Aus dem Blickwinkel des Kakadus

Martin Mosebach: Was davor geschah
Von Christian Rhein

Am Anfang des Romans stehen für den Erzähler, fünfunddreißig, Bankangestellter, ein neuer Job, eine neue Wohnung und ein neuer Nachbar – ein gewisser Freiherr von Sláwina, der außerhalb seiner Wohnung nicht zu existieren scheint. Von seiner Gegenwart zeugen nur ständig wechselnde Gäste, Klavierklänge und die Überreste einer Wegwerfgesellschaft, die den Flur versperren:
Vor der Tür standen jetzt übelriechende Mülltüten, die auch Pizzakartons mit angenagten Resten enthielten. Im ganzen Treppenhaus verbreitete sich der Geruch der gewürz- und ölgetränkten Pappkartons, die alte Frau, die nur selten da war, mußte ausgerechnet von ihrer Reise nach Hause kommen, als diese kalte Pizzawolke im Treppenhaus hing.
Martin Mosebach, Jahrgang 1951, hat auch in seinem neuen Roman (man lasse sich von der alten Rechtschreibung nicht täuschen), wie auch in dessen beiden Vorgängern Der Mond und das Mädchen und Die Türkin, seine Heimatstadt Frankfurt mit ungewöhnlich gewöhnlichen Helden bevölkert.
Für den Erzähler beginnt in Frankfurt ein Leben, das nicht nur ihm zunächst unwirklich erscheint: Sonntag für Sonntag findet er sich mit schöner Regelmäßigkeit am Pool einer Frankfurter Industriellenfamilie wieder, umgeben von Wesen, die in ihrer Gesamtheit an Ralph-Lauren-Werbeposter erinnern; Champagner, hors d’oeuvres und überall Getuschel und Halbwahrheiten. Eher zufällig wird er in eine Gesellschaft eingebunden, aus der er einfach nicht schlau wird. Gastgeber sind die Hopstens, in deren Dunstkreis sich ein ständig wechselndes Ensemble mit einem kleinen, festen Kern bewegt: Da ist das Ehepaar Schmidt-Flex, dem Diplomatenkorps aus besseren Zeiten zugehörig, das jetzt seinen Ruhestand genießt, sich aber immer noch bester Kontakte erfreut. Ihr Sohn Hans-Jörg ist die Art Mensch, die vor den Augen ihrer erfolgreichen Väter per se nicht bestehen können, und gerade deshalb umso verzweifelter deren Anerkennung suchen. Salam, der Unternehmer, der sich mit seinem schmierigen Anbandeln stets selbst ins Abseits befördert und Phoebe Hopsten, Tochter des Hauses, komplettieren den Kreis. Phoebe ist dabei die Sorte Frau, die Männer mit ihrem Kokettiergehabe und ihrer gleichzeitigen Unerreichbarkeit in ihren Bann zieht – so auch den Erzähler des Buches. In den folgenden Kapiteln rücken die einzelnen Charaktere mit wechselnder Intensität in den Fokus des Erzählers, der Leser wird tiefer und tiefer in die komplexen zwischenmenschlichen Strukturen hineingezogen. Diese wirken durchaus auch über den Tellerrand Frankfurts hinaus – etwa nach Oberösterreich, wo der Erzähler in der Blockhütte seiner Tante ein Bild Salams entdeckt, welcher seinerseits Hans-Jörg bis zum Kinderstrich Kairos verfolgt. Schritt für Schritt verschieben sich die zwischenmenschlichen Beziehungen, bis sich deren Auflösung schließlich nicht mehr stoppen lässt und all die fest verankert scheinenden Familiengefüge aufgespalten werden.
Unterbrochen wird die Erzählung regelmäßig von kursivierten Dialogpassagen, in denen sich die neue Partnerin des Erzählers, an die die Erzählung adressiert ist, deren Identität jedoch erst am Ende aufgelöst wird, mit Fragen und Wertungen einbringt. Nach und nach enthüllen diese Fragen, wie fragil das Konstrukt ist, das der Erzähler hier etabliert: Denn zwischen wenigen Momentaufnahmen (hier ein Blick, den man dem Erzähler quer durch den Garten zuwirft, dort ein Pärchen, das in der Abendsonne, allen Widrigkeiten zum Trotz, seine junge Liebe genießt) flicht Mosebach Handlungsstränge, deren Realitätsbezug unbestimmt bleibt. Überall, wo das Geschehen jenseits des Wahrnehmungshorizonts des Erzählers stattfindet, füllt dieser die Lücken, um seiner Freundin ein schlüssiges Bild der Ereignisse zu präsentieren. Dabei wird es immer schwieriger wird, Dichtung und Wahrheit klar voneinander zu trennen.
