Ein Jahrhundert im Zeitraffer

Hans Joachim Schädlich: Kokoschkins Reise. Roman
Von Susanne Schnur


Die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts in nur 192 Seiten zu verpacken – ein ehrgeiziges Unterfangen. Hans Joachim Schädlich hat es mit Kokoschkins Reise versucht: Er schildert darin das Leben des Russen Fjodor Kokoschkin, eines rüstigen Mittneunzigers, der im wahrsten Sinne des Wortes eine Reise in die Vergangenheit unternimmt. Mit seinem alten Freund Hlaváček besucht er viele für ihn wichtige Orte, klappert gleichsam die verschiedenen Stationen seines bewegten Lebens ab.
Die Romanhandlung beginnt in Berlin, wo Kokoschkin mit Hlaváček über eine hinter ihnen liegende Reise spricht. Die beiden reisten nach Europa, wo Kokoschkin, unterstützt von seinem Freund, Schauplätze seiner Jugend besuchen wollte. Beginnend in Prag, führte ihr Weg weiter nach Petersburg, in jenes Krankenhaus, in dem Kokoschkins von Bolschewisten ermordeter Vater starb, und in sein ehemaliges Elternhaus.
Am Tag nach dem Besuch fliegt der Protagonist von Berlin nach London und checkt auf einem Luxusliner ein. Genauestens werden die nächsten fünf Tage auf See geschildert, die geprägt sind von Abendunternehmungen mit einer Damenbekanntschaft namens Olga Noborra sowie vom allabendlichen Dinner. Letzteres wird äußerst detailgetreu beschrieben – jede Speisefolge ist ermüdend genau dokumentiert:

