Katastrophen im Wohnzimmer

Peter Stamm: Seerücken
Von Benedikt Theis

Der 45-jährige Schweizer Autor Peter Stamm wird von den Medien immer wieder zum »brillanten Erzähler« (Der Spiegel) oder »Meister des kleinen persönlichen Scheiterns« (Frankfurter Rundschau) gekürt. Neben positiven Kritiken, versprechen zudem zahlreiche Auszeichnungen, darunter der Rheingau Literatur Preis oder der Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, qualitativ hochwertige Literatur. Nach einem Blick in Stamms biographische Daten keine Selbstverständlichkeit: Seinen ersten Roman Agnes schrieb er zwar bereits mit 20 Jahren, konnte ihn jedoch erst 15 Jahre später – nach zahlreichen Absagen – veröffentlichen lassen. Nach dem Erfolg seines Erstlingswerks und den folgenden Veröffentlichungen von Prosatexten, Theaterstücken und Hörspielen, trennte sich Stamm von seiner bisherigen Tätigkeit als Buchhalter und widmete sich gänzlich dem literarischen Schreiben.
Nach eigenen Worten schreibt Stamm »über Menschen und über Beziehungen zwischen Menschen«. Er tut dies mit Blick auf die Schwächen und Ängste seiner Protagonisten. Stamm erschafft keine Helden, sondern zeichnet Menschen voller Zerbrechlichkeit. Auch in seinem neusten Werk Seerücken macht er in zehn Erzählungen das private Leiden des Einzelnen zum Grundgedanken seines Buches, der die verschiedenen Geschichten, trotz so unterschiedlicher Handlungen, thematisch miteinander verbindet. Durch reduzierten Stil ohne Pathos oder schmückende Mittel erzeugt Stamm Präzision, Realität, doch auch Kühle und Distanz. Er erzählt in beinah emotionsloser Neutralität von emotional starken Charakteren und macht deren alltägliches Scheitern – ihre persönlichen Katastrophen – zum Kern seiner Erzählungen.
Bereits Sommergäste − die erste der zehn Erzählungen in Seerücken − beginnt bizarr: Um eine Arbeit über Maxim Gorki zu verfassen, zieht sich ein Slawist und Ruhesuchender in ein Kurhaus zurück. Es erwarten ihn einsame Waldlandschaften, ein völlig unbewohntes Hotel, geschlossene Fensterläden, zugedeckte Möbel, weder Strom, noch Wasser, zum Essen bloß Ravioli, zubereitet und serviert von Ana, der außer ihm einzig anwesenden Person. Die Unterhaltungen mit Ana erscheinen nichtig, die Örtlichkeiten bleiben undurchsichtig bis zum Ende der Erzählung. Diese Eigenarten, die vom Protagonisten durchaus wahrgenommen, vom Erzähler jedoch ohne Wertung dargestellt werden, erzeugen eine »Normalität des Ungewissen«, die zuweilen an Kafka erinnert. So wie auch das ungeklärte Ende, das bleibt, als eines Tages der Konkursbeamte des Hotels und ein Kaufinteressent auftauchen, und den Protagonisten verwundert in dem leer stehenden Haus entdecken. Sie warten auf Ana, die jedoch spurlos verschwunden bleibt, ohne dass man Aufklärung über ihre Biographie erhält. In ähnlicher Weise führt Stamm den gesamten Erzählband fort. Er erzählt Geschichten, die augenscheinlich ohne Beginn und Anfang und ohne Erklärung im Raum stehen, von Ratlosigkeit berichten und Ratlosigkeit erzeugen. Doch die Bilder, die Stamm mittels seiner stilistischen Eigenart erschafft, wirken – trotz inhaltlichem Mysterium – real und plastisch. Man bleibt nicht unberührt wenn Stamm beispielsweise die aufkommende Distanz zwischen einem Ehemann und seiner sterbenden Frau schildert:
Er steht an Rosmaries Bett. Ihr Kopf ist verbunden und ihr Körper an Maschinen angeschlossen, sie wird künstlich beatmet, hat eine Magensonde und einen Blasenkatheter. Medikamente werden ihr über Schläuche direkt ins Blut verabreicht. Ihre Arme und Beine werden gekühlt, um die Körpertemperatur tief zu halten. Sie ist nackt bis auf eine Art weiße Schürze, die an den Seiten offen ist und die sie kaum zu bedecken vermag. Ihr Gesicht hat einen seltsam schlaffen Ausdruck. Hermann steht neben dem Bett und starrt sie an, er mag ihr nicht einmal die Hand auf die Stirn legen, so fremd kommt sie ihm vor.
Die meisten seiner Geschichten verfolgt man mit Spannung, da das Ungewisse und Seltsame unmittelbar ein Ergründe- und Verstehensverlangen erzeugt; ganz einfach möchte man wissen, was denn mit diesen Menschen passiert, die in Stamms fragmentarischen Welten leben. Zudem gibt er durch seine Geschichten einen Einblick in die seelisch einsame Welt unserer Zeit. Er setzt seine Antihelden in Situationen, die Einsamkeit und Desorientierung schaffen und entwirft somit ein Mosaik von Alleingelassenen. Heitere Stimmung verbreitet Stamm nicht. Am Ende bleibt das Scheitern: Es ist ein Paar, dessen trister Urlaub und Distanz zwischen den beiden Protagonisten erzeugt, bis ungeahnt ein Unglück im Nachbarhaus der eben noch nervenden Familie zum Vorschein kommt, als man erfährt dass der Vater vor einem Tag versehentlich sein Kind überfuhr. Sowohl das Paar als auch die Familie bleiben wehrlos und es gilt die Akzeptanz des Geschehens, worauf lakonisch bereits der Titel der Erzählung verweist: Der Lauf der Dinge.
So könnte man das Geschehen sämtlicher Erzählungen beschreiben: Wenn ein älterer Mann seiner Frau den Koffer ins Krankenhaus bringen möchte, doch stattdessen einfach in den nächsten Zug einsteigt; wenn ein Mädchen beschließt fortan im Wald zu leben; wenn ein neuer Pfarrer in der leeren Kirche predigt, da er nicht von der Gemeinde akzeptiert wird; wenn die erste Liebe mit Gewicht plötzlich zum Problem wird; wenn eine eifrige Klavierlehrerin von ihrer Unfähigkeit als Konzertpianistin erfährt – dann ist es immer der Lauf der Dinge, den Stamm beschreibt und meist tut er es stimmig und überzeugend. Wenn Stamm jedoch von seiner sanften Ungewissheit abkehrt und beispielsweise Beziehungen, Geschlechtsverkehr oder Gewalt mit ›Happy End‹ und Action darstellt, erscheinen sie im Gesamtkonzept des Romans unpassend und überflüssig. Trotz allem beweist er mit Seerücken, dass er seine Intention real gezeichnete Bilder von Menschen und Beziehungen zwischen Menschen zu erschaffen umsetzen kann und dies über weite Strecken seines Buches auch tut.

Peter Stamm: Seerücken. Erzählungen. Frankfurt: S. Fischer 2011. 190 Seiten. 18,95 Euro.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

 
Creative Commons License
Diese Inhalte sind unter einer Creative Commons-Lizenz lizenziert.