einer homogenen Masse, die so beliebig wie anstrengend ist. 

Doch etwas sticht aus dem agitatorischen Rundumschlag heraus: Sprachzweifel. Besonders Mia Holl zweifelt unentwegt an der der Sprache, ihrer richtigen Bedeutung oder ihrer Verständlichkeit. "Mia und Moritz schauten sich an, und für einen Moment war es, als hätte die Sprache jede Bedeutung verloren, als besäßen die Worte, die Moritz soeben ausgesprochen hatte, für Mia nicht den geringsten Sinn." Spätestens seit dem Chandos-Brief von Hugo von Hofmannsthal aus dem Jahre 1902 ist die Unsicherheit der Literaten, ob ihre Worte überhaupt irgendeinen tieferen Wert haben, bekannt. Auch Autoren der Gegenwart spüren diesen Zweifel noch und müssen sich demnach auch mit ihm auseinander setzen. Doch selbst wenn Juli Zeh dieses Problem erkennt, hält es sie nicht davon ab ihre Sprache zu nutzen. Dabei ist sie von einer ästhetischen Spielerei weit entfernt. Sie möchte Thesen, Argumente und womöglich sogar Lösungen an ihr Publikum tragen. Als Gegenpart lässt sie den Antagonisten Kramer, einen glatten, galanten Gentleman, daher den Stil über die Aufregung erheben, und negiert dadurch gerade dies. "Das Wichtigste im Leben ist Stil, Mia Holl. Und Hysterie ist die schlimmste Feindin des guten Stils." "Reden ist Roden" legt sie hingegen später ihrer Heldin in den Mund. Zeh stellt also den systemtreuen Journalisten Kramer (der übrigens wenig Interesse an der Wahrheit hat) gegen die aufrührerische Naturwissenschaftlerin, die Ästhetik gegen die Revolution.

Juli Zeh hat dieses Werk erst in zweiter Instanz als Roman veröffentlicht. Zunächst war es ein Theaterstück. Jetzt ist es auch als Musik-CD, bzw. als so genannte Schallnovelle, erschienen, in Kollaboration mit der Band Slut. Darauf befinden sich neben atmosphärisch passenden Pop-Songs auch von der Autorin vorgelesene Textpassagen. Der Vorwurf des Ausverkaufs liegt natürlich nahe, ist aber absolut nicht mit Zehs Engagement vereinbar. Es ist vielmehr so, als versuche sie ihre Ideen über möglichst viele Medien zu verbreiten. Wichtig ist die Aussage, die Form ist nebensächlich.

Überhaupt scheint Zeh viele kritische Aussagen an die Öffentlichkeit bringen zu wollen, denn in ihrer noch jungen Literaturlaufbahn, 2001 erschien ihr Debüt Adler und Engel, hat sie bereits elf Bücher, zwei Theaterstücke und mehrere Kurzgeschichten veröffentlicht. Daneben ist sie Juristin, hat ein Praktikum bei den Vereinten Nationen in New York absolviert und setzt sich aktiv für Menschenrechte ein. Auch wenn bei Zeh die Intention vor der Ästhetik steht, soll dies nicht heißen, dass sie sich einer Stilistik vollkommen verweigert. Da Corpus Delicti zuerst ein Theaterstück war, ist auch der Prosatext reich an Figurenrede. Diese Figuren können sich dabei äußerst gewählt ausdrücken: "Wenn ich den Blick in mich hinein richte und horche, ob sich dort etwas regt, ein leises Knistern oder Wispern, durch das sich die Anwesenheit meiner Persönlichkeit verrät, finde ich nichts. Ich bin ein Wort, das man so lange wiederholt hat, bis es keinen Sinn mehr ergibt."

Der übertriebene Duktus verstärkt den Eindruck, dass es sich hierbei nicht um eine Gesellschaftskritik im Sinne einer naturalistischen Milieustudie handeln soll. Vielmehr versucht Zeh der Welt den Zerrspiegel vorzuhalten. Durch gekünstelte Rede, selbstverständlich nicht durchgängig zu finden, und auch viele Monologe der Figuren wird deutlich, dass es sich eben um genau solche handelt: Figuren in einem Spiel. Hier folgt die Autorin Brechts Idee des epischen Theaters. Das Mitfühlen des Lesers, oder in der Theaterfassung des Zuschauers, ist nicht erwünscht.

Juli Zeh nennt die Vorgänger, an denen sie sich messen muss, selbst. Mia findet im Bücherregal einige Werke, die sie von ihrem Bruder geschenkt bekommen hat. "'Rousseau', sagt Mia vor dem Bücherregal. 'Mit Widmung von Moritz. Dostojewski. Orwell. Musil. Kramer. Agamben - auch mit Widmung. Habe ich übrigens nie gelesen.'" Selbstverständlich hat es keinen Sinn jetzt zu argumentieren, dass die Genannten Meisterwerke geschrieben hätten und Juli Zeh nur scheitern kann, wenn sie versucht diese nachzuahmen. Es muss erlaubt sein, bereits vielfach geäußerte Ideen zum Zweck der Aktualisierung auch noch ein hundertstes Mal zu verarbeiten. Doch es kann geurteilt werden, ob diese Versuche gut oder schlecht gelungen sind.

Corpus Delicti ist zu gewollt, zu offensichtlich. Der Holzhammer, mit dem Zeh durch die Gesellschaft wütet, verursacht auch beim Lesen schnell Kopfschmerzen. Ein subtilerer Zugriff, bzw. Angriff wäre hier durchaus wünschenswerter gewesen. Dies und die vielen Baustellen, auf denen die Autorin gleichzeitig versucht zu arbeiten, ermüden leider schnell. Für einen angenehmen Lesefluss, der zu einem erneuten Lesen einlädt, ist ihr Stil viel zu sperrig, wobei die Intention zweifelsohne lobenswert ist. Und dies ist ja offenbar für Juli Zeh das wichtigere Argument.

Juli Zeh: Corpus Delicti. Ein Prozess. Frankfurt/M: Schöffling 2009. 272 S. 19,90 €.

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