Philosophie zum Nichtanfassen

Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg
Von Tanja Begon

Mit dem Titel ihres neuen Romans Blumenberg lässt Sibylle Lewitscharoff keinen Zweifel am Gegenstand ihres Romans: Er ist eine Hommage an den 1996 verstorbenen Philosophen, den sie in dieser Geschichte mit einem Löwen in sein Arbeitszimmer und damit gleichzeitig vor ein ernst zu nehmendes Rationalitätsproblem setzt:
Blumenberg hatte gerade eine neue Kassette zur Hand genommen, um sie in das Aufnahmegerät zu stecken, da blickte er von seinem Schreibtisch auf und sah ihn. Groß, gelb, atmend; unzweifelhaft ein Löwe. Der Löwe sah zu ihm her, ruhig sah er zu ihm her aus dem Liegen, denn der Löwe lag auf dem Bucharateppich, in geringem Abstand zur Wand.
Doch so einfach wie er da ist, so wenig ist er zu greifen. Angst hat Blumenberg keine vor ihm, natürlich nicht, er ist ein »Tröster«, ein »Mutgenerator« und vor allem eine »Ehre«. Darin sind sich Blumenberg und die Ordensschwester Käthe Mehliss, der er auf einem seiner wenigen Ausflüge begegnet, einig. Sie ist neben ihm die einzige, die den Löwen überhaupt sehen kann. Ein metaphysischer Löwe also, der aber Haare und Geruch in Blumenbergs Zimmer hinterlässt, was lediglich niemand bemerkt. Die Selbstverständlichkeit mit der Lewitscharoff seine Anwesenheit mit ihrer Sprache erschafft, lässt »alle erkennungsdienstlichen Fragen nach seinem ontologischen Status« in der Tat kleinlich erscheinen, wie Ijoma Mangold in Die Zeit ganz treffend bemerkt.
Dann gibt es noch vier Studenten, die wenigstens spüren, dass Außergewöhnliches vor sich geht, als der Professor von dem Löwen durch die Vorlesung begleitet wird. Der Vorlesungssaal ist der Raum, der ihrer aller Leben fest miteinander verknüpft. Im Zuge ihrer Identitätsfindung wählen sie den verehrten Professor zum Prüfstein, legen dabei aber sein idealisiertes Bild so streng an, dass sie davor kaum bestehen können. Ironischerweise verliert dieser seine Studenten immer weiter aus dem Blick und ahnt von der Wucht seiner Präsenz in ihren jungen und kurzen Leben nichts, wie sich zeigen wird:
Isa, Tochter wohlhabender Eltern, ist verliebt in den Professor, verliert die Bodenhaftung und stürzt sich von einer Brücke in den Tod. Blumenberg weiß wohl um die junge Frau, die stets in der ersten Reihe seiner Vorlesung lauscht, bringt ihr plötzliches Verschwinden jedoch nicht mit der Zeitungsmeldung über den Suizid einer Studentin in Verbindung. Zurück bleibt ihr Begleiter Gerhard, der von seiner Mutter mit dem Wunsch ins Leben geschickt wurde, er möge doch ein »Buchmensch« werden. Zwar gelingt seine akademische Karriere, aber auch ihn ereilt der frühe Tod in Form eines Hirnschlags. Sein Freund Richard flüchtet vor seiner Dissertation nach Südamerika. Was als Auszeit geplant ist, wird zu einer Übung im Loslassen, bei der ihm letztlich auch sein Leben abhanden kommt. Auch der Gedichte rezitierende, egozentrische »schöne« Hansi, der später in seinem Leben dem ihm eigenen, unerklärten aber stetig wachsenden Weltzorn nur noch als Schreier auf dem Bahnhof Ausdruck verleihen kann, haucht recht jung sein Leben aus. Es steht die Frage im fiktiven Raum, ob die Behauptung Wittgensteins, »all diese Tode wären jeweils ein ganzes Leben wert gewesen«, am Platze sei: »Das Gegenteil könnte genauso gut der Fall sein – der Tod hat keinen Wert, das Leben allen.« Der Erzähler, der derart schwerwiegende Fragen in diesen Raum stellt, bleibt die Antwort schuldig, nimmt sich aber selbst ganze Kapitel heraus, in denen er über seine eigene Profession räsoniert.
Durch geschickte Perspektivierung schafft der Erzähler es, seine Charaktere scheinbar handfest zu zeichnen. Dass aber beispielsweise Isa den folgenschweren und drastischen Schritt von der Brücke wählt, wie ein Engel weiß gekleidet, überrascht dann doch und bleibt merkwürdig rätselhaft. Auch der Grund, aus dem Richard in einem Hinterhof in Manaus erstochen wird, bleibt ein Rätsel – auch ihm selbst. Der Erzähler genießt seine Macht, »Buchstabenleben« zu erschaffen und auszulöschen, bindet diese aber gleichzeitig an die Faktizität ihrer Geschichte:
So viele Tode verhältnismäßig junger Menschen. Man wird einwenden, der Erzähler hätte besser daran getan, Verzicht zu üben und nicht mit einer solchen Häufung aufzuwarten [...]. Ein Erzähler hat aber die Pflicht, auch das Unwahrscheinliche wahrheitsgetreu zu verzeichnen. Möglichst knapp. So wurde in der Geschichte nun mal gestorben, und so wurde es eben festgehalten.
Aber eben genau mit dieser lakonischen Feststellung schafft Lewitscharoff es, dem Löwenstück, das sie sich vorgenommen hat, gerecht zu werden. Zwar zieht sie das Leben des realen Philosophen in ihren Roman, entkleidet ihn aber seines Vornamens, verzichtet weitgehend auf authentische Zitate Blumenbergs und nähert sich ihm über sein Werk. In erster Linie, indem sie ihm eben jenen Löwen vorsetzt. Der ist nämlich Namensgeber und Objekt seiner 2001 posthum veröffentlichen Sammlung von Reflexionen über Löwen in Literatur und Kunst.
Mit ihren zahlreich eingestreuten und teils witzigen Anspielungen und Querverweisen schreitet sie leichtfüßig über die Bezüge zur realen Welt hinweg und vermeidet damit die Schwere, die dem Roman seiner Themen wegen drohen könnte.
Ganz im Sinne des bewunderten Philosophen, dessen Werk sich um Mythenbildung und Weltbemächtigung in Form von Sprache, genauer gesagt von Metaphern drehte, verweigert sie endgültige Wahrheiten. Die Autorin schafft eine Welt, deren Subjektivität außer Frage steht, mit einer pointierten und völlig klaren Sprache und überführt so das philosophische Programm Blumenbergs gekonnt in Poesie. Angesichts der Probleme des Romanpersonals, nicht zuletzt auch seiner Sterblichkeit, wird Gewicht keineswegs vermieden. Aber Lewitscharoff verweigert eine umfassende Sinnkonstruktion, die ihre Dringlichkeit im ›Innern der Höhle‹, in der sich die Figuren nach ihrem Tod noch einmal treffen, in dem Maße verliert, wie sich Sprache und Gedanken in Trägheit auflösen. Lewitscharoffs Bedeutungsnetz bleibt federleicht, vielleicht sogar so leicht, dass es reißen könnte, wenn man allzu fest versuchte, es zu fassen. Aber folgen wir doch dem Beispiel Blumenbergs, der der Versuchung, den Löwen anzufassen, widersteht und sich diese »Handprobe« aus gutem Grund versagt.

Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. Roman. Berlin: Suhrkamp 2011. 221 Seiten. 21,90 Euro.

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