Wir müssen innerlich sauber sein und äußerlich blitzblank und rein

Rabea Edel: Ein dunkler Moment
Von Jennifer Stockum

Ich hatte die Augen geschlossen, als sie sich neben mich auf das Bett setzte, sehr vorsichtig die Hand unter meinen Nacken schob, ihn festhielt und mit einer schnellen Bewegung das Messer von links nach rechts durch meinen Hals zog. Ein roter Sprühregen, der zu einem Fluss auf das Laken wurde, als sie zurückzuckte, das Messer aus der Wunde nahm, und ich die Augen öffnete. Mein Blick traf ihren Blick. Der Schnitt klaffte auf, Luft wurde ins Herz gepumpt, Blut geriet in Nase und Mund. Ich tastete nach meinem Hals, mein Körper krampfte, meine Hand schlug zur Seite und traf sie hart ins Gesicht. Ich sah sie an und mein Blick wurde starr.
»Was machst du, damit die Erinnerung an uns gut wird?« – Mit dieser Frage beendet der inhaftierte Billy alljährlich die Postkarte, die er seiner Schwester Amanda zum Todestag der Eltern schickt, dem Jahrestag seiner eigenen Gräueltat: Am 5. April 1998 erschlägt der damals 17-jährige in einer amerikanischen Kleinstadt sowohl seine Eltern als auch die jüngste Schwester mit einem Baseballschläger. Seine damals 15-jährige Schwester Amanda wartet währenddessen außerhalb des Wohnbezirks auf einem Feld.
11 Jahre lang bekommt Billy keine Antwort auf seine Frage, bis die mittlerweile in Rom lebende Amanda sich vor ihrem geplanten Ableben mit einem Brief von ihrem Bruder verabschiedet. Um ihrem Leben ein Ende zu bereiten, lässt sie sich von der ihr zum Verwechseln ähnlich sehenden Lucia die Kehle aufschlitzen, die fortan unter Amandas Identität weiterleben soll. Weshalb die beiden Frauen ihre Identitäten tauschen und Amanda gewissermaßen Selbstmord begeht, bleibt jedoch im Dunkeln. Sie verspricht ihrem Bruder lediglich, dass Lucia ihr Leben besser führen wird:
Du wirst sie mögen Billy, sie wird alles anders machen als ich: Sie wird Dir schreiben und sie wird Dich besuchen, ich habe ihr ein Flugticket gekauft. Es ist der fünfte April zweitausendundneun, kurz nach fünf Uhr am Nachmittag. Ab jetzt wird alles wieder gut.
Doch bevor Lucia in die USA fliegt, um Billy zu treffen, verweilt sie einige Tage in Rom: Ziellos irrt sie umher, wobei ihr schließlich der Pathologe Andrea Landolfi begegnet, in dessen Kühlkammer die tote Amanda liegt.
Landolfi selbst plagt derweil sein eigenes dunkles Geheimnis. Seit Jahren kann er keine Leiche mehr obduzieren. Ihn überkommen Schwindel und Übelkeit beim Ansetzten des Skalpells. Liegt eine tote Frau vor ihm, drängt es ihn, den leblosen Körper zu liebkosen. Was sein merkwürdiges Verhalten gegenüber den Toten ausgelöst hat, wird jedoch nicht erklärt. Um seine Schuldgefühle gegenüber jenen Verstorbenen zu kompensieren, deren Fälle er nicht lösen konnte und deren Obduktionsberichte er ohne Untersuchung nach Wünschen des korrupten Staatsanwaltes Mignoni aufgesetzt hat, lässt er sich ihre Sternzeichen tätowieren. Als auch der Schmerz der Tätowiernadel sein Gewissen nicht mehr beruhigen kann, beschließt er, nur noch an der Universität zu unterrichten. Lediglich in Ausnahmefällen springt er als Gerichtsmediziner ein, wie .im Fall der toten Amanda. Sofort ist er von ihrem Anblick fasziniert: Ihre Haut ziert das gleiche Jungfrauentattoo, welches er selbst trägt, die junge Frau kommt ihm darüber hinaus merkwürdig bekannt vor. Ihr Gesicht brennt sich in seine Gedanken und lässt Landolfi nicht mehr los. Umso erstaunter ist der Pathologe, als ihm die Tote kurze Zeit später scheinbar lebendig über den Weg läuft: Lucia. Von Wein und Zigaretten berauscht, beginnt er, Nachforschungen über die geheimnisvolle Fremde anzustellen, wobei er im Internet einen Artikel über die Bluttat Billies findet. Sein eigenes Leben gerät derweil immer mehr aus den Fugen.
