Alpengrauen

Alice Schmid: Dreizehn ist meine Zahl
Von Christoph Hümpfner


Die Kindheit ist eine Zeit voller Naivität und voller Magie. Alice Schmid erzählt eine Geschichte, in der beides mehr in Schatten als in Licht gehüllt ist.
Von außen betrachtet lebt die neunjährige Lilly wohlbehütet in einem kleinen Dorf in den Schweizer Alpen der 1950er Jahre. Doch nicht nur ihre Familie ist höchst dysfunktional, sondern das halbe Dorf scheint – ganz wie in einer naturalistischen Milieustudie – von Aberglauben, Alkohol und Missbrauch durchzogen zu sein. Als jüngstes von drei Geschwistern steht Lilly unter extremem psychischem Druck. Dies zeigt sich an ihrem unkontrollierbaren Einnässen am helllichten Tag wie an Schluckbeschwerden. Ihre Mutter, sichtlich unzufrieden mit ihrer familiären Lage, leidet unter starken Stimmungsschwankungen, in deren Konsequenz sie ihre Tochter züchtigt und hungern lässt. Zudem darf Lilly keine langen Haare tragen und bekommt stets eine Frisur, die sie selbst mit der der Insassen einer nahegelegen Anstalt vergleicht. Dennoch ringt die Protagonistin um die Aufmerksamkeit und Liebe der Mutter: »Meine Mutter ist für mich die Größte. Sie dürfte mich immer hauen. Alles gäbe ich für sie, wenn sie mich nur liebhat«. Auch Res und Dora, ihre älteren Geschwister, behandeln Lilly wenig fürsorglich, nötigen sie sogar nachts, sie manuell zu befriedigen. Der Vater schließlich lebt fast einzelgängerisch in der Familie. Neben seiner Arbeit widmet er seine Zeit der Erfindung von Nylonstrümpfen. Er schweigt fast immer, entgleist dafür manchmal umso mehr. Trotzdem bleibt er zuhause Lillys einziger Verbündeter und Unterstützer.
Schweigen dominiert das Geschehen im Dorf: Als bekannt wird, dass Lillys Schulfreund Ueli von seinem verwitweten Vater sexuell missbraucht wird, wagt kaum jemand, dies zu kommentieren. Alle Fremden hingegen stehen automatisch unter Verdacht, »Kindesentführer« oder »Kinderschänder« zu sein, selbst ein für die Region engagierter Reporter. Die Züchtigung der eigenen Kinder ist dabei in den Familien noch Gang und Gäbe. Auch der nicht ganz aufgeklärte Tod von Lillys Großvater fällt unter das Gebot des Schweigens. Bigotterie ist an der Tagesordnung.
Akkordeon darf Lilly zunächst nur stumm spielen, um ihre Familie nicht zu stören. Das ist bezeichnend für ihre Situation, in der Leben allein im Verborgenen gestattet ist. Jede ihrer Unachtsamkeiten und jeder unbedarfte Streich können drakonische Strafen nach sich ziehen. So verheimlicht sie vieles. Das hat im Fall einer Blutvergiftung, die sie sich mit einem Füllfederhalter zuzieht, fast fatale Folgen: »Sie würden meinen, ich wolle mich wichtig machen«.
Wirklich gemütlich findet es Lilly nur bei den protestantischen Großeltern und deren Katze. Diese entsprechen wohl in ihrer bäuerlichen Wärme am ehesten dem gängigen Idyll des Almlebens: Dort scheint die Sünde fern.
Die Zeit der 1950er Jahre ist geprägt von straffer Ordnung, Maulkorb und Scheuklappen der Religion, sowie von gesellschaftlicher Engstirnigkeit. Dabei spielt auch die konfessionelle Spaltung eine Rolle:
Bei uns auf dem Napf läuft alles verkehrt. Wer auf der Hinterseite des Berges lebt, ist Berner Protestant. Wer vorne lebt, ist Katholik und gehört zum Kanton Luzern.
