Schein und Sein

Daniel Kehmann: Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten
Von Christoph Hümpfner

In der Schnelllebigkeit des modernen Kommunikationszeitalters ist der Ruhm mehr oder minder nur eine Frage der nicht selten selbst inszenierten Fügung. In Ruhm präsentiert Daniel Kehlmann neun Kurzgeschichten von Menschen, die zurecht kommen müssen in einer Welt von Sein und Schein. Dabei sind die Geschichten nicht chronologisch angeordnet und mal mehr, mal weniger eindeutig miteinander verbunden. Ihr Zusammenhang erschließt sich meist erst nach und nach: "Ein Roman ohne Hauptfigur! Verstehst du? Die Komposition, die Verbindungen, der Bogen, aber kein Protagonist, kein durchgehender Held."

Kehlmann, der den Durchbruch mit seinem Bestseller Die Vermessung der Welt schaffte, versucht sich mit seinem neuen Werk auf einer weit mehr postmodernen Ebene. Während sein Historienschmöker um Gauß und Humboldt eher leicht verdauliche Unterhaltung bot, schafft er in Ruhm daneben noch genug Raum für Zeitkritik und verschachtelte Gedankenspiele. Besonders eindrücklich zeigt dies die Geschichte einer alten Frau, die in die Schweiz reist, um dort Sterbehilfe zu erhalten. Dabei mischt sich Leo Richter, der Erzähler dieser und mehrerer Geschichten, aktiv in die Handlung ein. Er gibt nicht nur Einblick in seine Absichten, sondern führt gar mit seiner Protagonistin ein Zwiegespräch und macht sie am Ende wieder jung.

Leo Richter ist ohnehin die präsenteste der Figuren. Auch wenn er meist im Hintergrund bleibt, wird spätestens in der letzten Geschichte deutlich, wie viel von seiner Handschrift er hinterlassen konnte. Ist die Figur Kehlmanns Alter Ego? Diese Frage stellt sich wohl unweigerlich und kann doch kaum abschließend beantwortet werden. Die Schriftstellerei zeigt sich dabei übrigens nicht von ihrer besten Seite: Richter ist stark neurotisch, um nicht zu sagen manisch-depressiv, wandelt zwischen Selbstmitleid und Größenwahn. In bester Gerhart Hauptmann-Manier bindet er Figuren seines persönlichen Umfeldes in seine Geschichten ein. Verschafft er ihnen damit Ruhm oder zeigt dies nur die fragwürdigen Quellen seiner Kreativität?

Auch Miguel Auristos Blancos, von Kehlmann entworfen als weltweit erfolgreicher Verfasser von Lebenshilfebüchern, die fast in jedem Kapitel am Rande auftauchen, offenbart die Doppelbödigkeit des schriftstellerischen Metiers. Sein erfolgreichstes Werk besteht aus Gedanken, die er einst unwissend, aber dennoch 'stehlend', aus ostasiatischen Weisheiten unausgewiesen übernahm. Unerkannt überdauert Altbewährtes und macht die Innovation zum Mythos. Miguel muss einsehen, dass er seinen eigenen Worten nicht glauben kann. "Das einzige, was uns hilft, sind wohlige Lügen", gesteht er sich ein. Mit Selbstmordgedanken - "Dies, und nur dies, würde ihn groß machen" - und der geladenen Waffe ringend, sieht er, dass dieser Schritt sein Lebenswerk zunichte machen und die Hoffnungen einer weltweiten Leserschaft zerspringen lassen würde. So stellt sich hier die Frage nach echtem und falschem Ruhm, der aus dem Mangel an eigener Authentizität und aus Massenanbiederung resultiert.

Auch die anderen Figuren der Geschichten kreisen um das eigene Geltungsbedürfnis. Ein etwas zu klischeehaft beschriebener Blogger, inklusive Fettleibigkeit und wohnhaft im Hotel Mama, präsentiert das Internet als Hochburg des Scheins. Indem der Geek selbst andere Menschen als "Nerds" bezeichnet und sein Internetdasein mit seinem realen Ich durcheinander bringt, wird die Absurdität dieses 'Second-Lifes' verdeutlicht.

Bei der sprachlichen und stilistischen Gestaltung zeigt Kehlmann je nach Protagonist verschiedene Modulationen. Beim Blogger etwa dominieren neusprachliche, manchmal allerdings unnötig karikierende Bezeichnungen ("Stahlidee") und Ausdrücke aus der Forenkultur. Bei den Schriftstellern ist die Satzkonstruktion aufwändiger als bei manchen anderen Charakteren. Dabei ist die Sprache aber gleichbleibend deutlich und direkt. Viele amüsante Seitenhiebe und bildhafte Schilderungen steigern das Lesevergnügen. Allgemein ist die ganze Kurzgeschichtensammlung von einer großen Lesefreundlichkeit, die den Leser schnell zur letzten Seite treibt. 

