Tilman Rammstedt: Der Kaiser von China. Roman
Von Dominik Steinmann
Von Dominik Steinmann
Obwohl sich Tilman Rammstedt nach seinem 2005 erschienenen Roman Wir bleiben in der Nähe eigentlich schon von der Romanform losgesagt hatte, wagte er sich 2008 doch noch einmal an diese Gattung. Sein aktuelles Buch Der Kaiser von China überzeugte bereits im vergangenen Sommer in Gestalt der ersten zwei Kapitel des damals noch unvollendeten Werks sowohl Jury als auch Publikum des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs und gewann gleich zwei der begehrten Preise. Doch kann das mit vielen Vorschusslorbeeren versehene Buch auch halten, was seine ersten beiden Kapitel versprachen?
Die Handlung beginnt unter einem Schreibtisch: Seit fast zwei Wochen kauert der unsichere Student Keith Stapperpfennig, Ich-Erzähler des Romans und eine der beiden Hauptfiguren, dort bereits. Schuld daran ist sein dominanter Großvater, bei dem Keith gemeinsam mit seinen vier Geschwistern aufwuchs und der ihn Zeit seines Lebens stets in den Schatten gestellt hat: Trotz seines Alters und des Verlusts eines Arms sieht der rüstige Rentner noch ausgesprochen jung aus und hat erstaunlichen Erfolg bei Frauen. Ja, dem genauso eigensinnigen wie charmanten älteren Herrn gelingt es sogar, seinem Enkel Keith regelmäßig die Freundin auszuspannen. So ist es nicht verwunderlich, dass Keith seinen Opa nicht begleiten will, als dieser zu seinem 80. Geburtstag eine Reise nach China geschenkt bekommt. Stattdessen verjubelt der Enkel sein Reisegeld im Casino und der muntere Greis zieht allein los. Dumm nur, dass der noch innerhalb der deutschen Landesgrenzen im Westerwald verstirbt. Da Keiths Geschwister aber die Chinareise der beiden wie geplant in vollem Gang wähnen, versteckt sich der Daheimgebliebene mit schlechtem Gewissen und aus Erklärungsnot unter dem Schreibtisch, um Abwesenheit vorzutäuschen. Anstatt seinen Großvater in der Pathologie zu identifizieren, schreibt Keith lieber Briefe an seine Geschwister, in denen er die gemeinsame Reise schlichtweg erfindet und den Opa so in China seine Auferstehung feiern lässt. Diese Briefe sind es, die den Reiz des Romans ausmachen und von denen er lebt. Der sprühende Witz und die lockere Schreibweise, die bereits den ersten Seiten der preisgekrönten Rahmenhandlung attestiert wurden, entfalten sich erst so richtig in diesen Reiseerzählungen.
So kommt etwa der Großvater in Keiths Imagination in Restaurants nicht mit den Essstäbchen zurecht, was er unfreiwillig komisch zu seinem Vorteil umzukehren versucht: "Ich bestellte ihm schließlich Messer und Gabel, und jedes Mal, wenn mir ein Bissen zurück in die Schale fiel, lachte er höhnisch und erhob sein Glas: ›Auf die Zivilisation‹". Hier zeigt der Autor seine ganze Kunstfertigkeit: Mit einer schier endlos scheinenden Phantasie erfindet er ein China, das die Rahmenerzählung zur Nebensache deklassiert. Zwar ist auch die reale Handlung gespickt mit passenden Pointen, aber in den Reiseberichten schafft der Autor es, die Grenze zwischen Realität und Fiktion besonders kunstvoll verschwimmen zu lassen. Bei vielen Schilderungen bleibt offen, ob sie der Wahrheit entsprechen oder frei erfunden sind, etwa wenn von "winzigen Uhren in Form von Blattläusen" die Rede ist oder wenn bei der Besichtigung der großen Mauer behauptet wird, dass "die Feuer auf den Wachtürmen mit Wolfskot unterhalten wurden". Kombiniert mit einem großzügigen Schuss Humor, regt das Werk zum Schmunzeln an. Weniger erfreulich sind die ständigen Zeitsprünge, die das Verständnis der logischen Zusammenhänge unnötig erschweren, sowie enorme Satzlängen und häufige Aufzählungen, die zwar durchaus erheitern, aber mitunter übertrieben lang ausfallen: "Lian hatte alles schon gegessen, […] alles schon gesagt, alles schon gehört, alles schon gespielt, alles schon beteuert, alles schon berichtigt, alles schon gefühlt".
