"Ja, sie ist ewig und ganz kurz. Sie entzieht sich immer dann, wenn man denkt, man hat sie."

Albert Ostermaier: Wer sehen will. Gedichte zu Photographien von Pietro Donzelli
Von Julia Brinkmann

"Gedichte von der Liebe und vom Verlassenwerden" - das verspricht der Ankündigungstext des Verlages. Und gleich das erste Gedicht scheint diese Ankündigung unterstreichen zu wollen: spiegelverkehrt beschreibt die Verzweiflung eines Mannes, der aufwacht und feststellen muss, dass seine Geliebte gegangen ist: "er hätte sie fesseln wollen doch sie / ging der spiegel hätte zerspringen / sollen doch er empfing das erste / licht der sonne am morgen von / dem er erwachte getroffen alleine / den arm ausgestreckt ins leere". Einsamkeit ist es, die die ersten fünf Gedichte prägt. Das sechste Gedicht, stazione, beginnt mit einer Ankündigung: "doch kann ich nicht so rauhe / wege so ungebahnte finden / dass nicht die liebe dazu käme / mit worten, die noch nicht / fertig sind [...]".


Die Liebe gewinnt ab hier als Motiv an Bedeutung: niemand kann so einsam sein, dass er die Liebe nicht kennt. In den insgesamt 24 Gedichten werden 24 Facetten der Liebe beleuchtet: Der Leser liest von der vergangenen Liebe, findet die ersehnte wie die enttäuschte Liebe, ihm begegnet die romantische, die alles verzehrende genauso wie die erotische, die begehrende oder die nach langer Zeit wiedergefundene Liebe. Mit Wer sehen will veröffentlicht Albert Ostermaier seinen achten Gedichtband. Ostermaier, der als einer der bekanntesten deutschen Gegenwartslyriker und -dramatiker gilt, erhielt zahlreiche Auszeichnungen für sein Werk, u. a. den Ernst-Toller-Preis (1997) und den Kleist-Preis (2003). Von 2006 bis 2008 war er der Künstlerische Leiter des Internationalen Brecht-Festivals abc (augsburg brecht connected) in Augsburg. Im vorliegenden Gedichtband vereint Albert Ostermaier Photographien und Gedichte: Er ließ sich von einer Auswahl der Bilder des italienischen Photographen Pietro Donzelli (1915-1998) inspirieren. Je ein Gedicht und ein Photo gehören zusammen. Donzelli war Mitbegründer der Unione Fotografica und einer der wichtigsten Photographen Italiens. 1995 erklärte ihn die Federazione Italiana Associazioni Fotografiche zum Photographen des Jahres, nachdem er bereits zuvor zahlreiche Auszeichnungen für sein Werk bekommen hatte.

Die von Albert Ostermaier ausgesuchten Bilder zeigen verschiedenste alltägliche Szenarien: zum Beispiel leere Gläser auf einem Tisch, achtlos dort abgestellt und doch scheinbar inszeniert wie für ein Stillleben. Stundengläser ist der Titel des dazu entstandenen Gedichts, erinnernd an das barocke memento mori: "Mensch, gedenke dass du sterblich bist". "der bittere akkord der erinnerung / das ausklingen der gläser im licht / umgedreht auf dem tisch nicht in / händen die sie zu den spröden / lippen führen so rauh wie die worte". In diesem Gedicht stehen Erinnerung und Gegenwart einander als zwei Aspekte der Zeit gegenüber. Erinnerungsarbeit ist es auch, die Ostermaier mit seinen Gedichten leistet, denn die Photographien entstanden in den 50er und 60er Jahren in Italien. Claudius Seidl, seit 2001 Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, beschreibt die Photos in seinem Nachwort als "Vorsaison unserer Wirklichkeit", als "Momente, die nur dadurch möglich werden, daß wir noch nicht da sind". Auch die in den Gedichten erlebten Momentaufnahmen sieht er als den "Moment vor dem Einbruch der Realität", als Moment des schönen Schmerzes.

Die Photos sind schwarz-weiß, in ihnen dominiert der Gegensatz von Hell und Dunkel, der Kontrast von Licht und Schatten. Es hat den Anschein, als habe der Autor versucht, in seinen Versen diesem zentralen Moment der Bilder literarisch zu entsprechen: Der Gegensatz von Schwarz und Weiß in den Photographien spiegelt sich in den Gedichten in den Gegensätzen von Realität und Hoffnung, von Sehnsucht und Tatsächlichem, von Trauer und Glück, beides von bitter-süßer Liebe verursacht - so zum Beispiel in der mann und die stühle:" [...] als wir / an diesem tisch sassen / uns auf jedem der stühle / berührten liebten um mit den / schatten zu spielen sie zu / verführen nachdem du nackt / bis auf das glitzernde licht / zwischen den perlensträngen / des vorhangs standst und ich / geblendet die augen nieder / schlug [...]".

