» ... wer soll da noch Ruhe bewahren?«

Clemens J. Setz: Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes
Von Boris Seewald

Sämtliche Erzählungen dieser Sammlung klingen zumindest interessant, wenn nicht gar viel versprechend, deutet man ihren Inhalt lediglich an: Ein autistischer Eskapist zieht sich auf seinen eigenen Planeten zurück; ein figurierter Clemens J. Setz wird selbst Teil seines Nachlasses; eine junge Frau wohnt in einem Riesenrad. So einige davon lesen sich anfangs sogar wie eine Horror-Short Story. Sie erzeugen eine ominöse Atmosphäre, laden eine Situation mit Spannung auf; spitzen sich aber nicht zu, sondern bleiben vage, höhepunktlos und versanden in Belanglosigkeit. Gemein ist nahezu allen ihre melancholische, ernsthafte Grundstimmung. In der ersten Geschichte Milchglas mündet ein traumatisches Kindheitserlebnis in einem kryptisch-verstörenden offenen Ende, das Albtraum und Realität ununterscheidbar lässt. Darauf folgt Die Waage, worin ein klassisches Suspense-Motiv aufgegriffen wird: Ein scheinbar harmloser alltäglicher Gegenstand wird zum Auslöser oder Zentrum übernatürlicher Vorgänge oder, wie in diesem Fall, einer psychischen Krise des Protagonisten. Sie scheint zu Gewalt und Zerstörung zu führen, aber auch hier bleiben konkrete Folgen ungeklärt. Es entsteht der Verdacht, Clemens J. Setz habe durchaus Lust verspürt, einen süffigen Genrebeitrag zu leisten, sich aber – leider zugunsten schwacher allegorischer Miniaturen – zurück gehalten, um nicht unter Trivialitätsverdacht zu geraten.

