Der Pop bleibt

Benjamin von Stuckrad-Barre: Auch Deutsche unter den Opfern
Von Nils Neusüß

Man muss sich von der Idee, Benjamin von Stuckrad-Barre sei ein sogenannter Popliterat, verabschieden. Das vergangene Jahrzehnt hindurch hatte man gehofft, er würde dort weitermachen, wo er im Jahre 1998 mit Soloalbum begonnen hatte. Zurecht kritisiert, vor allem für seine deutlichen Anleihen bei Nick Hornby und Christian Kracht, hatte er mit seinem Debut und seiner Selbstinszenierung dennoch geschafft, was von anderen Autoren schon lange aufgegeben wurde: deutsche Gegenwartsliteratur war endlich wieder populär.
Stuckrad-Barre kooperierte mit MTV, hatte dort seine eigene Sendung, las bei ›Rock am Ring‹, und schaffte sich so eine begeisterte, jugendliche Leserschaft. Auf der Welle des Erfolgs wurde noch ein zweiter Roman, Livealbum, und die Verfilmung von Soloalbum auf den Markt gebracht. Dann wurde es allerdings schnell still um ihn. Er veröffentlichte weiterhin Sammlungen bereits in Zeitschriften und Magazinen erschienenen Artikeln, Essays und Kolumnen. Damit konnte Stuckrad-Barre aber bei weitem nicht an seinen früheren Erfolg anknüpfen oder gar die in ihn gelegte Hoffnung erfüllen. Berichtet wurde bald ausschließlich über seinen öffentlich inszenierten medialen und körperlichen Zerfall.
Nun scheint er sich wieder erholt zu haben. Doch auch jetzt wird nicht über sein neu erschienenes Buch geschrieben, sondern über seine Late-Night-Show, bzw. die zuvor im Internet veröffentlichte Pilotfolge, in der Stuckrad-Barre es schafft, er hat es zugegeben auch leicht, den Aufreger des vergangenen Jahres, Thilo Sarrazin, zu entblößen.
Warum wird also über Auch Deutsche unter den Opfern kaum berichtet? Immerhin verspricht der provozierende Titel ebenso brisante Inhalte wie die neue Sendung. Es mag wohl daran liegen, dass es sich wieder nur um eine Sammlung seiner Artikel handelt – keinen neuen Roman. Zudem wirkt das, was in diesem Buch präsentiert wird, schon seltsam veraltet. Es beginnt sogar mit Sabine Christiansens Vorschau für das Jahr 2008. Einige Geschichten drehen sich um den vergangenen Bundestagswahlkampf.
Andere hingegen sind eindeutig zeitlos – so zum Beispiel Stuckrad-Barres Wintereindrücke, der kommt schließlich jedes Jahr wieder.

Das also ist der Winter, ›Klirrend‹ sei die Kälte, wird nun stets gesagt, und man muss nur vor die Tür treten, um die Berechtigung dieses Standard-Adjektivs nachzuvollziehen. Lautmalerisch erzählt es von gefrorenem Wasser und einer Luft, die sich hart anfühlt. Klirrend, ja das kommt hin.
Doch auch alles andere bleibt, wenn man noch einmal darüber nachdenken mag, trotz mangelnder Aktualität, zeitgemäß.
Zwar mögen einige der beschriebenen Akteure nicht mehr im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen (Frank-Walter Steinmeier), ihre Rolle in der Gesellschaft aber ist konstant und wurde zeitweilig einfach durch jemand anderen besetzt. Über andere Personen hingegen kann auch in ferner Zukunft noch geschrieben werden, weil sie einfach nicht verschwinden wollen (Günter Grass).
Auch wenn Stuckrad-Barre viele Politiker für seine Artikel begleitet hat, ein politisches Buch hat er dadurch zum Glück nicht geschaffen:
Weder habe ich schon entschieden, wen ich am 27.9. wähle, noch dächte ich im Albtraum daran, zur Wahl einer Partei aufzurufen, geschweige denn, politische Auftragskunst zu kreieren.
So schreibt er über das Angebot Cem Özdemirs, welcher ihn offenbar gebeten hatte, sich für seinen Wahlkampf und Die Grünen einzusetzen. Doch Stuckrad-Barre liegt es tatsächlich fern, Stellung zu beziehen. Er trifft Politiker aller großen Parteien und vermeidet es gekonnt, allzu einfache Angriffe gegen bestimmte Personen zu fahren: Er macht sich weder über Angela Merkels Frisur lustig, noch über die roten Haare Petra Paus von den Linken. Er beschäftigt sich nicht mit den jeweiligen Wahlkampfprogrammen, kann sich aber meist von reiner Oberflächlichkeit fernhalten. Er schafft beispielsweise einen erhellenden Blick auf Guido Westerwelle, weil er ihn unvoreingenommen, ohne Hinblick auf dessen mangelnde Englischkenntnisse, seine Vergangenheit als ›Spaßpolitiker‹ oder seine Homosexualität betrachtet:
Und das ist dann wirklich eine Überraschung: Für ihn, Guido Westerwelle, lieber keine Masken mehr. Die, das hat er schmerzlich erfahren müssen, bekommen ihm nämlich gar nicht gut.
Wie nebenbei beleuchtet Stuckrad-Barre nicht nur die Politiker, sondern auch deren Umfeld:
Jürgen Trittin schleicht vorbei, Westerwelle hebt entschuldigend seine hähnchenfettigen Finger, also diese Hände könne er ihm leider nicht geben. Man versteht sich parteiübergreifend gut. Claudia Roth, ein Sommerfest weiter, umarmt Westerwelle gar und überschüttet ihn mit Herzlichkeit: ›Deinen Mann, den find ich so toll!‹
Westerwelle: ›Ja, aber den kriegst du nicht.‹
Stuckrad-Barre bleibt meist Beobachter, beschreibt – nie ohne Humor – das politische Geschehen. Da ist er Hans Magnus Enzensberger sehr viel näher, als Günter Grass, die er beide mehr oder weniger trifft. Während er die Lesung des Nobelpreisträgers besucht und ihm vorwirft, er sei ein viel schlechterer Chronist als Walter Kempowski, verbringt er einen halben Tag mit Enzensberger, und gemeinsam nehmen sie den Münchner Wahlkampf auf die Schippe.
Neben seinen Abenteuern durch die Politiklandschaft, bekommt man noch reichlich von Stuckrad-Barre Bekanntes: Musik, Boulevard und immer wieder Stuckrad-Barre selbst. Das alles ist gewohnt amüsant, meist äußerst banal und selten wirklich bemerkenswert. Neben seinem winterlichen Tagebuch lässt sich zum Beispiel von seinem Entzug mit Hilfe Udo Lindenbergs oder einem monatlichen Plattenkauf lesen.
Auch wenn er die Literatur schon lange über Bord geworfen hat, dem Pop, in seiner besten Bedeutung, nämlich den Geschmack des Publikums zu treffen, ist er treu geblieben.
 
Benjamin v. Stuckrad-Barre: Auch Deutsche unter den Opfern. Köln: KiWi 2010. 336 Seiten. 14,95 €.

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