Der Reiz der Lügengeschichten, die Keith verbreitet, liegt nicht allein in der mitreißenden Fabulierlust des Erzählers. Vielmehr verarbeitet er in ihnen sein zwiespältiges Verhältnis zu seinem Großvater. Zu Beginn werden Keiths Ausführungen noch durch seine Wut auf den alten Mann dominiert, der die 'Frechheit' besaß, ausgerechnet dann zu sterben, als er eigentlich mit seinem Enkel in China sein sollte – und das, obwohl er zuvor das leidenschaftliche ›Hobby‹ entwickelt hatte, nicht zu sterben: "Der Tod war nicht nur sein Gegner, er wurde auch mehr und mehr zu seinem Gehilfen, genüsslich las er uns beim Frühstück die Todesanzeigen vor, ›Das war ein gutes Wochenende‹, jedem vorbeifahrenden Krankenwagen sah er hoffnungsvoll nach". Im Laufe der Reiseerzählung wird aus den Briefen ersichtlich, wie die negative Darstellung des Großvaters nach und nach ins Positive übergeht. Besonders beeindruckend ist dabei die fiktive Liebesgeschichte zwischen Lian und dem Greis, die Keith als biographisches Abenteuer aus der Nachkriegszeit erfindet. Hier wird der Alte von seinem Enkel zum ersten Mal sympathisch dargestellt. Es scheint, dass er seinen Opa vielleicht doch weniger abstoßend findet, als er zunächst vorgibt, und stärkere Gefühle für ihn besitzt, als er sich eingestehen will. Der Reflexionscharakter der Briefe wird auch daran deutlich, dass Keith reale Begebenheiten aus dem großväterlichen Leben in seine Geschichte einbaut, wie den Verlust seines Arms oder den enormen Frauenverschleiß des Rentners, der sogar im erfundenen China noch eine Affäre mit einer jungen Chinesin hat.
Vor dem Hintergrund der vielfältigen Liebesabenteuer des Großvaters bleibt Keiths reale Beziehung zu seiner Freundin Franziska eher blass. Tatsächlich wird nicht ganz klar, welche Funktion diesem Verhältnis im Roman zugedacht ist: Romantik und Erotik jedenfalls prägen die Beziehungen des Alten, nicht die seines Enkels. Der Sinn der Figur Franziska erschließt sich nur leidlich. Sie scheint lediglich dazu zu dienen, das Verhältnis zwischen Keith und seinem alten Herrn näher zu charakterisieren. Denn in ihrem Fall wurde ausnahmsweise dem Opa seine Geliebte durch den Enkel ausgespannt. Es ist denkbar, dass die Ähnlichkeit zwischen Keith und seinem Großvater, die sich beide zu dessen Lebzeiten nicht eingestehen wollten und die erst im Laufe des Romans erkennbar wird, am Beispiel des Frauengeschmacks deutlich werden soll. Auch die Dominanz des Rentners über den Enkel könnte durch Franziska illustriert werden, spricht doch die Tatsache für sich, dass Franziska und Keith nicht fähig sind, in seiner Abwesenheit Geschlechtsverkehr zu haben: "Außerhalb des Schlafzimmers meines Großvaters schliefen wir nie miteinander, auch wenn ich alles versuchte, auch wenn ich Fotos von ihm neben mein Bett stellte, auch wenn ich sein Schnarchen auf Kassette aufnahm und es in geeigneten Momenten abspielte".
Alles in allem ist Tilman Rammstedt mit seinem Roman eine Gratwanderung zwischen mitreißender, aber eher oberflächlicher Komik und gefühlvoll tiefgründiger Aufarbeitung eines Großvater-Enkel-Verhältnisses gelungen. Zudem schafft er es über die Chinareise, Realität und Fiktion auf so beeindruckende Art und Weise ineinanderfließen zu lassen, dass man am liebsten sofort selbst in das Reich der Mitte aufbrechen möchte. Dabei verzeiht man dem Roman gerne seine kleinen Schwächen wie die teils ermüdend langen Sätze und die im Vergleich zu den großartig ausgearbeiteten Hauptfiguren zurücktretende Franziska.