Auf ähnliche Weise wie in Die Waage scheint man sich auch in anderen Erzählungen im Kopf von gerade Überschnappenden zu befinden. In Die Leiche entdeckt der Protagonist in seiner Wohnung eine frisch verstorbene Frau. Statt zu versuchen, die Tote loszuwerden, ihrer Herkunft auf die Spur zu kommen, oder Dritte hinzuzuziehen, bemüht er sich, sie außer Sicht zu verstauen. Nachdem dies zunächst misslingt, schafft er es schließlich, den Körper der Wohnungseinrichtung hinzuzufügen, indem er ihn buchstäblich unter den Teppich kehrt und einen Schreibtisch darüber stellt:
Das Gefühl, als das schwere, dichte, nach Vergangenheit und Schuhleder riechende Gewebe sich ganz um den Fremdkörper legte und ihn quasi wegzauberte, war eines großer Erleichterung. Fast hätte Markus in die Hände geklatscht.
Wo steckt hier nun der Wahnsinn? Im Verstand der Figur oder dem Konstrukt der Erzählwelt? Wie abwegig ist irrationales Verhalten in einer irrationalen Situation? Handelt es sich bloß um eine absurde Erzählung um der Absurdität willen oder doch um eine Art Parabel? Es ist bezeichnend für die meisten von Setz’ unheimlichen Szenarien, dass ihnen zwar gute Ideen zugrunde liegen, an deren Ausarbeitung es aber mangelt, zumal sie kaum Assoziations- und Reflexionsanreiz geben. Nun gebietet zwar die kleine Form stets ein mehr oder weniger offenes Ende, ebenso aber eine zumindest anzudeutende Pointe oder eine gewisse Subtilität, die Interpretationen herausfordert. Das ist in den meisten der Erzählungen nicht der Fall, sie hören einfach auf. Andeutungsweise verrät das bereits der perfide Klappentext, der anreißend behauptet:
Und dann ist da noch Lilly, die eines Tages feststellt, „dass auf ihren Schulterblättern kleine Flügel gewachsen waren: schmutzig-rosafarbene, verletzlich wirkende Hautgebilde, die wie Gelsenstiche juckten und sich von ihr mit einiger Willensanstrengung sogar ein wenig hin und her bewegen ließen“.
Verschwiegen wird naturgemäß, dass es sich hierbei um den Text mit dem Titel Eine sehr kurze Geschichte handelt, in der nach dem zitierten ersten Satz nur noch drei weitere folgen – ein treffenderer Titel wäre Keine Geschichte gewesen. So besteht der Band überwiegend aus mediokren Beiträgen; narrative Rohrkrepierer, philosophische Gedankenspielereien und wenig erheiternde Erzählexperimente wechseln sich ab und erwecken den Eindruck von ›Füllgeschichten‹. Setz’ prägnante, schnörkellose Sprache stellt, abgesehen von einigen wirren Dialogen, zu oft die einzige bemerkenswerte Qualität dar.
Die Visitenkarten vereint anschaulich zwei heraus stechende Hauptmotive des Bandes: Das Entstehen unheimlicher Daseinsstörungen, die sich am Objekt entzünden – so ähnlich auch in Die Waage, Die Vase und Das Riesenrad – und das Zerbrechen oder gewaltsame Zertrümmern der symbolischen Ordnung. Eine junge Frau muss erleben, wie eine mysteriöse ›Beulenpest‹, ausgehend von ihren Visitenkarten, immer mehr Dinge befällt und zersetzt, die für ihre materielle und gesellschaftliche Existenz von Bedeutung sind: Banknoten, Kreditkarten, die Luxushandtasche. Dabei bleibt sie, entgegen des ersten Anscheins, nicht das einzige Opfer der »Seuche«. Der zerstörerische Befall trifft gezielt diejenigen Objekte, die Identität, Status und zivilisatorische Struktur stiften und aufrecht erhalten. Das letzte Bild ist ein Bettler, der angesichts eines weggeworfenen ›kranken‹ Geldscheins beginnt, zu lachen. Er scheint den Witz zu begreifen und das Ende der bestehenden Weltordnung zu ahnen.
Eine weitere Thematik, Erwägungen über die Rolle der Kunst, fügt sich am auffälligsten in der Titelgeschichte hinzu: Das »Mahlstädter Kind«, welches als ›Wanderskulptur‹ in wechselnden Innenstädten ausgestellt wird, übt allerorts eine seltsame Anziehungskraft auf die Menschen aus. Anders als in der Wirklichkeit hat hier ein Kunstwerk unmittelbaren, deutlich spürbaren Einfluss auf die Gesellschaft. Die Skulptur beschäftigt nicht nur rein theoretisch Wissenschaftler, Politiker und Kultursachverständige, sondern wird auf wundersame Weise zum Fetisch ganzer Stadtbevölkerungen – »Pilger ihrer Wut, zu Tode gedemütigt von der Kunstbegeisterung«. Des Kindes Lehmoberfläche wird künstlich feucht und somit formbar gehalten, und ein jeder ist dazu aufgefordert, es »mit Schlägen, Tritten, Werkzeugen oder, falls notwendig, sogar mit Waffen in die allgemein als vollkommen empfundene Form eines Kindes zu bringen.« Wie es sich nun in diesen vom Mahlstädter Kind geprägten Zeiten mit der Liebe verhält, bleibt freilich unklar. Betrachtet man das kapriziöse Geplänkel zwischen den beiden jungen Protagonisten Lea und Kirill, sieht es sehr düster aus: Ihre emotionalen Ausbrüche sind befremdlich, ihr Verhältnis zueinander ist von Überreaktionen und Misskommunikation geprägt und ihre Dialoge sind so drastisch von Non sequitur und Nonsens zersetzt, dass es Absicht und damit bedeutungstragend sein muss. Worin nun jedoch der konkrete Zusammenhang zwischen dem Objekt und dem menschlichen Aggressions- und Beziehungsverhalten besteht, bleibt rätselhaft; auch hier ist der erzählten Welt zu viel Logik entzogen und es fehlt der äußere Bezugsrahmen, um die Problematik einzuordnen.
