"Keine Sicherheit für niemanden"

Sibylle Berg: Der Mann schläft. Roman
Von Christine Blinn

Im Zentrum des neuen Romans von Sibylle Berg steht eine namenlose Ich-Erzählerin mittleren Alters. Sie ist, ohne dies explizit zu deklarieren, eine Suchende - und damit kehrt Berg zu einem Problem zurück, das schon in ihrem Roman Ein paar Leute suchen nach Glück und lachen sich tot (1997) titelgebend war. Inmitten von Suizidgedanken und Anfällen von Todessehnsucht stehen die Fragen im Raum: Wofür lebt der Mensch? Wofür lohnt es sich zu leben? Es geht um nichts Geringeres als den Sinn des Lebens, um das "Erleben dessen, was die Welt zusammenhält", eine Formulierung, in der Goethes Faust anklingt. Da die Ich-Erzählerin damit keine neuen Fragen aufwirft, wird der Roman vor allem zu einer Auseinandersetzung mit den Kernfragen der westlichen Kultur. 

Der häufig verklärten Kindheit und Jugend wird mit Feststellungen wie "Ich habe es gehasst ein Kind zu sein, und ich fand es furchtbar eine Jugendliche zu werden" eine klare Absage erteilt. Der besonders seit der Industriellen Revolution propagierte Zukunftsglaube wird in Frage gestellt, Heilsversprechen durch Sekten und Religionen werden analysiert: "Männer werden Gurus, und folgen dem Quark. Lassen sich auf die Vielweiberei ein, Frauen übereignen Gurus ihre Kinder, waschen ihm die Füße, schleppen Geld für ihn an. Seit Jesus nicht viel Neues."

Andere traditionelle Konzepte eines sinnvollen glücklichen Lebens, wie zum Beispiel die romantisierten Vorstellungen von Familie und Partnerschaft, d.h. die heile Welt der aufklärerischen Privatutopie, fallen entweder dem Zynismus der Ich-Erzählerin zum Opfer oder verwandeln sich vor ihren Augen in eine Dystopie. Letztendlich werden nicht nur die Lebenskonzepte selbst, sondern auch die dahinter stehenden Ideen und Hoffnungen, "diese dumme Frage nach dem Sinn, der eigenen Wichtigkeit" und der Sinn selbst negiert. Übrig bleibt ein tiefes Sicherheitsbedürfnis in einer Welt voller äußerlicher und innerlicher Bedrohung durch die Katastrophenfantasien der Ich-Erzählerin: "Ein Gehirndefekt vermutlich, dem ich hilflos ausgeliefert bin." Um dieses Verlangen zu erfüllen, gibt sich die Protagonistin der "beruhigenden Wirkung von Routine" hin, die sich in zwanghaft eingehaltenen Tagesabläufen manifestiert. Doch die Illusion der Sicherheit bringt allein der Mann: "Jeden Morgen stand ich vor der Tür und freute mich, dass ich die Nacht überlebt hatte, dass alle Häuser sich noch am Ort befanden und der Mann im Bett lag."

Dabei ist nicht der Mann als Individuum von zentraler Bedeutung - er nimmt nur in einzelnen Erzählsequenzen eine schemenhafte Form an - sondern seine bloße Anwesenheit. Daraus entwickelt die Ich-Erzählerin eine enorme Verlustangst. Die zeigt sich unter anderem darin, dass sie über ihren Geliebten nur als "der Mann" spricht, "damit er nicht verschwinden würde, da sich doch meist alles, dem man einen Namen gibt, entfernt". Dass diese Angst berechtigt ist, erlebt die Protagonistin während eines Urlaubs auf einer Insel vor Hongkong: der Mann kehrt von einem Ausflug nicht wieder zurück. 

Der Erzählverlauf wird durch den Wechsel der zeitlichen Perspektive nach jedem Kapitel von "Damals" zu "Heute" geprägt. Die beiden Zeitadverbialen fungieren dabei - ergänzt durch Jahreszahlen oder Tageszeiten - als Überschrift. Dadurch entsteht eine Parallelität, die Aussagen vor der Beziehung mit dem Mann, wie "Ich misstraute der Liebe zutiefst. Ein Marketinginstrument um Waschmittel zu verkaufen", mit Definitionsversuchen der eigenen Liebe nach der Begegnung gegenüberstellt. Außerdem entwickeln die Erinnerungen und allgemeine Reflexionen der Hauptfigur durch die zeitliche Annäherungen der Rückblenden an das Jetzt eine ganz eigene Dynamik. Die Verweigerung eines linearen Handlungsaufbaus unterstützt den Episodencharakter der einzelnen Erlebnisse der Protagonistin, die assoziativ mit Erinnerungen und allgemeinen Feststellungen verknüpft werden. Zahlreiche Motive geben dennoch einen Zusammenhalt, vernetzen die unterschiedlichen Zeitebenen und Handlungssequenzen, und verleihen der Gesamterzählung trotz der singulativ erzählten Ereignisse den Charakter einer sich endlos wiederholenden Geschichte. Zu diesen gehören der Winter und die dazugehörige Kälte, die wie schon in The Dead von James Joyce Lähmung und Einsamkeit symbolisiert. Kontrastiv dazu steht die Wärme, die zwar durch den Mann positiv besetzt ist, aber gleichzeitig durch den Urlaub auf der Insel als Flucht vor der winterlichen Kälte zur Gefahr wird. Denn es ist das warme Paradies, in dem ihr Alptraum Wirklichkeit wird und der Mann verschwindet. 