Das Verhältnis von Bild und Text ist kein beschreibendes, die Gedichte sind viel mehr Entsprechungen des jeweiligen Bildes. In den Gedichten überträgt Ostermaier das photographische Verfahren und setzt es literarisch um. Er nutzt so die Besonderheit der Bilder, den genannten Kontrast von Hell und Dunkel, für seine Textgestaltung. Donzelli photographierte Szenen aus dem italienischen Alltagsleben. Die Titel nennen oft nur den Ort der Aufnahme: das Caffè a Rosalina zum Beispiel oder die Trattoria a Pozzuoli - Albert Ostermaier hat hier mehr gesehen. Gesehen und Aufgeschrieben. Sehnsucht ist das zweite zentrale Thema, welches die Figuren seiner Gedichte verbindet. Er lässt sie ihre unerfüllten Wünsche und ihre unerreichten Ziele reflektieren, festgehalten in diesen Momentaufnahmen ihres Lebens. Mal sind sie verzweifelt, trostlos, verwirrt, mal noch voller Hoffnung und Wünsche. Als Leser findet man sich leicht selbst wieder in diesem Strudel aus himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt, in den Tagträumen und Gedanken dieser Figuren.

Ostermaier schreibt seine Gedichte wie immer ohne Punkt und Komma, ohne Groß- und Kleinschreibung. Dies wird von der Kritik oft bemängelt, da sich die Gedichte durch die fehlende Satzstruktur nur schwer und teilweise sogar zäh lesen ließen. Die Vorteile dieser Methode sind jedoch nicht von der Hand zu weisen. Zugegeben: nicht selten stolpert man beim Lesen, muss sich aufrappeln, sich neu orientieren. Gehört das gerade Gelesene noch zum letzten Satz oder hat der nächste schon ohne mich angefangen? Und trotzdem, oder gerade deshalb, kann das Lesen dieser Texte so produktiv sein. Man findet die geschickt eingestreuten Doppelbedeutungen, erlebt beim Lesen Überraschendes, etwa in tagträumer: "es vergingen jahre immer wieder / kam ich her allein im winter kannst / du dich an meinen ledermantel / erinnern wie er knirschte beim / küssen und auf den sitzen ich trug / ihn auf dem arm bevor du gingst / und sagtest du würdest mich / ein leben lang lieben es ist doch / nur für ein jahr hier vergehen / die jahre an einem nachmittag". Zumal die Gedichte durchaus eine eigene, 'klassische' Reimstruktur aufweisen - man muss sie eben erst ein bisschen suchen. In Wer sehen will ergibt sich zusätzlich aufgrund der Kombination von Photos und Text eine ganz eigene Wirkung dieser Methode: Durch den fließenden Text, der nicht durch Punkte gestoppt oder durch Kommas gehemmt wird, entsteht der Eindruck von Bewegung, einem Daumenkino ähnlich, eine Bewegung, die die starren Photographien mit Leben füllt.

Am Ende des Bandes findet sich ein in Ostermaiers Gedichten oft gewähltes Motiv: das Kino. Der durch den Aspekt des Sichtbarwerdens von Gefühlen durch die Photos geprägte Band endet im cinema paradiso: In diesem Gedicht werden die Sehnsüchte und Wünsche eines jungen Mädchens projiziert auf die Erwartungen, mit denen man ins Freilichtkino geht. Genau in dem Moment, als der Junge sie küssen will, bricht plötzlich ein Gewitter los, die Besucher verlassen fluchtartig das Kino, der Film reißt. Das Mädchen bleibt allein sitzen. Wie dieses sind einige von Ostermaiers Gedichten so schön und leicht wie Gedankenketten, die man an klaren, ruhigen Tagen spinnt, getragen von einem Gedanken zum nächsten. Andere sind voll Schmerz und Traurigkeit. Sprachgewaltig inszenieren die Gedichte viele verschiedene Facetten der Liebe, die zu erleben und zu durchleiden sich durchaus lohnt.

Albert Ostermaier: Wer sehen will. Gedichte zu Photographien von Pietro Donzelli. Frankfurt/M., Leipzig: Insel Verlag 2008. 87 S. 12,80 €.

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