Wer jetzt, wie jetzt? Wenn man das nur wüsste

Katharina Hacker: Alix, Anton und die anderen. Roman
Von Maike Elisa Schug

Lesern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist die 1967 geborene Katharina Hacker seit einigen Jahren ein Begriff: Erst gewann Hacker 2006 mit ihrem Roman Die Habenichtse den Deutschen Buchpreis und erreichte anschließend mit einer Verkaufsauflage von mehreren hunderttausend Exemplaren eine ungewöhnlich große literarische Öffentlichkeit. 2009 folgte dann, von den Feuilletons mit lautem Blätterrauschen wahrgenommen und als weiteres Signal für die Krise des Verlagshauses gedeutet, ihre spektakuläre Trennung von Suhrkamp. Grund für den Abschied von ihrem bisherigen Hausverlag war ihr vierter Roman: Alix, Anton und die anderen.
Von Hacker als erster Teil einer Trilogie angekündigt, ist Alix, Anton und die anderen auf den ersten Blick als ein ungewöhnliches, als ein experimentelles Buch zu erkennen: Der Roman ist in zwei Spalten gedruckt. Eigentlich waren zwei gleich breite vorgesehen, aber entgegen Hackers Vorstellung entschied der Verlag, die eine breiter als die andere zu drucken. Warum sich Suhrkamp derart gegen seine Autorin stellte, einen Streit in Kauf nahm und letztlich auch Hackers Ausstieg aus der Zusammenarbeit, ist nicht nachvollziehbar: Die ungleichen Spalten vermitteln ein falsches Bild und marginalisieren den in der schmaleren Spalte gedruckten Teil der Handlung.
Hackers Buch ist in jedem Fall eine Herausforderung für den Leser. Eine passende Lesetechnik muss schließlich erst gefunden werden: Beginnt man mit einer Spalte und liest diese bis zum Ende des Buches, oder doch nur bis zum Ende eines Kapitels, blättert dann wieder zurück, um mit der nächsten zu beginnen? Die Form zwingt den Leser zur Entwicklung eines Systems. Hat man eines gefunden, kann man es schaffen, sich in der Welt von Alix, Anton und den »anderen« zurechtzufinden. Einen Anspruch auf Bequemlichkeit sollte man nicht stellen, das ist auch offensichtlich nicht Hackers Ziel.
Alix lebt zusammen mit ihrem Mann Jan in Berlin. Das kinderlose, erfolgreiche Ehepaar, beide Mitte 40, könnte eigentlich, so der Tenor der Erzählung, ein zufriedenes Leben inmitten ihrer besten Freunde führen. Diese sind Bernd, homosexueller Buchladenbesitzer ohne Partner, und Anton, Arzt, ebenfalls ohne Partnerin.
Zufrieden aber sind sie nicht. Sie führen vielmehr ein ebenso verstricktes wie eintöniges und unglückliches Leben. Sie wünschen es sich anders, oder vielmehr: Sie haben es sich irgendwann einmal anders gewünscht. Denn kann man in der Mitte des Lebens wirklich noch grundlegende Dinge ändern? Eher nicht, antwortet der Roman und beobachtet seine Protagonisten, »[w]ährend sie dabei waren, sich abzufinden mit dem, was unausweichlich war, mit dem Tod«.
Kern der Unzufriedenheit ist die Kinderlosigkeit. Alix hatte sich Kinder gewünscht, Jan befürchtete dabei, auf der Strecke zu bleiben. Außerdem spielt seine offenbar unbewältigte Vergangenheit eine entscheidende Rolle, seine »verlorene Kindheit«, wie er sie aufgrund des frühen Unfalltods seiner Eltern empfindet. Er erträgt »den Gedanken nicht, zuzusehen, wie jemand mit der Liebe und Geborgenheit bedacht wurde, die er entbehrt zu haben glaubte«. Diskussionen gibt es darüber keine mehr. Sprichwörtlich: Dieser Zug ist abgefahren. Die Unzufriedenheit bleibt. Für Jan ist es »der Abgrund der Einsamkeit, [...] sie zu täuschen und zu begreifen, daß er seine Befürchtungen nie mit ihr teilen würde, daß seine Entscheidung unwiderruflich war, daß sie nie eins sein würden. Denn er wollte kein Kind«.
Zu den »anderen« gehören auch Clara und Heinrich, Alix’ Eltern. Sie führen eine auf den ersten Blick funktionierende Ehe, fungieren damit für Alix und ihr Umfeld sogar als Vorbild. Tatsächlich aber sind auch Clara und Heinrich unzufrieden. Über den Tod ihres Sohnes Friedrich kam Clara nie ganz hinweg. Er ertrank als Kleinkind, noch vor Alix’ Geburt, in einem Moment der Unachtsamkeit. Hinzu kommt die emotionale Entfernung zwischen ihr und Heinrich, die sie als »unermesslich« empfindet, und die Bürde des Alters: »Sie war alt und wußte, [...], daß zunehmend die Freiheit sich dem Tod anähnelte: Die Freiheit bestand in Gleichmut und Leere«.
