Ich bin noch da, ihr Schweine!

Clemens Meyer: Gewalten. Ein Tagebuch
Von Adrian Froschauer


Aua ist der simple und leicht nachvollziehbare Titel jenes Bildes Paule Hammers, das den Einband von Gewalten ziert. Ein schwarzer Nachthimmel, gespickt mit Hunderten weißer Punkte, und auf jedem steht in winziger Schrift »Aua« geschrieben. Zig Wehklagen, ein universeller Schmerzensschrei – wie dieses Buch?
Gewalten beschreibt Clemens Meyers Jahr 2009. »Mit all der Gewalt, dem Schmerz, dem Irrsinn, aber auch den lichten Momenten«, wie der Autor in einem Interview bekennt. Der Untertitel Ein Tagebuch ist jedoch irreführend. Das Tagebuch ist fiktionalisiert, es handelt sich viel mehr um eine Sammlung von Anekdoten und Erzählungen, episodenhaft und achronisch aneinandergereiht. Wie die unzähligen Flecken auf dem Einband sind sie nur lose miteinander verbunden, zugleich Einzelteile eines größeren Werkes.
Glaubt man dem Text, so hängt das erwähnte Bild in Meyers Wohnung an der Wand. Ob das der Wahrheit entspricht, ist unklar. Denn auch wenn das Buch als Tagebuch deklariert ist, kann doch den Autor Clemens Meyer mit seiner Figur gleichen Namens alles oder rein gar nichts verbinden.
Die Realität spielt ohnehin keine große Rolle in Meyers Welt. Tagträume, verworrene Erinnerungen und die gegenwärtige Wirklichkeit bilden eine Einheit und sind nur schwer von einander zu trennen. So unterhält sich beispielsweise Clemens Meyer im Buch mit einem verstorbenen Jugendfreund in einer von den Toten bevölkerten Bahnhofskneipe. Dort spielen sie gemeinsam Karten und erinnern sich an die Entfremdung, die Versöhnung und unregelmäßigen Besuche am Totenbett im malerischen sächsischen Bergland. Je länger das Gespräch andauert, desto mehr verschmilzt es mit den Erinnerungen.
Er legt Karten auf den Tisch, schiebt die Gläser zur Seite. Züge und Berge, Sommer, die Leute fahren an den See, Lautsprecheransagen und Menschen auf der Treppe, der Friseursalon ist dunkel und leer. »Eine Schande«, sage ich, »es ist eine verdammte Schande. Eine Frechheit, eine unglaubliche Frechheit! [...]
Was?« Er gibt mir fünf Karten. »DAS!« Ich kann es nicht begreifen und will es nicht akzeptieren, wie er da so liegt.
Die Unterhaltung in der Kneipe ist neben der Schilderung des Todes seines zweiten besten Freundes, des Hundes Piet, eine der sensibelsten und subtilsten Episoden. Doch Meyer kann auch anders. Das Spektrum reicht vom wirren Bewusstseinsstrom in der geschlossenen Anstalt über die atemlose Beschreibung eines Pferderennens bis hin zu so verstörenden Kapiteln wie dem – auf Feridun Zaimoglu anspielenden? – German Amok:
In einem fiktiven Computerspiel übernimmt Meyer die Rolle eines jugendlichen Amokläufers, der an einer Schule den höchstmöglichen ›Bodycount‹ erreichen muss. Die Kälte und Sachlichkeit, mit der Meyer Vorbereitung und Umsetzung des Massakers beschreibt, und vor allem das Verständnis, das er für den Täter aufbringt, machen das Kapitel besonders aufwühlend. Für den Erzähler ist und bleibt es ein Spiel, trotzdem wirkt es grauenvoll real.
Ein Bekannter hat mir mal erzählt, […] dass er beim ersten Mal einfach mit der Axt losgezogen ist, einfach nur die Axt unter die Jacke und dann rein in die Abiturprüfungen. Ich weiß nicht mehr, was der für einen Bodycount hatte, bevor sie ihn stoppen konnten, aber war schon beeindruckend. Aber ich finde, das ist Kinderkram, mit Axt und so.
Auch das Schreiben selbst kann gewalttätig und schmerzvoll sein, wie Meyer im Kapitel Im Bernstein verdeutlicht: Von einem mysteriösen Verleger aus Berlin erhält er den Auftrag, über den unschuldig im Militärgefängnis in Guantánamo Bay eingesessenen Murat Kurnaz, ein Drehbuch zu schreiben. Ein kurzer Informationsaustausch und »– Schnitt«.