Tilman Rammstedt: Der Kaiser von China. Roman. Köln: DuMont Verlag 2008. 192 S. 17,90 €.
Die Handlung beginnt unter einem Schreibtisch: Seit fast zwei Wochen kauert der unsichere Student Keith Stapperpfennig, Ich-Erzähler des Romans und eine der beiden Hauptfiguren, dort bereits. Schuld daran ist sein dominanter Großvater, bei dem Keith gemeinsam mit seinen vier Geschwistern aufwuchs und der ihn Zeit seines Lebens stets in den Schatten gestellt hat: Trotz seines Alters und des Verlusts eines Arms sieht der rüstige Rentner noch ausgesprochen jung aus und hat erstaunlichen Erfolg bei Frauen. Ja, dem genauso eigensinnigen wie charmanten älteren Herrn gelingt es sogar, seinem Enkel Keith regelmäßig die Freundin auszuspannen. So ist es nicht verwunderlich, dass Keith seinen Opa nicht begleiten will, als dieser zu seinem 80. Geburtstag eine Reise nach China geschenkt bekommt. Stattdessen verjubelt der Enkel sein Reisegeld im Casino und der muntere Greis zieht allein los. Dumm nur, dass der noch innerhalb der deutschen Landesgrenzen im Westerwald verstirbt. Da Keiths Geschwister aber die Chinareise der beiden wie geplant in vollem Gang wähnen, versteckt sich der Daheimgebliebene mit schlechtem Gewissen und aus Erklärungsnot unter dem Schreibtisch, um Abwesenheit vorzutäuschen. Anstatt seinen Großvater in der Pathologie zu identifizieren, schreibt Keith lieber Briefe an seine Geschwister, in denen er die gemeinsame Reise schlichtweg erfindet und den Opa so in China seine Auferstehung feiern lässt. Diese Briefe sind es, die den Reiz des Romans ausmachen und von denen er lebt. Der sprühende Witz und die lockere Schreibweise, die bereits den ersten Seiten der preisgekrönten Rahmenhandlung attestiert wurden, entfalten sich erst so richtig in diesen Reiseerzählungen.
So kommt etwa der Großvater in Keiths Imagination in Restaurants nicht mit den Essstäbchen zurecht, was er unfreiwillig komisch zu seinem Vorteil umzukehren versucht: "Ich bestellte ihm schließlich Messer und Gabel, und jedes Mal, wenn mir ein Bissen zurück in die Schale fiel, lachte er höhnisch und erhob sein Glas: ›Auf die Zivilisation‹". Hier zeigt der Autor seine ganze Kunstfertigkeit: Mit einer schier endlos scheinenden Phantasie erfindet er ein China, das die Rahmenerzählung zur Nebensache deklassiert. Zwar ist auch die reale Handlung gespickt mit passenden Pointen, aber in den Reiseberichten schafft der Autor es, die Grenze zwischen Realität und Fiktion besonders kunstvoll verschwimmen zu lassen. Bei vielen Schilderungen bleibt offen, ob sie der Wahrheit entsprechen oder frei erfunden sind, etwa wenn von "winzigen Uhren in Form von Blattläusen" die Rede ist oder wenn bei der Besichtigung der großen Mauer behauptet wird, dass "die Feuer auf den Wachtürmen mit Wolfskot unterhalten wurden". Kombiniert mit einem großzügigen Schuss Humor, regt das Werk zum Schmunzeln an. Weniger erfreulich sind die ständigen Zeitsprünge, die das Verständnis der logischen Zusammenhänge unnötig erschweren, sowie enorme Satzlängen und häufige Aufzählungen, die zwar durchaus erheitern, aber mitunter übertrieben lang ausfallen: "Lian hatte alles schon gegessen, […] alles schon gesagt, alles schon gehört, alles schon gespielt, alles schon beteuert, alles schon berichtigt, alles schon gefühlt".
