Liebe als Fernziel

Stephan Thome: Grenzgang
Von Boris Seewald


Das Scheitern wird früh zum Leitmotiv in Stephan Thomes Romandebüt: Sein männlicher Protagonist ist vorzeitig am Ende seiner akademischen Karriere angelangt. Vom »übermächtigen« Institutsleiter geschasst, verliert Thomas Weidmann seine Habilitationsstelle – wenig überraschend, wusste er doch um dessen Ablehnung seiner Forschungsrichtung, die er gleichwohl starrsinnig weiter verfolgte. Die bisherige Arbeit ist somit nutzlos geworden und er betrachtet seine Laufbahn als Historiker in Berlin als beendet:

Schon den ganzen Sommer über hatte sich in ihm die Ahnung breitgemacht, dass sein Ehrgeiz vergebens und er auf ganzer Linie gescheitert war. Und nun kam die Erkenntnis hinzu, dass er nie Ehrgeiz im eigentlichen Sinne besessen hatte, sondern allenfalls dessen hässlichen Zwilling, die Eitelkeit. Bloß was folgte daraus?
In einer paralysierenden Mischung aus Trotz und Resignation weigert sich Weidmann, einen irgendwie gearteten Neuanfang ins Auge zu fassen, und zieht sich stattdessen in die hessische Provinz zurück. In seinem Heimatort Bergenstadt nimmt er eine Stelle am örtlichen Gymnasium an. Genügsam führt er fortan eine schmerz- und ambitionslose Junggesellenexistenz, ein bescheidenes Ersatzleben, das er »nie gewollt hatte«, aber sich gleichsam zur Buße für seine Sturheit selbst auferlegt. »Was einmal Bedeutung gehabt hat, ist aus seinem Leben verschwunden, und dann ist es in Sackgassen auch nicht sonderlich wichtig, wie schnell man vorankommt«.
Bergenstadt, sieben Jahre später: Kerstin Werner, 44, wähnt sich am Rande des Nervenzusammenbruchs. Seit einigen Jahren ist sie geschieden und während ihr Ex-Ehemann gerade eine neue Familie mit einer wesentlich Jüngeren gründet, hat sie ihre demente Mutter zu umsorgen, die klagend durch das Haus geistert und allmählich zum Pflegefall wird. Dazu versucht sich neuerdings ihr sechzehnjähriger Sohn, eigentlich unaufmüpfig, als organisierter Schulhoferpresser und drangsaliert jüngere Schüler. Der sonst so ruhige und intelligente Junge scheint sich unbemerkt in einen renitenten, introvertierten Fremden verwandelt zu haben, an dem alle Kommunikationsversuche abprallen. Verständlicherweise stellt Kerstin sich die Frage, wohin sich ihr eigenes Leben verflüchtigt hat. Dabei fühlt sie sich eigentlich noch zu jung, um vor der aufkommenden Perspektivlosigkeit zu kapitulieren, und sich fortan einsam, mit ein wenig Gartenarbeit als einzigem Ausgleich, dem Altern hinzugeben. Tagträume häufen sich, vor allem davon, doch noch eine Möglichkeit zu finden, ihr eigenes Tanzstudio zu eröffnen. Ein Hausfrauendasein in Bergenstadt zu fristen, war eigentlich nicht Teil der Agenda, als sie vor 21 Jahren ihr Studium abgeschlossen hatte.
Als sich im Jahr 2006, der Gegenwart des Romans, Thomas und Kerstin begegnen, sind sie beide auf der Suche nach Veränderung, vorbelastet mit ihrer jeweils eigenen Version des »Provinztraumas«. Während jedoch Kerstin vorwiegend gegen äußere Umstände aufbegehrt, leidet Thomas an einem inneren Konflikt, den er nicht zu lösen vermag. Die letzten sieben Jahre hat er, so weit das in der Kleinstadt möglich ist, in Abgeschiedenheit verbracht. Persönliche Treffen mit Damen, deren Bekanntschaft er online macht, erlaubt er sich nur außerhalb des Wohnortes. Somit kann er bergenstädtisches Gerede vermeiden und dem Umstand Rechnung tragen, »dass Bergenstadt nun einmal keine Möglichkeiten für den alleinstehenden Mann über vierzig bereithält, ein Sexualleben zu führen, das den Namen verdient«. Vom Umgang mit der attraktiven Kerstin charmiert bekommt er nun unvermittelt Lust auf Monogamie. Das aber würde bedeuten, sich endgültig der Provinz zu ergeben. Davor hat sich Thomas zu überzeugen, ein Restleben in bürgerlicher Verbindlichkeit nicht als fortgesetzte beschämende Niederlage betrachten zu müssen.
