Sozialengagiertes Theater der Gegenwart

Nis-Momme Stockmann: Das blaue blaue Meer
Von Johannes Birgfeld


Nis-Momme Stockmann, Jahrgang 1981, ist unter den jüngeren deutschsprachigen Theaterautoren so etwas wie ein Shootingstar: Im Juni 2009 gewann er, bis dahin ungespielt auf deutschen Bühnen, beim Heidelberger Stückemarkt mit Der Mann, der die Welt aß den Haupt- und den Publikumspreis. Im Dezember folgte die Uraufführung in Heidelberg, am 22. Januar die Erstaufführung von Das blaue blaue Meer in Frankfurt und schließlich in Stuttgart im Februar Kein Schiff wird kommen. Seither wurde Stockmann im August 2010 in Theater heute zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gekürt und je eine Inszenierung seiner Stücke zu den Mühlheimer Theatertagen eingeladen bzw. in das Rahmenprogramm des Berliner Theatertreffens 2010 aufgenommen.
Stockmanns Texte sind bislang nicht in Buchform erschienen – darin teilen sie das Los vieler zeitgenössischer Dramen. Immerhin hat ein kleiner Verlag auf Föhr eine Einzelausgabe von Kein Schiff wird kommen angekündigt. Bis dahin bleibt der Stückabdruck von Das blaue blaue Meer in der Januar-Ausgabe 2010 von Theater der Zeit die einzige Möglichkeit, Stockmanns Dramatik lesend zu entdecken.
Mit Das blaue blaue Meer präsentiert sich Stockmann als Bühnenautor, der einem traditionellen Theaterkonzept folgt: Er gliedert zwar nicht in Akte, sondern in zwölf Bilder bzw. Szenen. Im Zentrum des Stücks aber stehen klar gegeneinander abgegrenzte Figuren, deren Handeln psychologisch motiviert ist. Sie bewegen sich in einem fiktionalen Raum, der erkennbar reale Lebensverhältnisse im sozialen Wohnungsbau spiegeln soll:

