Krise statt Karriere

Kristof Magnusson: Das war ich nicht
Von Jennifer Stockum

 Meike, Jasper und Henry stehen an einem Scheideweg ihres Lebens. Schicksalhafte Fügungen werfen sie in ein Netz wechselseitiger Abhängigkeiten, die sie alle in Chicago aufeinandertreffen lassen. Aus der Ich-Perspektive erzählen die drei Protagonisten des in die Longlist des Deutschen Buchpreises 2010 aufgenommenen zweiten Romans Kristof Magnussons abwechselnd ihre Geschichte.

Meike Urbanski, literarische Übersetzerin aus Hamburg, ist gerade vor dem drohenden Spießbürgerleben in ländliche Einsamkeit geflohen: Gösta und Regine, Lars und Sabine, die sich gegenseitig mit Nachwuchs übertrumpfen und eine Vorliebe für »Produkte aus der Region«, »Salzmühlen mit Peugeot-Mahlwerk« sowie »Weinkühlschränken mit stoßgedämpften Regalen und fünf individuell regelbaren Klimazonen« hegen, haben ihr gezeigt, welches Leben sie nicht führen möchte.
Ihren Neuanfang will sie durch die Übersetzung des neuesten, als Jahrhundertroman angekündigten Buches »ihres Autors« Henry LaMarck finanzieren. Da dieser jedoch sein Manuskript nicht abgibt und schließlich auch noch wie vom Erdboden verschwunden ist, sieht Meike ihre Existenz bedroht. Fürchtend, dass sie bald ihre Brötchen wieder mit dem Übersetzen von »Hausfrauenpornos« verdienen muss, kratzt sie ihre letzten Groschen zusammen, um in Chicago selbst den verschollenen Schriftsteller zu suchen und sich das Manuskript persönlich zu beschaffen.
Henry LaMarck plagt sich derweil mit seiner eigenen Lebens- und Schaffenskrise: Um in einer Talkshow neben Elton John nicht völlig unterzugehen, hatte er unüberlegt das Erscheinen seines opus magnum angekündigt, eines Jahrhundertromans über den elften September. Ein Jahr ist dies schon her, und noch immer hindert ihn seine Schreibblockade daran, auch nur eine einzige Zeile zu Papier zu bringen. Als der von seinen Problemen nichtsahnende Verlag zu seinem 60. Geburtstag eine Überraschungsparty veranstaltet, bei der auf seine erneute Nominierung für den Pulitzerpreis angestoßen wird, taucht er kurzerhand unter. Genervt von seiner Berühmtheit, dem eigenen Alter und den an ihn gestellten Erwartungen, die er nicht mehr erfüllen kann, mietet er sich unter dem Namen des Protagonisten seines bisher erfolgreichsten Romans in ein Hotel ein.
Schneller als erwartet, findet er hier neue Inspiration: Zufällig entdeckt er im Wirtschaftsteil der Chicago Tribune das Bild eines jungen Bankers mit verlorenem Blick vor einer fallenden Aktienkurve – für Henry ein Sinnbild des zusammengebrochenen Systems nach dem elften September. Doch dieser »Businessboy«, wie er ihn nennt, ist für den Schriftsteller weit mehr als eine Eingebung – er ist in ihn verliebt.
Fasziniert vom Anblick des Spekulanten macht sich der Künstler auf die Suche und findet ihn sogar noch am selben Tag: Jasper Lüdemann, Mathematiker aus Sprockhövel bei Bochum, hofft bald, kein Underdog mehr zu sein. Aus dem Back-Office in den Händlerraum seiner Bank Rutherford & Gold befördert, gehört er nun – Desk 3, 29. Reihe, Futures und Optionen, wie er immer wieder stolz betont – zu den »Rockstars« der Banker. Gerade von einer Fortbildung aus London zurückgekehrt, strebt er um jeden Preis nach der großen Karriere: »Gab bestimmt auch eine Zeit für das Privatleben. Frau. Kind. Später. Ich war erst 31. Zwischen 30 und 40 muss man brennen«.