Mosebach spielt mit Metaphern, die die Protagonisten als papagenogleiche Halbvogelwesen zeigen, die mit Klauen, Federkleid und Straußeneiern durch den Garten Haus Falkensteins, das Hopstensche Anwesen, trippeln. Da verwundert es nicht, dass das menschlichste Wesen dieser ganzen Szenerie ein Kakadu ist, der als lebendes Dekor den Salon der Hopstens bewohnt. Allen Paradoxien zum Trotz ist der Vogel die einzige Kreatur des Ensembles, die mit offenen Karten spielt, die aus seinen Antipathien keinen Hehl macht, und die den seltsamen Tanz der Menschenwesen zu durchschauen scheint:
»Ich liebe diesen Kakadu. Und er liebt mich.« Können Tiere etwas mißverstehen? Ist das Mißverständnis nicht ein Reservat des Menschen mit seinen geheimen Vorbehalten, Deutungen und seiner vieldeutigen Sprache? Kaum war Helgas goße kraftvolle Hand mit den dunkelroten Fingernägeln in seiner Reichweite, fuhr der Kakadu auf sie zu und hackte mit dem steinernen Schnabel nach ihr – es mußte teuflisch weh getan haben, denn Helga, der Indianerin, traten vor Schmerz die Schweißtropfen auf die Oberlippe.
Mosebach zeichnet in Was davor geschah ein Bild seiner Heimatstadt, das durchaus ambivalent ist: Die Dialoge der Oberschicht wirken ebenso gekünstelt wie Mosebachs nicht nur alte, sondern teilweise pseudointellektuelle Rechtschreibung ('Telephonate', 'Photos', und auf dem Gipfel: 'Sophas'). Er gehöre zu den »glanzvollsten Stilisten der Gegenwart«, so die Jury des ihm 2007 verliehenen Büchnerpreises. Es mangelt zugleich aber auch nicht an negativen Stimmen, die ihm Reaktionismus vorwerfen oder sich über seine falschen Konjunktive und 'elendigen' Wortwiederholungen amüsieren.
Im Roman verliert sich Mosebach immer wieder gerne in Belanglosigkeiten: Nur bei Proust können Charaktere noch ausschweifender über Dornengestrüpp philosophieren als Hans-Jörg es hier auf seiner Sizilienreise tut. Wo Max Goldt die geringe Abweichung zur Kunst erhoben hat, schießt Mosebach über das Ziel hinaus. Handlungsstränge reißen plötzlich ab oder wirken verhältnismäßig beliebig, Nebensächlichkeiten werden zwar sprachlich eloquent geschildert, lassen aber keine Spannung aufkommen. Spätestens wenn bei der Schlittenfahrt »das nächtliche Schneelicht den Berghang in eine Entrückung versetzt«, kann man sich dem Gedanken nicht entziehen, dass hier jemand Thomas Mann zu seinem (durchaus unzeitgemäßen) Vorbild erkoren hat. Doch im Gegensatz zu den Figuren Manns wabern die Charaktere in Was davor geschah durch die Seiten hindurch, halten ihre Individualität hinter teils klischeehaften Beschreibungen verborgen, um irgendwann in der Belanglosigkeit einer Randbemerkung zu verschwinden. Immerhin bekommt auch der Nachbar Sláwina am Ende ein Gesicht, auch er spielt seinen Part zwischen all diesen Zufällen. Und letztlich wird in einem Nebensatz dann auch das Geheimnis um die Identität der Gesprächspartnerin des Erzählers gelüftet. Eine Frage aber bleibt schließlich im Raum stehen: Hat man es hier mit einer Satire auf die Frankfurter Oberschicht zu tun, die sich hier immerzu um sich selbst dreht, ohne sich fortzubewegen, oder hat sich hier ein Autor seine eigene idealisierte Neureichendramenwelt maßgeschneidert? Die Antwort liegt vermutlich irgendwo dazwischen.

Martin Mosebach: Was davor geschah. München: Carl Hanser 2010. 329 Seiten. 21,90 Euro.

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