»Die Siedlung – ein gigantischer Sarg aus Stahlbeton. Nie Sterne am Himmel. [...] Als Menschen kommen sie rein, raus kommen sie verrückt, einsam und zerrissen« (Sz. 2).
Im Interview betont Stockmann, ihm gehe es »um die Inszenierung der Phänomene, die wir übersehen, weil ihr Vorkommen gesellschaftsstrukturell viel zu gewöhnlich ist« (S. 46). Ihn interessierten
»die vielen Geschassten und Tabuisierten in einer hierarchie-, geld- und kriegskultivierten Gesellschaft, die in ihrem tausendjährigen Feldzug fast alle sozialen Errungenschaften obszönisiert und/oder institutionalisiert«
habe (S. 46). Mit diesem Theaterverständnis bewegt sich der Autor erneut in traditionellen Bahnen. Es schließt an ein Konzept an, das John von Düffel vor zehn Jahren mit dem Begriff »Theater als soziales Gewissen« charakterisierte: Fokussierend auf »das soziale Engagement für die Unterdrückten und Entrechteten am sogenannten Rand der Gesellschaft« lege es den »thematischen Schwerpunkt auf Gewalt, Drogen, sex and crime« (Theater der Zeit, Oktober 2000, S. 17).
Zentrales Mittel der Umsetzung dieser Dramenpoetik bei Stockmann ist die Konzeption des männlichen Protagonisten Darko als Doppelrolle: Dieser, vermutlich in seinen frühen Zwanzigern, agiert einerseits als Erzähler, der im Rückblick die Vorgeschichte der einzelnen Spielszenen ebenso wie die Übergänge zwischen ihnen dem Publikum gegenüber erläutert, und andererseits als Hauptperson des gesamten Geschehens. Er ist sowohl eine Art Conférencier, der das Publikum durch die Handlung führt, als auch der Hauptdarsteller aller Spielszenen, mit denen sich seine Monologe immer wieder abwechseln. Auch ein solches Verfahren ist nicht neu, erlaubt Stockmann jedoch, zeitlich, räumlich oder kausal nicht unmittelbar verbundene Szenen zu reihen, solange diese vom Erzähler narrativ in einen Zusammenhang gebracht werden.
Stockmann nutzt dieses Verfahren, um in Das blaue blaue Meer drei Geschichten parallel zu entfalten, die zusammen ein Bild vom Leben im sozialen Wohnungsbau zeichnen. Da ist zunächst Darko – schon im Eröffnungsmonolog als heilloser Alkoholiker skizziert: »Ich saufe. Ich sauf mir den Schädel leer. Ich sauf so viel, dass sich mein Gehirn nach außen stülpt. [...] Ich saufe so viel, dass die Tage verschwimmen« (Sz. 1). Der Alkohol hat ihn bereits einen Fuß gekostet (Nekrose; St. 4), er verhindert ein ›normales‹ Leben (als Darko einen Zoo besuchen will, trinkt er vor Aufregung so viel, dass er noch im Eingangsbereich erbricht und des Geländes verwiesen wird; Sz. 5), und er bleibt Darkos Begleiter bis ins letzte Bild (Sz. 12). Auch Darkos Eltern sind Alkoholiker. Noch schlimmer aber: Wiederholt wird die Mutter schwanger, tötet ihr Neugeborenes und nötigt ihren Sohn, die kleinen Leichen zu vergraben (Sz. 8). Trotz allem hat Darko immerhin eine (symbolisch zu verstehende) Hoffnung: an einem Tag im Herbst sei der Himmel so klar, hat er gelesen, dass man die Sterne besonders gut sehen könne – vielleicht schienen sie dann sogar einmal auch über seiner Siedlung (Sz. 1).
Früh im Stück trifft Darko auf Motte, 19, »Wohnsiedlungsprostituierte«. Damit beginnt die zweite Geschichte des Stücks: boy meets girl. Stockmann erzählt sie als Liebe im Getto – und alles daran ist wohlvertraut: Beide sind vom Leben gezeichnet. Darko fehlen immer wieder die Worte; das Glück der Liebe überwältigt ihn, Alkohol gefährdet es, ebenso die Überlebenstugend, keinem anderen leichtfertig zu vertrauen. Mottes Körper ist von Narben verunstaltet, dafür sinnt sie auf Rache an einem Herrn Meese. Als der plötzlich und ohne Mottes Zutun stirbt, zerbricht auch die Liebe zwischen ihr und Darko. Warum, bleibt offen, doch legt das Stück nahe, dass die Last beider Leben schlicht zu groß gewesen sein könnte: in einer letzten Begegnung ist Darko stumm, in alte Sprachlosigkeit zurückgefallen (Sz. 10). Dann träumt er, wie auch Motte sich das Leben nimmt (Sz. 11).