Wenig Respekt jedoch zollen ihm die Kollegen. Auch jenes von LaMarck entdeckte Zeitungsfoto verstärkt nur den Spott gegenüber dem hier entgegen seinem Selbstbild als Verlierer dargestellten Jasper. Als sich ihm die Möglichkeit bietet, den Fehler eines Kollegen auszubügeln, überschätzt er sich maßlos: Er verstrickt sich immer mehr in unautorisierte Transaktionen und Spekulationen, die schließlich zum Bankrott von Rutherford & Gold und einer weltweiten Finanzkrise führen. Doch nicht nur das berufliche Debakel, sondern auch die zufällig entstandene Bekanntschaft mit der inzwischen in Chicago angekommenen Meike, in die er sich Hals über Kopf verliebt, lassen ihn seine Lebensplanung überdenken – ist der Job wirklich alles?
Die Geschichte, die so rasant beginnt, lässt sich nicht wirklich, wie das NDR Kulturjournal befand, als »[f]ulminant geschrieben, zum Schreien komisch, berührend und klug« bezeichnen: Viele Ereignisse scheinen mutwillig konstruiert und wenig glaubhaft. Abwegig ist etwa, dass sich die Hauptfiguren in der Millionenstadt Chicago ständig über den Weg laufen. Regelrecht obskur und befremdend statt amüsant muten auch die wiederholten Gespräche zwischen LaMarck und Elton John an. Nicht weniger fragwürdig ist das Ende in Hamburg, das die Protagonisten freudig vereint auf alles Mögliche anstoßen lässt – obwohl keines ihrer Probleme gelöst ist: Warum Meike Jaspers Werben nachgibt und warum Henry seinerseits das Interesse an Jasper verliert und dennoch lieber bei Meike als bei Elton John einzieht, bleibt völlig ungeklärt.
Ein Grund dafür liegt zweifellos darin, dass die Figuren psychologisch nicht wirklich tiefgründig gezeichnet, sondern nur oberflächlich skizziert und fast schon stereotyp dargestellt werden: Der Bestsellerautor ist ›natürlich‹ homosexuell und der junge Börsenspekulant selbstredend ein schachspielender Fastfoodjunkie, der unentwegt Snickers verschlingt. Vor allem die Figuren Meike und Henry haben wenig Facetten und können daher schnell langweilen oder sogar unsympathisch wirken.
Lediglich die Jasper-Episoden sind stets amüsant und packend; tatsächlich werden hier komplizierte Wirtschaftsprozesse verständlich gemacht. Der Autor orientiert sich bei der Konzeption seiner Bankerfigur auffallend an dem britischen Derivatehändler Nicholas Leeson, der durch ähnliche Transaktionen wie in Magnussons Roman 1995 die älteste Investmentbank Großbritanniens, die Barings Bank, in den Ruin trieb. Die Verluste des skrupellosen Spekulanten führten zu einer weltweiten Devisenkrise, von der sich die Finanzmärkte nur langsam erholten – sowie zu einer Erneuerung der wirtschaftlichen Kontrollsysteme. Wie Leeson hinterlässt auch Jasper vor seiner Flucht einen Zettel an seinem Arbeitsplatz mit den Worten: »Es tut mir leid«.
Kurioserweise hatte Magnusson schon vor dem großen Bankencrash 2008 und der Pleite der Lehmann Brothers den größten Teil seiner Geschichte fertig gestellt. Angesichts der Ereignisse in den letzten Jahren wirkt die Aussage eines im Buch auftretenden Experten, zwar gäbe es »gewisse Irritationen auf dem amerikanischen Immobilienmarkt«, man könne jedoch auf die »Selbstheilungskräfte des Marktes« vertrauen, durchaus zynisch.
Die schlichte Sprache, der sich der Kirchenmusiker Magnusson für seinen zweiten Roman bedient, erzeugt zwar eine leichte Lesbarkeit, jedoch leider auf Kosten der Komplexität. Bilder bleiben keine hängen, interessante oder bereichernde Perspektiven auf die Welt finden sich kaum, das gesamte Werk bewegt sich im Bereich des Konventionellen. Alles, was der Leser über die Figuren erfährt, scheint aus anderen Kontexten bereits bestens und genau so, wenn nicht sogar komplexer bekannt. Ein doppelter Boden lässt sich nirgends finden. So überzeugt Das war ich nicht nicht ganz, und der Satz, mit dem Magnusson seinen Roman enden lässt, trifft in erheblichem Maße auch auf selbigen zu: »Steht nichts Weltbewegendes drin«.

Kristof Magnusson: Das war ich nicht. Roman. Kunstmann Verlag 2010. 283 Seiten. 19,90 €.
 
Creative Commons License
Diese Inhalte sind unter einer Creative Commons-Lizenz lizenziert.