Der Reiz der Lügengeschichten, die Keith verbreitet, liegt nicht allein in der mitreißenden Fabulierlust des Erzählers. Vielmehr verarbeitet er in ihnen sein zwiespältiges Verhältnis zu seinem Großvater. Zu Beginn werden Keiths Ausführungen noch durch seine Wut auf den alten Mann dominiert, der die 'Frechheit' besaß, ausgerechnet dann zu sterben, als er eigentlich mit seinem Enkel in China sein sollte – und das, obwohl er zuvor das leidenschaftliche ›Hobby‹ entwickelt hatte, nicht zu sterben: "Der Tod war nicht nur sein Gegner, er wurde auch mehr und mehr zu seinem Gehilfen, genüsslich las er uns beim Frühstück die Todesanzeigen vor, ›Das war ein gutes Wochenende‹, jedem vorbeifahrenden Krankenwagen sah er hoffnungsvoll nach". Im Laufe der Reiseerzählung wird aus den Briefen ersichtlich, wie die negative Darstellung des Großvaters nach und nach ins Positive übergeht. Besonders beeindruckend ist dabei die fiktive Liebesgeschichte zwischen Lian und dem Greis, die Keith als biographisches Abenteuer aus der Nachkriegszeit erfindet. Hier wird der Alte von seinem Enkel zum ersten Mal sympathisch dargestellt. Es scheint, dass er seinen Opa vielleicht doch weniger abstoßend findet, als er zunächst vorgibt, und stärkere Gefühle für ihn besitzt, als er sich eingestehen will. Der Reflexionscharakter der Briefe wird auch daran deutlich, dass Keith reale Begebenheiten aus dem großväterlichen Leben in seine Geschichte einbaut, wie den Verlust seines Arms oder den enormen Frauenverschleiß des Rentners, der sogar im erfundenen China noch eine Affäre mit einer jungen Chinesin hat.
Vor dem Hintergrund der vielfältigen Liebesabenteuer des Großvaters bleibt Keiths reale Beziehung zu seiner Freundin Franziska eher blass. Tatsächlich wird nicht ganz klar, welche Funktion diesem Verhältnis im Roman zugedacht ist: Romantik und Erotik jedenfalls prägen die Beziehungen des Alten, nicht die seines Enkels. Der Sinn der Figur Franziska erschließt sich nur leidlich. Sie scheint lediglich dazu zu dienen, das Verhältnis zwischen Keith und seinem alten Herrn näher zu charakterisieren. Denn in ihrem Fall wurde ausnahmsweise dem Opa seine Geliebte durch den Enkel ausgespannt. Es ist denkbar, dass die Ähnlichkeit zwischen Keith und seinem Großvater, die sich beide zu dessen Lebzeiten nicht eingestehen wollten und die erst im Laufe des Romans erkennbar wird, am Beispiel des Frauengeschmacks deutlich werden soll. Auch die Dominanz des Rentners über den Enkel könnte durch Franziska illustriert werden, spricht doch die Tatsache für sich, dass Franziska und Keith nicht fähig sind, in seiner Abwesenheit Geschlechtsverkehr zu haben: "Außerhalb des Schlafzimmers meines Großvaters schliefen wir nie miteinander, auch wenn ich alles versuchte, auch wenn ich Fotos von ihm neben mein Bett stellte, auch wenn ich sein Schnarchen auf Kassette aufnahm und es in geeigneten Momenten abspielte".
Alles in allem ist Tilman Rammstedt mit seinem Roman eine Gratwanderung zwischen mitreißender, aber eher oberflächlicher Komik und gefühlvoll tiefgründiger Aufarbeitung eines Großvater-Enkel-Verhältnisses gelungen. Zudem schafft er es über die Chinareise, Realität und Fiktion auf so beeindruckende Art und Weise ineinanderfließen zu lassen, dass man am liebsten sofort selbst in das Reich der Mitte aufbrechen möchte. Dabei verzeiht man dem Roman gerne seine kleinen Schwächen wie die teils ermüdend langen Sätze und die im Vergleich zu den großartig ausgearbeiteten Hauptfiguren zurücktretende Franziska.
Tilman Rammstedt: Der Kaiser von China. Roman. Köln: DuMont Verlag 2008. 192 S. 17,90 €.
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