Heinrich seinerseits ist den Alltag mit seiner Ehefrau leid. Er erfindet Arbeit in seiner Anwaltskanzlei, um nicht nach Hause zu müssen. Einen Sinn für Familie hatte er im Grunde sowieso noch nie, »immer wenn er von Kindern, von Familie, von Zuneigung oder Lieben sprach, war darin ein Zug Verächtliches, der Hinweis auf eine Schieflage, von der man sich freihalten sollte, wenn man es denn konnte«. Dann aber verliebt er sich in Mai Linh, Besitzerin des vietnamesischen Restaurants, das Clara, Heinrich, Alix, Jan, Bernd und Anton eines Sonntags zusammen besuchen. »Aber er war fast achtzig Jahre alt. Ein alter Mann mithin, der keinen Anlaß hatte, sich zu verändern. Ein alter Mann seines Standes verliebte sich nicht mehr«, sagt sich Clara, und erst jetzt wird ihr bewusst, wie sehr sie leidet.
Alix ist Dreh- und Angelpunkt dieser Gemeinschaft, sie hält die Freunde zusammen, obwohl sie als labil und sensibel gilt. Das schafft sie durch Empathie, Gutmütigkeit und Geduld – Eigenschaften, die den anderen teilweise fehlen, die zu deren Unzufriedenheit beitragen und die zugleich Alix selbst helfen, mit dem unerwünschten Ablauf ihres Lebens klar zu kommen.
Mai Linh schließlich ist Protagonistin des parallelen Erzählstrangs. Sie wohnt mit ihrer einst mafiaverfolgten Familie in Berlin. Man erfährt neben der Liebelei mit Heinrich von den Konflikten ihrer Familie und der Notlage ihrer Existenz. Leider werden Mai Linhs Geschichte und ihre Probleme nur angerissen und nicht wirklich zufriedenstellend ausgeführt.
Eine Frage scheint in der Geschichte zentral – die nach dem Fatum, oder anders formuliert: die nach dem Sinn des Lebens. Leben weitergeben stiftet Sinn, Kinderlosigkeit ist es aber, die Alix und die Menschen um sie herum kennzeichnet, jeden auf eine eigene Art. Wo also den Sinn des Lebens finden, wenn es eigentlich keine Wege mehr gibt? Die im Text ständig zu spürende Unzufriedenheit wird so immer wieder im Zusammenhang mit der Kinderlosigkeit widergespiegelt. Clara sagt passend: »Vom Leben blieb nichts wenn man es nicht weitergab. Dazu war das Leben da, daß man es weitergab, weniger wie etwas Heiliges als wie etwas, an dem man sich die Finger verbrannte«. Kinder stiften Sinn, da sie im Leben eine unvergleichlich wichtige Aufgabe vergeben und dem eigenen Dasein eine Berechtigung bieten.
Katharina Hacker erzählt eine Geschichte, die Vergänglichkeit und Willkürlichkeit, die fehlende Kontinuität des Lebens spiegelt. Formal realisiert wird dies durch die zwei Spalten. Dem Leser wird der kritische Blick auf die Welt aufgezwungen. Der die Figuren begleitende Gedanke: Wie lebe ich, wie soll ich leben? wird als Aufgabe an den Leser weitergegeben: Wie lese ich, wie soll ich lesen?
Mühsam ist der Versuch, die Geschichte auf eine gerade Linie zu bringen. Nicht nur die formale Hürde der Spalten, auch Katharina Hackers Sprache in ihrer syntaktischen und erzählerischen Eigenart, erweist sich als schwierig. So bleiben, zum Inhalt passend, die Sätze manchmal unvollständig ohne ein Verb. Außerdem fällt es schwer zu erkennen, wer gerade erzählt oder über wen erzählt wird. Die Handlung verläuft sich so in einem Gewebe aus Stimmen und Perspektiven. Orientierung und Verstehen misslingen – Verwirrung dominiert nicht nur im Buch sondern bedauerlicherweise auch beim Lesen.
Die Themen um Tod, Gewalt, Vergänglichkeit und Enttäuschung sind eindringlich, dazu ausgedrückt in Hackers unverblümter Sprache. Ein experimenteller Roman, der sich postmoderner Elemente bedient. Unterhaltung auf ausgetretenen Wegen bietet dieser Text nicht – das Lesen soll nicht einfacher sein als das Leben selbst. Katharina Hacker verpackt empfindliche Themen kompliziert und undurchschaubar. Die Geschichte soll in jeder Nuance das wahre Leben sein. Das ist gelungen. Der Komplexität des Lebens wird sie durch Stil und Form gerecht, ein Mehrwert zu konservativen Lesegewohnheiten. Doch leider wirkt Hackers Romanprojekt oft zu bemüht experimentell. Die Sprache verhindert mitunter mehr, als sie gibt. Es besteht die Gefahr, dass hier die Arbeit nicht nur vor dem Vergnügen kommt, sondern dass sie das Vergnügen gänzlich verdrängt.

Katharina Hacker: Alix, Anton und die anderen. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009. 126 S. 19,80 €.

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