»Schuld aus Unachtsamkeit«

Silke Scheuermann: Shanghai Performance
Von Jennifer Stockum

Es gibt in Hotelzimmern nie besonders viel zu tun. Ich betrachtete das Telefon. Lief ein paar Mal auf und ab. Im Bad drückte ich mir ein feuchtes Handtuch in den Nacken. Mein Gesicht im Spiegel hatte die Farbe von getrocknetem Thymian und lief nach unten spitz aus wie ein Ziegenkopf, und hier, in der ersten schlaflosen Shanghaier Hotelnacht und angesichts meines befremdlichen, um nicht zu sagen hässlichen Anblicks, musste ich plötzlich an das Bildnis des Dorian Gray denken und gleichzeitig daran, dass ich, womöglich, in den vergangenen Wochen die letzte Chance vertan hatte, je ein anständiger Mensch zu werden, dass es vielleicht kein Zurück mehr gab und die Fehler, die ich begangen hatte, längst Teil meines Charakters geworden waren, ja, dass man sie auch nicht mehr Fehler nennen musste, sie waren ureins mit meinem Wesen, bösartig und unausweichlich, eine der bösesten von Millionen von Seelen, verloren wie ein Haar im Abwasser. Hier, heute, jetzt spürte ich immerhin noch, dass ich an einem Tiefpunkt angekommen war, aber bald schon würde ich gar nicht mehr merken, zu was für einem üblen Charakter ich mich entwickelt hatte, und ich würde weiterhin Spaß haben und glauben, ich könnte andere Menschen beurteilen und über richtig und falsch befinden, während ich bei mir selbst völlig andere Regeln gelten ließ.
Luisa hat es geschafft: Sie hat sich zur rechten Hand und einzigen Vertrauten der von ihr vergötterten Performancekünstlerin Margot Wincraft emporgearbeitet und jettet nun mit ihr rund um den Erdkreis, um sie bei ihren Projekten zu unterstützen. Ein Privatleben hat sie schon lange nicht mehr und nun hat sich auch ihr Freund Christopher von ihr getrennt, der ihre ständigen Reisen nicht länger ertragen konnte. Doch um ihn zu kämpfen, bleibt Luisa im Moment keine Zeit, denn die nächste Reise steht schon bevor. Diesmal geht es nach Shanghai, wo Margot eine Körperinstallation initiieren möchte, bei der sich junge Frauen nur mit Langhaarperücken und Stöckelschuhen bekleidet auf einem eiförmigen Erdhügel räkeln sollen. Warum ihre Chefin der Einladung des Geschwisterpaares Lian und Tian, die dort eine unbekannte Galerie mit Namen Garage 2 führen, überhaupt folgt, bleibt Luisa schleierhaft, denn China scheint ihr als Kunstraum nicht mehr innovativ genug zu sein. Ebenso ist sie von Margots ungewöhnlichen Verhalten vor Ort überrascht: Die Künstlerin ist so gar nicht auf ihre Arbeit konzentriert, trifft mitten in der Nacht heimlich einen alten Mann, scheint ständig zerstreut und auf der Suche nach etwas zu sein. Das Projekt zieht sich in die Länge und da Lian alles Nötige organisiert, hat Luisa zum ersten Mal seit sie ihre Assistentinnenarbeit bei Margot begonnen hat, Urlaub. Schnell findet sie Anschluss in Lians Freundeskreis und beginnt eine Affäre mit dem attraktiven chinesischen Arzt Andrew, der in den USA aufgewachsen ist und dessen Ziehvater, Margots nächtliche Verabredung, Wei Xiangjan eine wichtige Rolle in der dunklen Vergangenheit der Künstlerin spielte, von der Luisa bisher nichts ahnte. Nun wird sie über die wahren Gründe aufgeklärt, warum die Galeristin Margot nach Shanghai gelockt hat. Nicht Lian ist die eigentliche Drahtzieherin für Margots Shanghai-Aufenthalt, sondern die im Rollstuhl sitzende geheimnisvolle Winona, die eine dringende Bitte an Luisa bezüglich ihrer Chefin hat.