Im Roman findet thematisch eine pikante Analyse der neuen Medien statt. Dabei werden auch die Computer kritisch beäugt. Als sich etwa die alte Rosalie nach der Logik der Flugkostenberechnung erkundigt, erhält sie im Reisebüro zur Antwort: "Gnädige Frau, wenn ich anfange, solche Fragen zu stellen, drehe ich durch. Fragen Sie den Computer. Ich frage auch den Computer. Jeder fragt den Computer, so läuft es!" Durch Rosalie, der wohl deutlichsten Vertreterin des Prä-Kommunikationszeitalters, kommt der Erzähler zu der Einsicht, dass er wie sie nichts sei "ohne die Aufmerksamkeit eines anderen" und seine wie ihre "bloß halbwahre Existenz" nur solange bestehe wie der Blick eines anderen darauf gerichtet ist. In der modernen Welt hängt die Daseinsqualität von Erreichbarkeit und Vernetzung ab.

Dies zeigt sich besonders in der Geschichte um die Krimiautorin Maria, die versehentlich auf einer Reise in Zentralasien vergessen wird. Die dort beschriebene Umgebung mit ihrer rückständigen technischen Ausstattung ist vielleicht die 'wirklichste' Welt und doch für die Protagonistin eine lebensfeindliche: Maria kann ihrer Existenz in der Fremde, ohne Hoffnung auf Verständigung und Kommunikation mit der Heimat, nur noch beim Erlöschen zusehen.

Das Handy wird in Kehlmanns Ruhm zum Sinnbild der ständigen Erreichbarkeit und zur zwingenden Quelle der Notlügen und des Täuschens. Das Mobiltelefon trägt sogar auch zum Verlust der eigenen Identität bei: "Leider nannte niemand mehr am Telefon den eigenen Namen: Die Nummern wurden angezeigt, und jeder ging davon aus, daß der andere vor dem Abheben schon wusste, wer anrief." Die Namensnennung wird zur Belanglosigkeit.  "Manchmal schien es einem, als wäre man ein anderer", denkt der Schauspieler Ralf, dem durch einen Fehler einer Mobilfunkfirma zunächst die Erreichbarkeit und dann über Umwege die eigene Existenz entrissen wird. Während der durchschnittliche Angestellte Ebling durch die plötzliche Rufumleitung durch Ralfs interessante Kontakte neue Spannung in seinen monotonen Alltag bringen kann, nutzt ein Abteilungsleiter die moderne Kommunikationstechnologie dazu, ein Doppelleben mit zwei Frauen zu führen. Auch die generelle Erreichbarkeit gibt zu denken: "Es kommt einem vor, als ob selbst der Raum nicht mehr das wäre, was er einmal war." Grenzen werden aufgelöst oder relativiert, die Menschen kommen sich durch die Vernetzung nicht zwangsweise näher.

Die schöne neue Welt der Technik bringt Heil und Verderben zugleich. Charakterliche Tragödien spielen sich im Öffentlichen wie im Privaten ab. Ankreiden kann man Kehlmann dabei höchstens eine sehr schablonenhafte Charakterdarstellung. Die ist jedoch zum Teil auch der Kürze der Auftritte der Figuren geschuldet. Das Gesamtkonzept geht dennoch auf. Im Sog der multimedialen Schnelllebigkeit erfährt das Individuum eine Bedrohung und zugleich eine Bereicherung der eigenen Identität. Zwar wartet am Ende keine Alternative einer besseren Welt und die neuen Medien erscheinen mehr als Mittel zum Zweck der narrativen Konstruktion, dennoch: Kehlmann zeigt gerade darin - im Spiegel vernetzter Geschichten und Schicksale - die fortschreitende Vernetzung des Lebens, die offensichtlich wie hinterrücks als Strippenzieher und Puppenspieler die menschlichen Figuren auf rühmliches Gedeih und schonungsloses Verderb ans Licht drängt bis sie verglühen. Und trotz dieser nüchternen Wahrheit lässt sich an vielen Stellen darüber schmunzeln - denn für den Denkenden bleibt das Leben doch eine Komödie.

Daniel Kehlmann: Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten. Reinbek: Rowohlt 2009. 203 S. 18,90 €.

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