Endstation Sibirien

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil
Von Lisa Huber


Das Thema Demenz in einem literarischen Text zu verarbeiten, verlangt stilistisches Feingefühl. Viel zu leicht gelangt man sonst in gefährliche Fahrwasser von Pathos und Fremdscham. Man erinnert sich mit Entsetzen an das Buch von Tilman Jens, in dem er über die Demenz seines Vaters, des großen Walter Jens, schreibt, und dessen Text kaum mehr als ein Palimpsest von enttäuschter Liebe und der Suche nach Anerkennung ist.
Arno Geiger gelingt es jedoch, mit seinem schmalen Buch das langsame geistige Sterben seines Vaters sensibel und eindrücklich zu dokumentieren. Es handelt sich nicht eindeutig um einen fiktionalen Text – es vermischen sich die tatsächliche Biografie des Autors und Fiktion. Der Leser ist hier ganz nah an den Gefühlen des Erzählers; das ist manchmal schmerzhaft, manchmal lustig, aber nie peinlich. Geiger schafft es, gute Literatur aus dem zu machen, was er sieht und fühlt; man möchte das Wort ›authentisch‹ nicht benutzen, klingt es doch abgedroschen und anbiedernd. Geigers Text ist tatsächlich das, was man ›echt‹ nennen will.
Er schafft es, die kruden krankheitsbedingten Äußerungen seines Vaters poetisch klingen zu lassen:
Als Jüngerer, da bin ich auch schon erwachsen gewesen, da habe ich vieles gekonnt. Jetzt kann ich, ehrlich gesagt, nichts mehr. – Nee – nee. – Es geht alles daneben. Wobei ich aber durchaus nicht unglücklich bin, dass ich manches nicht mehr beherrsche. Es ist einfach vorbei. Ich kann noch Freude haben, wenn anderen etwas gelingt. Aber meine Federn, die sind fort.
Der Text ist nicht chronologisch aufgebaut – immer wieder durchbrechen Phasen reinen Vater-Sohn-Dialogs die einigermaßen belanglos scheinenden Plaudereien über das Leben in Wolfurt, Vorarlberg. Es ist eine österreichische Weise vom Landleben: der Tau auf den morgendlichen Wiesen, wo von Bauernkindern rotbackige Äpfel gesammelt werden; die modrigen Keller, in denen selbige lagern; die eine lange Dorfstraße, die gleichzeitig Lebensader und Green Mile zum Altersheim ist für den Mann, der in dem kleinen Ort fast sein ganzes Leben zugebracht hat. Der zweite Weltkrieg ist die Zäsur dieser Generation, das wird in den Berichten des alten Mannes deutlich.
Es ist wie eine dieser griechischen Tragödien, von denen man den Ausgang kennt, aber immer noch hofft, das Unglück könne abgewandt werden. Der Text ist ein großes memento mori, ein zwar positiv konnotiertes, aber zweifelsohne ist der Tod hier auf jeder Seite präsent. »Hast du Angst vor dem Sterben?«, fragt der Sohn. »Obwohl es eine Schande ist, es nicht zu wissen, kann ich es dir nicht sagen«, antwortet der Vater.
Ein Blick auf die Liebe in dem Dokument über das Sterben: eine Mutter, die enttäuscht ist von dem Mann, der ihr als Hochzeitsreise einen Spaziergang im Wolfurtschen Forst anbietet. Sie verlässt ihn zwar, aber der Text verrät keinen Hass: »Vor wenigen Tagen saß er zu Hause in der Küche auf einem Stuhl, hielt die ganze Zeit still, und meine Mutter schnitt ihm die Haare«. Handelte es sich hier um einen Roman, könnte man von einem sogenannten positiven Menschenbild sprechen, das hier gezeigt wird. Vielleicht würde man es sogar naiv oder arglos nennen, sicherlich aber unglaubwürdig. Die Dramen haben in diesem Lebensdokument keine hohen Ausschläge. In der Provinz problematisiert man nicht übermäßig, so scheint die Botschaft des Textes zu sein, und genau durch diese Lakonie wird die Dramatik der Demenzkrankheit herausgearbeitet; wohl präziser, als man es mit wissenschaftlichen Fachbegriffen glaubhaft beschreiben kann.
Wenn Menschen alt werden, und sich keiner um sie kümmern kann oder will, kommen sie ins Altersheim. Dann werden ein oder zwei Container vor das Haus gestellt und es wird entrümpelt. Wie oft ist schon die Metapher des Entrümpelns geschunden worden, um in der Vergangenheit zu graben? »Jetzt war alles zerrüttet, der Mann, das Haus, die Welt.« Das Haus wird vom Dachboden bis zum Keller ausgeräumt, und der nach Wien ausgewanderte Geiger ist es seiner freudianischen Bildung schuldig, genau dort fündig zu werden: Sein Vater hat seine Kriegserlebnisse aufgeschrieben, und der Horror, von dem der Sohn nichts wusste, ist nicht mehr zu ignorieren. Doch der Vater ist schon weit weg, so dass man keine Antworten mehr bekommen kann.
Arno Geiger ist nicht mehr jung, als er dieses Buch veröffentlicht, er hat sich sechs Jahre Zeit gelassen, es zu schreiben, »sechs Jahre darauf gespart«. Seine persönliche Position zum Geschehen ist vielleicht ein bisschen zu romantisch, gegen Ende schützt er sich vor der Angst vor dem Nichts mit dem Vergleich, dass der Zustand geistiger ›Befreiung‹ ähnlich dem Warten an einer sibirischen Bahnstation sei; irgendwann werde vielleicht ein Zug kommen. Macht der Sohn es sich hier nicht eine Spur zu einfach: das Altern als Endstation Sehnsucht, übersät mit den Schalen von Sonnenblumenkernen?
Man muss Geiger das nicht vorwerfen; seine Entschuldigung ist die Liebe zum Vater, und was würde es nützen, über das Unausweichliche zu klagen, das Schreckliche mit wohlklingenden Adjektiven zu beschreiben? Es würde nichts ändern daran, dass der Vater nicht gesund wird und dass er sterben muss, dass sein Geist vor seinem Körper altert. Der Text ist nicht rührselig, Geiger weiß, welchen Respekt er seinem Gegenstand entgegenbringen muss, um dem Vorwurf der Ausschlachtung des väterlichen Elends entgegenzuwirken. Trotzdem: Am Ende beobachten wir doch, wie sensibel, poetisch und ästhetisch es beschrieben sein mag, den Verfall eines alten Mannes, der nie König war. Die Distanzlosigkeit zum Gegenstand hat der Erzähler gut im Griff; vielleicht kann man das Grauen des geistigen Vernebelns auch nur dann so einfühlsam beschreiben, wenn man es so unmittelbar erlebt. Gegen das, was die Zeit mit den Menschen anstellt, ist bekanntlich noch kein Kraut gewachsen und in jenem Text sehen wir das aufs Treffendste beschrieben, was jeden Organismus ereilt: das Altern und seine unweigerlichen Konsequenzen.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. München: Carl Hanser 2011. 189 Seiten. 17,90 Euro.

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