Der Dorfpfarrer versucht eifrig, Lillys Mutter zum Katholizismus zu bekehren. Als die Konversion vollzogen ist, wird die Erziehung gleich strammer:
Am Abend betet Mutter mit uns zur heiligen Maria an der Wand. Es ist vorbei mit dem Kasperlespiel, keine Geschichten mehr über die Änzilochjungfrau.
So wird Lilly von ihrer Mutter eingetrichtert, sie habe »ein schwarzes Herz«. Verstärkt durch die Gottesfürchtigkeit der Gemeinde entsteht ein permanentes Schuldgefühl.
Um dem unfreundlichen Zuhause zu entfliehen, ziehen sich die Kinder ins Freie zurück. Lilly und ihre Freunde suchen oft eine Linde auf, vertrauen dem Baum ihre innersten Sorgen und Wünsche an.
Hier oben sitze ich gerne. Es riecht so süß, wenn der Wind in die Blätter geht. Wir glauben, was Fräulein Sidler uns sagt: Baumstämme haben heilende Kräfte und machen Wünsche wahr.
Dieser Ort wird für die Kinder zu einer Art Naturbeichtstuhl, fernab der Zwänge der Institution der Kirche. Die ihrerseits dämonisiert die Natur: Das Änziloch und dessen Jungfrau dienen der Gemeinde als Schreckgespenst gegen moralische Abweichler. Die Kinder sehen es daher als Mutprobe an, sich der unheimlichen Schlucht zu näheren. Der kirchliche Beichtgang wird zur sozialen Pflicht. Lilly bringt ihn nur hinter sich, um ihr weißes Kommunionkleid tragen zu dürfen.
Alice Schmids Sprache versucht sich an kindlicher Einfachheit, versetzt mit Begriffen aus dem Schwyzerdütsch. Im Anhang befindet sich sogar ein Glossar, das allerdings unvollständig ist. Die Ich-Erzählerin schildert in ihrer Naivität eine Welt, deren Mechanismen sie noch nicht durchschauen kann. Die Autorin forciert die Gleichzeitigkeit des Erzählens: sie schreibt im Präsens, oft wird das Geschehen als innerer Monolog geschildert. Dies trifft vielleicht nicht immer den richtigen Ton, bleibt aber stimmig. 
Der Roman ist in dreizehn Kapitel unterteilt, deren Länge stark variiert. Die Zahlensymbolik steht dabei auch zentral für das magische Denken Lillys: »Seit ich zählen kann, zähle ich. Das hilft«, so beginnt das erste Kapitel. »Soll mir niemand sagen, zählen tue nicht gut, wenn so etwas Schönes am Himmel passiert«, so endet das letzte Kapitel. Es ist Lillys Art, sich die Welt erträglich zu machen.
Das Geschehen im Dorf wirkt stark klischeehaft gezeichnet. Die Gesellschaft des Bergdorfes erscheint als unbequeme Nachbarschaft, wo sich ein Josef Fritzl und ein Wolfgang Priklopil gegenseitig Gute Nacht sagen können. Da Autorin und Geschehen in der Schweiz angesiedelt sind, kommen immerhin die sonst in der medialen Aufarbeitung der Nachkriegszeit so präsenten Altnazis nicht vor. Auf der anderen Seite sind viele dieser Missstände noch heute in einigen Gemeinden aktuell. Der Verlust der kindlichen Illusion, die erwachende Jugend mit ihrem Forschergeist sind bleibende Themen, die hier in ihrer soziokulturellen aber auch historischen Einbettung eine markante Erzählung ergeben. Und selbst in dieser infantilen Tragik findet sich ein Funken Hoffnung. Die Zeit wendet manches zum Besseren, und das Dorf ist nicht die Welt.

Alice Schmid: Dreizehn ist meine Zahl. Roman. München: Nagel & Kimche 2011. 160 Seiten. 15,90 Euro.

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