Die Protagonisten Amanda, Landolfi und Lucia, aus deren Sichtweise ein Großteil der Ereignisse geschildert wird, sind nur zwei der zahlreichen skurrilen und geheimnisvollen Charaktere, die Rabea Edel in ihrem zweiten Roman aufeinander treffen lässt. Die Handlung wirft dabei immer wieder Fragen auf, die allerdings nie beantwortet werden: Warum tötet Billy den Großteil seiner Familie? Warum hält Amanda ihn nicht auf, obwohl sie in sein Vorhaben eingeweiht zu sein scheint? Weshalb bricht sie den Kontakt zu ihrem Bruder ab und warum begeht sie auf solch merkwürdige Weise Selbstmord? Warum soll Lucia ihre Identität annehmen und warum kann Landolfi keine Obduktion mehr durchführen? Wird Lucia Billy in den USA überhaupt aufsuchen?
Doch nicht nur die fehlenden Antworten erschweren das Nachvollziehen der Ereignisse, auch der ständige Perspektiv-, Orts- und Zeitwechsel sorgt ab und an für Verwirrung. Die Handlung setzt sich aus vielen kleinen Episoden zusammen, wobei bestimmte Momente aus der Sicht unterschiedlicher Personen durchlebt werden. So kommt der Handlungsfortschritt über mehrere Seiten oftmals zum Erliegen. Erzählt wird nicht nur aus der Sicht Amandas, Lucias, Landolfis oder Billys, sondern auch aus der Perspektive zahlreicher Nebencharaktere wie u.a. den ehemaligen Nachbarn der getöteten Familie, Landolfies Freundin, einem Einbrecher, der Amandas Leiche findet oder sogar einem Fuchs, der wie Lucia durch Rom streift. Doch trotz der Perspektiv-Vielfalt erhält der Leser keine weiteren Erkenntnisse über die Ereignisse. Handlungsmotive wie auch Emotionen der Charaktere bleiben im Verborgenen, da diese nie expliziert werden. Nie werden die Gründe für Taten dargelegt oder Empfindungen mitgeteilt, so dass die Figuren durch die ständige Objektivität unterkühlt wirken. Zusätzlich wird das Verständnis durch Zeit- und Ortssprünge erschwert. Orientierung im Handlungschaos wird lediglich durch die Orts- und Zeitangaben zu Beginn jedes neuen Abschnitts geboten.
Besonders die Geschehensschilderungen aus Landolfis Sicht sind schwer verständlich, da nicht immer evident ist, ob es sich um Realität, Traum oder Halluzination des oftmals vom Alkohol berauschten Pathologen handelt. Passend zu den zahlreichen Unklarheiten und ungelösten Fragen hat die Autorin ihr Eingangszitat gewählt, welches von der Hauptverdächtigen im Mordfall Meredith Kercher, Amanda Knox, stammt: »Die einzige Wahrheit ist, dass ich mir der Wahrheit nicht sicher bin. Ich war nicht dort.« Enttäuschenderweise bleibt die am Schluss erwartete ausgefallene Auflösung hinsichtlich der Verknüpfung der beiden Morde jedoch aus. Für die anstrengende Lesearbeit wird man jedoch durch die poetische und bilderreiche Sprache entschädigt, sodass sich die Lektüre durchaus lohnt, auch wenn der eigentlichen Geschichte der große Clou fehlt.

Rabea Edel: Ein dunkler Moment. Roman. München: Luchterhand Literaturverlag 2011. 192 Seiten. 18,99 Euro.

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