In einer Umgebung, wo man entweder frühzeitig desertiert oder sich in seine vorgeschriebene Existenzkarikatur fügt, sind die Voraussetzungen für verspätete Lebensneuordnungen deutlich ungünstig. Kerstin ist zudem sicher: »Bergenstadt ist kein Ort für Romanzen«. Auf der oberen Erzählebene ist Grenzgang zwar zunächst an einen typischen boy meets girl-Plot gebunden, inklusive Verwicklungen und amüsanter Peripetie: Zufall führt die beiden Protagonisten in eine peinliche Situation, in deren Folge der glückliche Ausgang zu scheitern droht. Doch weder schlägt der Roman in eine Provinzposse um, noch ist Stephan Thome formelabhängiger Schlichtglückpropagandist. Die vielschichtigen Selbstanalysen der Figuren und die sprachlich gewitzte Gedankenrede dabei machen den Hauptreiz des Textes aus. 450 Seiten mit relativ wenig Handlung mögen dafür dennoch etwas zu viel sein, was sich in einigen Längen äußert. Doch immerhin umfasst der Erzählzeitraum nicht weniger als 28 Jahre; in einer geschickten anachronistischen Montage changiert der Text zwischen Erzählgegenwart und Rückwendungen. Erzählt wird dabei jedoch nur – und das ist die gestalterische Besonderheit – zum Zeitpunkt der Feierlichkeiten anlässlich des so genannten ›Grenzgangs‹.
Diese rituelle Grenzbegehung ist ein dreitägiges Volksfest, das alle sieben Jahre gefeiert wird. Es hat seinen Ursprung in Zeiten, als die Ortsgrenzen noch der Gefahr der heimtückischen Verschiebung ausgesetzt waren und daher regelmäßig kontrolliert werden mussten. Im Laufe der Zeit ist aus dem amtlichen Vorgang eine Mischung aus Volkswanderung und Jahrmarkt geworden mit Kostümspiel, Wettlauf, Pferden, Fahnen, Blaskapellen und überfüllten Bierzelten. Die Bergenstädter halten in eifriger Ausgelassenheit, aber auch mit halbmilitärischem Ernst an den teilweise recht albernen Grenzgangsriten fest – »Tradition, die Antwort auf so vieles in diesen Tagen«. Doch trotz zahlreicher Sottisen auf diese kulturellen Sonderbarkeiten und ihrer Darsteller: Der Roman kann nicht als exemplarische Gesellschaftskritik verstanden werden. Zu liebe- und verständnisvoll ist der Autor gegenüber Land und Leuten dieses hessischen Kleinbürgermilieus, dem er selbst entstammt. Es verleiht den Schilderungen herzliche Lebendigkeit, wenn Nebenfiguren im nordhessischen Idiom naturalistisch parlieren und streiten. Beständig fließt feiner Humor aus der lockeren, doch sicher pointierenden Feder, mit der Thome Bergenstadt und Umgebung schildert: 
Kneipen, Metzgereien, Bäckereien, in der Mitte eine Kirche, manchmal eine Quelle-Filiale, manchmal Mode für Sie & Ihn. [...] Dicke Menschen unterhalten sich über Gartenzäune hinweg.
Vor dem Schluss baut Stephan Thome noch einen weiteren Zeitsprung ein: Unmittelbar bevor er das happy ending des Paares eintreten lässt, das die beiden mit eher sachter Begeisterung vollziehen, unterstreicht er noch einmal nachdrücklich, dass es sich hierbei nicht um einen Liebesroman für den Krankenschwesternnachttisch handeln soll. Er versetzt den Leser in Thomas’ und Kerstins eheliche Zukunft, in eine nicht sehr harmonische Situation im Jahr 2013. Zwar tun sich keine seelischen Abgründe auf, noch regiert mittlerweile der Hass. Noch einmal aber wird deutlich, welch ungleiche Entwicklung die vergangenen sieben Jahre für die beiden Charaktere gebracht haben. Während sich für Thomas außer der Personenstandsänderung wenig getan hat, hat Kerstin die Wende geschafft: Ihre Mutter starb noch 2006; Selbstzweifel und Unwägbarkeiten überwand sie und eine neu gewonnene Freundin, selbst vom Ehejoch gezeichnet und auf der Suche nach neuem Lebensinhalt, entpuppte sich als ideale Partnerin für die Eröffnung eines Tanzstudios. Ihr Ehemann hingegen übt sich immer noch in introspektiven Grübeleien über das schleichende Verschwinden der abstrakten Zukunft und über die Frage nach dem richtigen Leben im Ersatzleben. Stephan Thome gelingt damit eine lebensnahe, glanzlose Tragik ohne große Gesten, die sich im üblicherweise unbeobachteten Zwischenraum von Wunscherfüllung und Scheitern ereignet. 

Stephan Thome: Grenzgang. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009. 454 Seiten. 22,80 €.

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