Alphabetisierung der Abgründe

Franz Dobler: Letzte Stories. 26 Geschichten für den Rest des Lebens
Von Nils Neusüß


Es sind natürlich nicht die Letzten Stories, wie der Titel der Kurzgeschichtensammlung von Franz Dobler androht. Nach ihnen ist nicht alles gesagt, und Dobler versucht zum Glück auch gar nicht, dem Leser die Welt zu erklären. Umso seltsamer scheint dann allerdings der Aufbau der Sammlung: Dobler war sich offenbar nicht zu schade, die Erzählungen alphabetisch zu sortieren – was dann eben auch zu so wunderbar unsinnigen Titeln wie Yang und X-Beine führen musste – und diese Entscheidung dann mit dem Prädikat »ABC des Lebens« zu rechtfertigen.
Wie es sich für Kurzgeschichten gehört, handelt es sich um Momentaufnahmen. Größtenteils Abgründe der Gesellschaft, also die interessanten Bereiche, werden kurz angerissen, bleiben unklar und rätselhaft, und erläutern nichts, schon gar nicht das Leben.
Die Geschichten, die Dobler teilweise für eine Kolumne schrieb und auch dort bereits veröffentlichte, sind angenehm heterogen gestaltet. Autor und Erzähler sind dabei nur selten nicht zu unterscheiden.
Hervorragend sind die Geschichten, wenn tatsächlich etwas erzählt wird, wenn es sich nicht um (scheinbare) Erlebnisse des Autors handelt, sondern um ferne Fiktionen. Wenn Dobler etwa in Elvis den King aus dem Jenseits über Frank Sinatra herziehen lässt und dabei ein seltener und dafür umso gewaltigerer Regenguss über Las Vegas eine bestechende Atmosphäre schafft, dann macht es Spaß, seinen Ideen zu folgen.
Besonders gut funktioniert auch Helden: Ein Mann, offenbar Autor, sitzt friedlich und als einziger Gast in einer Bar, klammert sich an seinen Drink, lauscht den behutsamen Tönen von Coleman Hawkins, und ist zufrieden mit sich und der Situation. Bis der Barkeeper alles zerstört, indem er ihn anspricht, ihm ein Gespräch aufzwingt. In dieser und einigen anderen Geschichten erschafft Dobler eine zeitlose Eleganz, ohne dabei in Beliebigkeit abzudriften. In solchen Momenten kann er wunderbare Bilder erzeugen, die weit ab von dem inzwischen in der deutschen Gegenwartsliteratur manifesten Alltagslamento sind.
Leider jedoch driften in genau diese Kakophonie der Egalität auch einige der Stories Doblers ab, und zwar meist dann, wenn Dobler versucht, einen typisch deutschen Zustand zu kritisieren oder zu karikieren. Dies will ihm nicht so recht gelingen: Es wirkt aufgesetzt, übertrieben und belanglos, weil die Schwarzmalerei zum Thema Bundesrepublik auch wirklich allen zu den Ohren wieder herauskommt. So versucht der Erzähler in Doof in einem an Thomas Bernhard erinnernden Erzählduktus in misanthropischen Tiraden über das Publikum eines Biergartens herzuziehen, nur um sich dann am Ende selbst auch anzugreifen, weil ja auch er ein Teil dieses Biergartens ist.

›Du kannst über unseren neuen Ministerpräsidenten sagen, was du willst, aber er will‘s wirklich wissen.‹ Genau an dem Punkt, und ohne eine nennenswerte Ergänzung, blieb dieser die-Bürokratie-ist-ja-wohl-nicht-an-allem-schuld-Typ, der nur einen Wunsch in mir weckte, nämlich, in die Deutsche Demokratische Republik flüchten zu können, eine Stunde lang hängen.
Es ist ja verständlich, dass eine solche Aussage zu Wutausbrüchen verleiten kann, aber wirklich darüber echauffieren muss man sich nicht, schon gar nicht, wenn sie an einem so berechenbaren Ort wie einem bayrischen Biergarten gemacht wird; in einem Links-Alternativen-Zentrum beispielsweise wäre die Situation womöglich schon interessanter gewesen.
Aber auch diese furchtbar berechen- und durchschaubaren Ergebnisse sind, zum Glück, schnell vorbei. Durchschnittlich zwei bis drei Seiten umfassen die Stories, was in der Summe, selbst wenn man jeden Buchstaben des Alphabets eine Geschichte widmet, zu einem recht schmalen Büchlein führt. Dodlers Anordnungs-System, die alphabetische Sortierung, wird von ihm auf interessante Weise noch einmal in der gleichnamigen Geschichte aufgegriffen, und steht dort prototypisch für die restliche Sammlung: »Albert ließ Birgit ins Bett [...] Christian konnte Doris nicht wiederstehen [...] Friedrich wurde von Erika verführt«.
Denn darauf läuft, nicht nur bei Dobler sondern, ganz richtig von ihm beobachtet, auch im Leben, doch alles wieder hinaus: das Zwischenmenschliche, die Liebe, die Hormone, der Sex. Er scheut nicht vor obszönen Umschreibungen oder politisch unkorrekten Begriffen zurück:
Oskar vögelte Naomi, die das Wort vögeln nicht leiden konnte, aber selbst kein besseres auf der Pfanne hatte und Pussy noch schlimmer fand, weil das nach Britpop mit deutschen Texten klingen würde, der nicht die Eier hätte wie Motörhead zu klingen.
Überhaupt spielt Musik immer wieder eine Rolle. Der Johnny Cash-Biograph schafft es, sich mit seinen Zitaten und der ungeschönten, oft vulgären Sprache einer jugendlichen Subkultur anzubiedern. Aber dies wirkt nach den ersten Geschichten nicht mehr originell, sondern leider sehr aufgesetzt.
Das ist alles dank der Kurzweiligkeit der Texte gut zu ertragen, aber eben auch schnell wieder zu vergessen. Es wäre zu wünschen, dass Dobler sein Talent den Untergrund, egal welchen, zu beobachten und zu ästhetisieren mehr nutzen würde, und nicht durch Allgemeinplätze und Tiraden vergeuden würde. Die stimmungsvollen Szenen, die er augenscheinlich wunderbar erschaffen kann, haben mehr Aufmerksamkeit verdient und würden sich lohnen weiter ausgebaut zu werden.

Franz Dobler: Letzte Stories. 26 Geschichten für den Rest des Lebens. Berlin: Blumenbar 2010. 168 Seiten. 17,90 €.

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