Auch die Namenlosigkeit und die damit verbundene Typisierung von Figuren zieht sich durch die Erzählung wie ein roter Faden. Lediglich das Mädchen Kim, ein schwules Paar und ein Restaurantbesitzer bekommen einen Vornamen und erhalten allein schon dadurch eine exponierte Stellung. Diese wird untermauert, indem die namenstragenden Personen Türen zu Nebenhandlungen öffnen, die zunächst eine dankbar entgegengenommene Abwechslung zur handlungsarmen Hauptstory darstellen. Leider verlaufen sie entweder im Sand oder enden im Falle des Paars mit einem grotesken Mord: "Rob und Ben liegen auf dem Sand […]. Neben ihnen steht das seltsame Arche-Ufo."

Ebenfalls Motivcharakter hat das positiv konnotierte Schweigen, das schon in Form der Sprachlosigkeit in Bergs Kurzgeschichtensammlung Das unerfreuliche zuerst Verwendung findet. Es zeigt sich in befriedigenden schweigsamen Telefonaten und Aussagen wie "Ich hatte das große Bedürfnis, mich zu bedanken, dass ich den Gesprächsteil direkt überspringen durfte, wusste aber nicht, bei wem." Das häufigste Motiv jedoch sind Tierreferenzen, die in nahezu allen Kapiteln vorhanden sind. Ob als Vergleichselement, als Bezeichnung für Menschen ("um mich herum sah ich Menschen mit Tierköpfen, vornehmlich Echsen") oder als Handlungselement, das Tiermotiv wird ambivalent verwendet und entzieht sich wie so viele Elemente der Erzählung einer eindeutigen Interpretation: "Keine Sicherheit für niemanden", auch nicht für den Rezipienten.

Fragezeichen häufen sich auch im Betrachten des Verhaltens der Ich-Erzählerin. Aussagen wie: "Sich täglich von der Wichtigkeit, das Bett zu verlassen, überzeugen zu müssen, machte müde" verleiten zu Spekulationen über eine mögliche Depression der Protagonistin. Ihre wiederholten Fantasien über das Erleben von Gliedmaßenverlust ("Am neuen Morgen waren meine Beine verschwunden. [...] Als ich mich an den Schreibtisch begab, [...] merkte ich, dass meine Beine noch vorhanden waren.") werfen weitere Fragen zu ihrem psychischen Gesundheitszustand auf. Sie lassen an der Zuverlässigkeit der Erzählinstanz zweifeln, was zum Einen Kopfschütteln bereitet, aber letztendlich auch einen großen Teil zum Unterhaltungswert des Romans beisteuert.

Die Unsicherheit steht zunächst der Sprache des Romans polar gegenüber. Direkte, klare Formulierungen und kurze prägnante Sätze prägen den Sprachgebrauch. Einige, wie z.B. "Ich wäre meinem Verfall auch gerne mit einem freundlicheren Hallo begegnet" wollen an die Pinnwand geheftet werden. Und trotz dieser klaren Sprache, die der Analyse des eigenen Lebens der Ich-Erzählerin entgegenkommt, wird schließlich auch sprachlich die Unklarheit mit dem Adjektiv "verschwommen" expliziert, mit dem die Ich-Erzählerin ihre eigene Sicht beschreibt. Gerade die fehlende Deutlichkeit ist es jedoch auch, mit der Sibylle Berg am Ende des Romans überrascht, denn sie gibt Hoffnung auf ein versöhnliches Ende. Die Rückkehr des Mannes ist vielleicht zum Greifen nah.

Neben dem Ende bleibt auch die Frage, ob das Lebens- und Beziehungsmodell der Protagonistin nun kritisch betrachtet oder einfach nur realistisch geschildert wird, offen. Dennoch hat eine Sprache, ähnlich der Elfriede Jelineks, auch ohne offensichtliche Sozialkritik ihren Reiz und die teils absurden Gedankengänge, "dann ging der Mann und ich versuchte das Haus warm zu bekommen, ich molk die Kühe, was ohne Kühe natürlich kompletter Unsinn war", versprühen ihren eigenen wahnsinnigen Charme.

Sibylle Berg: Der Mann schläft. Roman. München: Hanser 2009. 312 S. 19,90 €.

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