Im Zentrum der dritten ›Geschichte‹ steht die Siedlung. Szene um Szene ergänzt Stockmann die Porträts des Alkoholikers und seiner scheiternden Liebe um Bilder und Berichte vom Leben im Getto. Die Siedlung scheint die Hölle selbst zu sein, kaputt sind Straßen und Körper (Sz. 1), Verrückte beschimpfen obszön die Passanten (Sz. 1), die vierzehnjährige Ulrike wird von ihrem Vater missbraucht (Sz. 4) und bringt sich um (Sz. 7). Hier essen Satanisten Nachbarskinder (Sz. 4), Ehemänner zünden ihre Frauen an (Sz. 6), ein Schwulenpaar entführt einen Jungen und lässt ihn verhungern (Sz. 6). Es gibt einen »einäugigen Hund mit einem schrecklichen Ausschlag« (Sz. 7), Babys werden erschlagen und vergraben. Und überhaupt – Darko staunt, dass die Zahl der Kinder auf dem Spielplatz zunimmt, »[o]bwohl so viele von ihnen wegkommen und erdrosselt auf Friedhöfen und in Parks rumliegen« (Sz. 7).
Stockmann ist offenbar um ein Theater des sozialen Engagements bemüht und nutzt zur Umsetzung dieses Konzepts erprobte Techniken: Er kombiniert ein Einzelschicksal und eine an der Welt scheiternde Liebesgeschichte mit einem panoramaartigen Porträt eines spezifischen Ausschnitts der Gesellschaft. Der Stücktitel, Das blaue blaue Meer, bezeichnet konkret eine Sehnsucht Mottes nach einem besseren Leben, sowie (überdeutlich) symbolisch, als Pendant zu Darkos Suche nach den Sternen in der Siedlung, unerfüllte Hoffnungen und Sehnsüchte dieser Beladenen. Auch eine solche Leitmotivik gehört zum festen Repertoire des Theaters, wenngleich mehr zum rührenden als zum aufrührenden oder aufklärenden.
Nun muss Theater nicht aufklärend sein. Doch Stockmann nimmt dezidiert für Das blaue blaue Meer in Anspruch, es solle ein Publikum wieder sehend machen, wo es blind sei. Doch genau an diesem Punkt fällt es schwer, den Reiz dieses Stückes zu entdecken. Denn wirklich nichts, was Stockmann über das Leben im Getto erzählt, ist nicht schon auf der Bühne, im Film und im Vorabendprogramm des Fernsehens zahllos oft so gezeigt worden. Keine neue Facette gewinnt das Stück dem Thema ab, im Gegenteil: So viele Verbrechen werden hier einer einzigen Siedlung zugeschrieben, dass das Stück an Glaubwürdigkeit verliert. Gewiss, Darko betont, wenn er die von der Mutter getöteten Kinder begrabe, sei er nicht, wie im Fernsehen in solchen Fällen behauptet, stumpf, sondern »schrill und spitz«: »Und ich leide« (Sz. 8). Wer aber weiß nicht, dass diese ›Täter‹ fast immer selbst Opfer von Biographien der Gewalt, des Alkohols, der Vernachlässigung sind? Und wem wäre folglich nicht bewusst, dass, wie im Stück wiederholt betont, die heillosen Zustände ein Skandal sind, die Frage der Schuld und Verantwortung aber keine einfachen Antworten generiert?
Ein weiteres dramaturgisches Problem tritt hinzu: Stockmann konzipiert Darko als Trinker, der seit Jahren täglich mehrere Liter Alkohol in sich ›hineinschüttet‹, der sich ›den Schädel leersäuft‹, so dass ihm schon die Zähne ausfallen. Gleichzeitig aber lässt Stockmann Darko mit dem Wortschatz und der analytischen Abstraktion eines Soziologen von »Präventive[r] Paranoia« (Sz. 4) und der »Konformitätsgravitation der Siedlung« (Sz. 2) sprechen und schreibt ihm Beobachtungen zu – »In einer realistischen Sicht auf die Dinge ist Hoffnung in einer solchen Situation doch nur eine Verlängerung des Schmerzes« (Sz. 7) – deren Reflexionsgrad sich mit Darkos täglichem Komasaufen kaum vereinbaren lässt.
René Pollesch hat in den letzten Jahren Theater, wie Stockmann es in Das blaue blaue Meer entwirft, als Repräsentationstheater bezeichnet und sich davon distanziert: »Ich könnte kein wichtiges Stück über oder für einen Fabrikarbeiter machen, der ein völlig anderes Leben führt als ich. Da müsste ich recherchieren, das halte ich für einen falschen Vorgang [...], [weil] man nicht von sich selbst erzählt« (Spiegel, 21.02.2005). Pollesch beansprucht keine Verbindlichkeit seiner Position für Andere. Sein Einwand erhellt jedoch ein potentielles Legitimitäts- und Schlüssigkeitsproblem einer engagierten Dramatik, das sich in den Klischees und Übertreibungen der Darstellung bei Stockmann zu spiegeln scheint. Auf die von Pollesch skizierte Herausforderung wäre wohl eine dramaturgisch komplexere Antwort zu geben, als Stockmann sie anbietet. 

Nis-Momme Stockmann: Das blaue blaue Meer. In: Theater der Zeit 1/2010, S. 46-56 
(incl. Gespräch mit Dorte Lena Eilers, S. 46). 6 €.

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