Ein ähnliches Szenario, wie es etwa Nick Cave & The Bad Seeds im Stück Jack The Ripper oder Warren Adler im Roman The War Of The Roses bereits entwerfen, führt Setz in der schwarzhumorigen Erzählung Die Blitzableiterin oder Éducation Sentimentale in die Extreme: Das Ehepaar Littmann lässt sich nach 23 Jahren scheiden, nur um in die »Scheidungsflitterwochen« zu fahren und sich im Laufe der nächsten drei Jahre in soziopathische Monster zu verwandeln. Die Mittvierziger rauchen Gras, fügen einander (sexualisierte) Gewalt zu, trinken Sekt aus gemeuchelten Barbie-Puppen, tun unangebrachte Dinge mit Körperflüssigkeiten, quälen gefesselte Prostituierte und geilen sich daran auf, die neuen Nachbarn, einen Mann und seine Tochter, »zwei absolut wohlerzogene Menschenwesen«, hinterhältigst zu psychoterrorisieren, bis die Intrigen sie letztlich in einen inzestuösen Wahn treiben. Anders als in Flauberts Roman, bei dem der Titel L’Éducation Sentimentale auf simplere Weise ironisch gemeint ist, findet die behauptete Erziehung bei Setz sehr wohl statt. Die antreibende Kraft bei den Ex-Eheleuten ist die Frau, die ihrem verklemmten Lehrergatten nach und nach zur Reife verhelfen muss:
Sarah ermutigte und unterstützte mich, sie half mir dabei, dass meine Fantasien etwas Besonderes wurden, sie war die Gärtnerin meines Seerosenteichs aus unterdrückten Zwangsvorstellungen.
Nur liegt die (Um)erziehung hier eben nicht im schnöden Eros begründet, sondern im Erreichen von extremen Gegenwartserlebnissen, Momenten der »Intensität« und »absoluter Schönheit«, zu finden ausschließlich in schrankenlosen BDSM-Übungen, Orgien, Triebexzessen und dem Foltern Uneingeweihter. Als die beiden schließlich gleichberechtigt sind, alte Verhaltensmuster und jegliche harmlose Intimität abgeschafft wurden, und die schmerzhaften Kopulationen häufiger zu Knochenbrüchen führen, wird klar, dass die wahnwitzige Nicht-Ehe keine Stagnation kennt und mit dem Abstreifen widernatürlicher sozialer Rollen und Gepflogenheiten lediglich ein Zwangsverhältnis gegen ein anderes eingetauscht wurde. Das stete Verlangen nach »Augenblicke[n] von Perfektion und Grenzüberschreitung« steigert sich unweigerlich bis zum Untergang. Die überhöhte Bösartigkeit in der Figurenzeichnung hebt diese Geschichte positiv heraus.
Der denkwürdigste Beitrag des Bandes mit dem Titel Kleine braune Tiere ist formal weniger Erzählung als fiktionalisierter wissenschaftlicher Essay. Der namenlose Autor beschreibt darin die Debatte über »eines der geheimen Meisterwerke unserer Epoche«: »Figures in a Landscape«, ein vom früh verstorbenen »Genie« Marc David Regan erschaffenes Videospiel. Dieses »interdisziplinäre Begeisterungsstürme« hervorrufende Machwerk ist von diesem »Universalpoet unter den Spieleprogrammierern« im Alleingang programmiert worden und liefert sowohl »Fan-Community« als auch den Geisteswissenschaften Debattenstoff. Einen Großteil der Faszination macht dabei die Suche nach dem so genannten »letzten Level« aus, der irgendwie mit den ungeklärten Umständen von Regans Suizid in Verbindung zu stehen scheint. Inklusive detaillierter Fußnoten und erfundener Sekundärliteratur konstruiert Setz treffend und geschickt eine Parodie auf wahnwitzig ausufernde halb- und pseudowissenschaftliche Diskurse. Das ist erfrischend in einer Zeit, die sicherheitshalber alles feiert, was nicht verstanden, aber als Kunst verdächtigt wird.
Das »Computerspiel« und dessen Inhalt sind allerdings in geringerem Maße Gegenstand der Ausführungen, man erfährt mehr über die Rezeption sowie biographische Einzelheiten des Erschaffers. Das hat aufgrund der sich offenbarenden Kontraste eine komische Wirkung: Die Szenarien von »Figures in a Landscape«, zudem mit plumpen Steuerungsmechanismen und hässlicher Grafik ausgestattet, werden offenbar als surreale, mysteriös-existentialistische Anordnungen von exzellenter Genialität wahrgenommen. Die wenigen im Text beschriebenen Spielszenen sind dagegen aber lachhaft unsinnig und von außerordentlicher Beknacktheit:
Versöhnungsgespräch mit der magischen Schlampe.
JB stellt einen schmutzigen Turnschuh auf den Suppenteller. Die Schlampe beginnt zu weinen. Sie nimmt den Schuh und herzt ihn, zwirbelt die Schnürsenkel zu kleinen Schleifen und schaut ihn mit großen, traurigen Augen an.
Da als Kontext für diesen Humbug lediglich gleichermaßen fragwürdige Äußerungen des Erfinders vorliegen, wirken die absurden Umdeutungen, Vergleiche und ausartenden Dekonstruktionsversuche der Exegeten, die jede noch so beiläufige Bemerkung Regans zu Tode analysieren, umso lächerlicher. Zusätzliche Würze verleiht dem Text, dass er zunächst den gruseligen Verdacht erweckt, Setz könne das alles ernst meinen. Dass er jedoch seinem parodistischen Essay ausgerechnet dieses elektronische Medium zu Grunde legt, ist, obschon ertragreich, auch ein wenig zu bedauern. Denn die Hoffnung, es müsse es sich hier um einen Autor mit für deutschsprachige Literaturverhältnisse seltene Ein- und Weitsicht in ein fremdes Medium handeln, ist vergeblich: Es dient ihm lediglich als Satirestoff. In diesem Sinne mag Kleine braune Tiere auch eine verpasste Chance sein – ist aber in diesem Band immer noch herausragend. Sind seine Erzählungen auch facettenreich und teils psychologisch interessant, ist es doch schade, dass Clemens J. Setz seine Ideen insgesamt nicht besser umzusetzen vermag. Aber immerhin hat er welche.

Clemens J. Setz: Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes. Erzählungen. Berlin: Suhrkamp 2011. 350 Seiten. 19,90 Euro.

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