In Shanghai Performance steht nicht nur die Performance-Kunst zur Diskussion, sondern auch die Entscheidung für verschiedene Lebensentwürfe: Gezeigt werden die Biografien unterschiedlichster Frauen, wobei das Spektrum von der für ihre Werke gefeierten, im Privatleben aber gescheiterten Künstlerin bis zur konservativen, in Tradition verwurzelten, hingebungsvollen Mutter und Ehefrau reicht. Die Ich-Erzählerin Luisa wird angesichts der ihr aufgezeigten Lebensalternativen zur Reflexion ihrer eigenen Existenz angeregt und erkennt letztlich, dass sie entgegen ihrer bisherigen Lebensauffassung doch noch nicht der Mensch ist, der sie sein möchte, sowohl ihre Karriere als auch ihren Charakter betreffend.
Leider liest sich das erste Drittel des Werks äußerst zäh, Spannung kommt trotz der ständigen Ankündigung des bald hereinbrechenden Unheils erst gegen Ende auf, als Luisa beginnt, ihr Assistentinnendasein abzustreifen und ihr Leben mit Freunden zu genießen, auch wenn sie sich darüber bewusst ist, dass die momentane Harmonie in Wirklichkeit nichts als ein schöner Schein ist, ein fragiles Konstrukt, das zusammenbrechen wird. Weder ihre Freundschaften zu den jungen Chinesen, noch ihre Affäre mit Andrew werden von Dauer sein. Luisa ist sich dessen stets bewusst und betont dies durch die ständige Ankündigung eines schrecklichen Ereignisses mehrfach.
Es war mir ziemlich egal; es reichte mir, was wir hatten, dass ich ihn mochte, dass es lustig war mit ihm und die physische Anziehung anhielt. Womöglich könnte ich mich jetzt, wenige Jahre später, kaum noch an ihn erinnern, wenn er nicht zum Personal dieser Tragödie gehören würde und mir nicht alle Figuren überscharf in Erinnerung wären: Wie angestrahlt stehen sie auf einer Bühne, in einem Stück um ewige Schuld aus Unachtsamkeit.
Unachtsamkeit kann in Silke Scheuermanns Roman als Schlüsselwort verstanden werden: Nicht nur die Künstlerin macht sich gleich mehrfach durch sie schuldig und ruiniert das Leben Anderer, auch Luisa verliert den von ihr meistgeliebten Menschen, ihren Freund Christopher, durch zu wenig Beachtung. Im Gegensatz zu ihrer Chefin, die mit einem psychischen Zusammenbruch in einer Nervenklinik endet, sich selbst bedauernd, aber ohne Schuldbewusstsein für ihre eigenen Taten, schafft es Luisa jedoch, sich ihren Fehler einzugestehen und noch einmal von vorne zu beginnen – diesmal ein Auge auf die Gefühle ihrer Mitmenschen haltend.
Hat man den etwas lahmenden Anfang des Romans überwunden, verleitet die latent vorhandene Drohung eines bösen Endes zum Weiterlesen, selbst nachdem das eigentliche Rätsel um die Motivation Margots für die Shanghai-Reise gelöst und ihre düstere Vergangenheit ans Licht gekommen ist. Ständig bleibt das Gefühl, dass noch weitere schockierende Tatsachen zu Tage kommen werden. Dank der einfach gehaltenen Sprache lässt sich Shanghai-Performance auch zügig lesen.
Die Idee, einen Roman mit dem Schauplatz Shanghai, zu schreiben, kam Silke Scheuermann bereits 2005, als sie anlässlich eines Übersetzerprojekts erstmals nach China reiste, bevor sie 2008 gezielt zu Recherchezwecken nach Shanghai zurückkehrte. Von Mitte August bis Mitte September lebte und arbeitet Silke Scheuermann als artist in residence in der 21-Millionen-Metropole, besuchte im Rahmen der Shanghai Biennale diverse Ateliers und sprach mit zeitgenössischen chinesischen Künstlern. Wie ihre Protagonisten Luisa ließ auch sie sich beispielsweise von der Stille des Konfuzius-Tempels oder vom Anblick des im Roman immer wieder erwähnten Westsees beeindrucken.

Silke Scheuermann: Shangai Performance. Roman. Frankfurt: Schöffling & Co 2011. 311 Seiten. 19,95 Euro.

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