Plötzlich befindet sich der Leser mitten im Schaffensprozess des Drehbuchs. Der Erzählrhythmus gewinnt stark an Tempo und die Beschreibungen fokussieren gleich einer wackeligen Filmkamera hektisch einen Eindruck nach dem anderen: Zoom, Schnitt, Nahaufnahme.
[U]nd ich denke, dass das doch – Schnitt. Ein Mann läuft durch eine Halle. Die Wände aus Stahl, der Boden aus Stahl. Ein gewaltiges Stampfen von irgendwoher, die Bodenplatten scheinen sich zu bewegen, heben sich, Dampf tritt aus, und der Mann wechselt die Richtung.
Die Erlebnisse von Meyers Hauptfigur Murat Kurnaz und die des Autors beim Verfassen des Drehbuchs sind immer schwerer auseinander zu halten. Fotos und Notizen an den Wänden zeugen von intensiver Recherche. Meyer wühlt sich geradezu in die Materie. Hier zeigt sich die offensichtlichste der zahlreichen Anspielungen auf Literatur und Film in Gewalten: Kurnaz, im Drehbuch nur noch K. genannt, durchlebt einen ähnlichen Proceß wie einst Kafkas Protagonist K., gefangen in den Mühlen eines komplizierten und ungerechten Systems. Doch Meyer selbst ergeht es ebenso. Er sitzt fest im Prozess des Schreibens, zu viele Ideen verwirren ihn und beginnen, seine Wahrnehmung zu verzerren.
Ich bin müde. Füge Bild an Bild. Der Parkplatz unten vorm Hotel ist fast leer. Nur ein Auto steht dort, genau in der Mitte des abgegrenzten Areals, gelbes Licht aus Laternen. K. sitzt auf der Rückbank. Seine Mutter neben ihm hält seine Hand, der kleine, dicke Anwalt, der ihn in Guantánamo besucht hat, auf der anderen Seite.
Stellenweise bemüht sich Clemens Meyer etwas krampfhaft um das Image des ›bösen Buben‹ der deutschen Literaturszene. Es geht um Sport, Verbrechen und Männerfreundschaften, Alkohol, Sex und Glücksspiel, Arbeitslose, Ganoven und Prostituierte – das alles in einem angebracht rauen Tonfall. Er vermeidet zwar elegant, in Klischees abzudriften; die selbstgewählte Rolle des intellektuellen Proleten zwischen Camus und Hemingway einerseits und dem Fußballclub Chemie Leipzig andererseits wirkt dennoch gelegentlich arg aufgesetzt. Andererseits befähigt dieser Charakter den Autor, die beiden Milieus, zwischen denen er hin- und herspringt, aus ungewohnter Perspektive zu beleuchten.
Meyer ist ein Geschichtenerzähler, der aus dem Leben gegriffene Fragmente, alltäglichen Schmerz, kleine Beobachtungen verarbeitet. Seine Stärke sind eindeutig die Kurzgeschichten nach amerikanischem Vorbild, wie er schon mit Die Nacht, die Lichter bewiesen hat. Mit Gewalten setzt er diese Tradition fort.
Doch dem Leser verlangt Meyer einiges ab: Ohne fundierte Kenntnisse des Tagesgeschehens 2009 in Deutschland ist es unmöglich, sämtliche Bezüge zu verstehen. Und bei jedem Lesen lassen sich neue Anspielungen auf moderne und jüngste deutsche und amerikanische Literatur, besonders aber auf Klassiker der Filmgeschichte wie M – Eine Stadt sucht einen Mörder oder 2001: Odyssee im Weltraum, entdecken – ohne, dass es so wirkt, als wolle Meyer bloß seine Bildung zur Schau stellen.
Die Sprache ist äußerst klar und verleiht den Geschichten mit nur wenigen Worten eine plastische Atmosphäre. Gewalten ist stellenweise schwer verdaulich und geradezu gewalttätig. Meyer zitiert im Text programmatisch Francis Ford Coppolas Aussage über dessen Anti-Kriegs-Epos Apocalypse Now: »My movie ist not about Vietnam. It is Vietnam.« Analog kann man sagen: Dieses Buch handelt nicht von Gewalt, es ist Gewalt.
Das Fazit der fast albtraumhaft anmutenden Reise durch das Jahr 2009 findet sich schon am Ende des ersten Kapitels, gebrüllt von einem verwirrten Meyer, der in der psychiatrischen Notaufnahme an sein Bett gefesselt ist: »Ich bin noch da, ihr Schweine!« Ein wütender Aufschrei, voll von trotzigem Lebenswillen, entgegen aller Widrigkeiten – wie dieses Buch.
Clemens Meyer: Gewalten. Ein Tagebuch. Frankfurt am Main: S. Fischer 2010. 224 S. 16,95 €.

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