Olga Noborra bestellte Chilled Tomato Soup mit Gin and Basil und Navarin of Lamb, Root Vegetables, Safron Rice. Zum Dessert Panna Cotta mit Apricot Compote.
Kokoschkin ließ die Vorspeise aus und bestellte wieder Grilled Swordfish Steak, Lemon and Oregano Oil, Nicoise Olive Relish. Als Dessert Sugar Free Ice Coffee Strasbourg.
Unterbrochen werden die Schilderungen der Schiffsreise immer wieder von Episoden aus dem Leben Kokoschkins, die dieser seinem Freund Hlaváček anlässlich des gemeinsamen Besuchs im Petersburger Krankenhaus erzählte: Diese Episoden beginnen mit der Flucht mit seiner Mutter aus Russland nach Odessa. Wenig später lernten der junge Kokoschkin und seine Mutter dort den Schriftsteller Wladislaw Chodassewitsch kennen, der ihnen ein Zimmer bei einer wohlhabenden Familie vermittelte. Mehrere Jahre und Wohnortswechsel später ergatterte der mittlerweile dreizehnjährige Kokoschkin ein Stipendium für ein Internat in Berlin:
Es war natürlich ein Glück für mich, daß ich das Joachimsthalsche Gymnasium besuchen konnte. Aber es gab auch eine andere Seite, Mama lebte in der Pension Crampe in Berlin. Ich bin nicht wie die meisten Schulkameraden an den Wochenenden nach Hause gefahren. Ich hatte kein Zuhause.
An diesem Internat machte Kokoschkin sechs Jahre später sein Abitur. Mit dem Wunsch, Biologie zu studieren, nahm er in Berlin eine Arbeit im Botanischen Garten an – und verliebte sich in seine Vorarbeiterin Aline. Bald zog er bei ihren Eltern ein und vermochte so, sechs Semester Biologie zu studieren, bevor ihm die politischen Verhältnisse in Deutschland, wo mittlerweile Hitler an der Macht war, zu unsicher wurden und ihn nach Prag trieben. Dort bemühte er sich, als Küchenjunge arbeitend, der Landessprache nicht mächtig, ein Stipendium für ein Studium in den USA zu bekommen. Ein Besuch auf der Amerikanischen Botschaft mit zwei Empfehlungsschreiben berühmter Bekannter in der Tasche, brachte dann die Wende und Kokoschkin nach mehrmonatiger Wartezeit ein Stipendium für New York.
Eine solche Geschichte über das Leben eines Menschen zu verfassen, bedeutet eine Gratwanderung zwischen Rührseligkeiten und historischem Bericht. Schädlich versucht sich trotzdem daran und meistert diese Aufgabe mit Bravour. Dies verdankt er vor allem seinem knappen Erzählstil. Auch ohne Gefühlsausbrüche des Protagonisten oder ausschweifende Dialoge bleibt die Geschichte anschaulich:
Dann die Katastrophe. Wir waren noch keine drei Wochen in Odessa, Bunin nur wenige Wochen, da zogen – nach dem Abzug der Franzosen – bolschewistische Truppen ein. Mama ging kaum noch aus dem Haus.
Oberflächlich gesehen, fällt es vielleicht schwer, sich in eine Person hineinzuversetzen, die von ihrem eigenen Leben nur in episodenhaften Auszügen berichtet und auch dann stets sachlich bleibt – Kokoschkins Beschreibung seiner Gefühle in Vergangenheit und Gegenwart beschränken sich auf die Gelegenheiten, bei denen sich sein Freund Hlaváček explizit danach erkundigt. Zwischen den Zeilen seiner Berichtssprache lässt Schädlich aber erahnen, wie der Protagonist sich in den verschiedenen Situationen seines Lebens fühlt. Beispielsweise dann, wenn er in das deutsche Internat kommt, obwohl er die Sprache nicht beherrscht: »Er stellte mich der Klasse vor, wies mir einen Platz an und begann mit dem Unterricht. Ich verstand fast nichts«.
Ungewöhnlich ist der stete Wechsel zwischen Gegenwart und Zukunft: Ähnlich wie der sachliche Erzählstil, erlaubt sie dem Leser eine gewisse Distanz zur Hauptperson. Berichtet Kokoschkin etwa gerade von seiner Flucht als Achtjähriger aus Russland nach der Ermordung seines Vaters, so folgt im nächsten Kapitel eine – besonders im Kontrast zu den aufwühlenden Lebensumständen – trivial erscheinende Episode der Schiffsreise.
Trotz der knappen Beschreibung wirkt Kokoschkins Reise nicht wie ein bloßer Bericht über die Geschichte des letzten Jahrhunderts. Der Sturz der russischen Regierung durch die Bolschewisten, Hitlers Machtergreifung in Deutschland, der Prager Frühling – all das bestimmt das Leben des Protagonisten. Schädlich erwähnt diese Ereignisse, erklärt sie aber nicht weiter: Der Leser muss sich selbst mit dem historischen Hintergrund vertraut machen. Authentischer wird die Geschichte durch real existierende Personen, die Schädlich einbaut. Der russische Schriftsteller Wladislaw Chodassewitsch ist in der Geschichte eine Art väterlicher Freund der jungen Hauptperson, seine Frau Nina Berberova eine gute Freundin seiner Mutter. Chodassewitsch und dem Politiker Alexander Kerenski verdankt Kokoschkin sein Stipendium in den USA. Ein weiterer wichtiger Charakter ist der russische Autor und Nobelpreisträger Iwan Bunin, dessen Bücher Kokoschkin sehr gerne liest. Aus zweien seiner Bücher wird im Romanverlauf sogar zitiert.
Die dramatischen Schicksalsschläge, die den Protagonisten allzu oft ereilen, werden durch das ›Happy End‹ relativiert, das ihn wieder in New York ankommen lässt. Die leicht pathetischen letzten Worte »Nach Boston. Nach Hause« scheinen zwar nicht recht zum emotionslosen Stil des Buches zu passen, markieren aber das Ende der Suche des heimatlosen Kokoschkin nach einem Zuhause. Schädlichs Geschichte schildert also ohne überflüssige Worte, aber doch mitreißend das lange Leben des Fjodor Kokoschkin und erzählt quasi nebenbei auch noch die europäische Geschichte des letzten Jahrhunderts: Ein kleines Meisterwerk.
 
Hans Joachim Schädlich: Kokoschkins Reise. Roman. Reinbek: Rowohlt 2010. 192 Seiten. 17,95 €

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