Die Hölle der Dialektik

Peter Handke: Der große Fall. Erzählung
Von Nils Neusüß

In seiner neuen Erzählung Der große Fall nimmt Peter Handke den Leser mit in das Epizentrum der Hölle – den Stadtkern. Den namenlosen Protagonisten, einem modernen Orpheus gleich, schickt der Erzähler auf die Suche nach einer Frau, die er nicht liebt, sondern nur verehrt, ihr dankbar ist. In ihrem Bett beginnt die Reise, die einen Tag umfasst, von morgens bis nachts. Als er erwacht, der bekannte Schauspieler, ist die Frau bereits weg. Von dort, vom äußersten Rand einer Stadt, die nur eine Blaupause ist, wandert er in neun Kapiteln, die an Dantes neun Höllenkreise erinnern, durch die Stadtperipherie. Nur »dem Limbus, der abgeschafften Vorhölle«, bei Dante ein extra Kapitel, muss er sich nicht mehr stellen. Ihn sieht er nur noch von außen, als weit entfernten U-Bahn-Waggon.
Doch während er zum einen den Weg des Orpheus nachzuempfinden scheint, ist er darüber hinaus auch die Hauptperson in Miltons Paradise Lost, womit das Triumvirat der abendländischen Höllengeschichten perfekt wäre: Er ist Luzifer, der Satan, »zum Menschenfeind bestimmt«.
Und auf seinem Weg gibt es einiges, dass dem Schauspieler den Menschen zum Feind machen kann; ausschließlich hassenswertes Personal begegnet ihm da: Schon im vorstädtischen Wald kommen ihm ein joggender Nachrichtensprecher, Gesichtschirurgen auf ihren »Bikes« entgegen und sogar der »Präsident«, im Trainingsanzug, läuft samt Bodyguards und komplettem Regierungstrupp, Tagesplan erstellend, an ihm vorbei.
Zwar kam es dann vor, daß einer kurz irgendwo stehenblieb und mit seinem Mobiltelefon ein Foto schoß. Aber ein Innehalten, das war etwas anderes. Und als wieder einer im Durchmarschieren die Hand am Ohr hatte, war das ein Indiz, daß er oder sie etwas am Kopfhörerstöpsel regelte – daß von den Kunterbunten da auch nur ein einziger sich die hohle Hand unter die Ohrmuschel gelegt hätte zum Lauschen, stand vom ersten Moment schon außer Frage.
Doch diese Aufzählungen, dazu kommen später in der U-Bahn noch Menschen, die sich unter Helmen verschanzen, mit denen sie ungestört Musik hören oder telefonieren können, sind weder originell noch zeugen sie von guter Beobachtungsgabe. Stattdessen beweisen sie vollkommenes Unverständnis gegenüber der modernen Welt und sind nur ein Beispiel für typisches kulturpessimistisches Alt-Herren-Gewäsch.
»So einer ist episch, auch erdenschwer. Es ist von ihm vielleicht eine Geschichte zu erzählen wie von kaum jemand sonst.« Und eine Geschichte ist es, die der Erzähler präsentiert und deren Konstruktionscharakter er nicht verschleiert, sondern nahezu herausstellt: »Es war nicht zum ersten Mal, daß ihm etwas Gedachtes beinah im selben Augenblick leibhaftig begegnete-erschien […]. Er sah das als etwas Natürliches, eine Gesetzlichkeit.« So scheint zunächst auch die Rolle klar, die der Schauspieler sowohl in dieser Geschichte als auch am nächsten Tag in seinem neuen großen Engagement übernehmen soll, und von der er schon am Morgen in einem Buch liest: »Obwohl das Buch auf dem Küchentisch von einer Art Amoklauf erzählte, las er es nicht etwa, um sich auf seine Rolle vorzubereiten.« Auch sein Ende wird schon im ersten Satz vom Erzähler besiegelt: »Jener Tag, der mit dem Großen Fall endete, begann mit einem Morgengewitter.«
Doch was dieser große Fall sein soll, bleibt bis zum Ende unklar. Einen Hinweis könnten die vielen Höllen- und Religionsverweise bieten: Ein Priester, mit dem er nach einem einsamen Gottesdienst isst, nennt ihn Christoph, »denn Sie tragen, du trägst das Gewicht der Welt!« Gemeint ist der Heilige Christophorus, ein riesiger Mann, der das kleine Jesuskind über einen Fluss trug und sich dabei über dessen Gewicht beschwerte. Inzwischen ist er vor allem als Plakette auf dem Armaturenbrett in Autos bekannt, denn er gilt als Schutzpatron der Autofahrer. Doch zuvor hatte der Erzähler dem Schauspieler attestiert, er selbst sei »erdenschwer«, wonach er also selbst der Heiland wäre. Zusätzlich tauchen Verweise auf Engel auf, und dann doch immer wieder der Menschenfeind. Ist das Dialektik? Will Handke sagen, dass kein Mensch nur gut oder nur böse sein kann? Der Schauspieler, von dem erzählt wird, ist aber gar nichts von beiden: Der Leser erlebt ihn oft grübelnd, aber wenig handelnd, wirkliche Charakteristika sind da nicht erkennbar.
So ist es auch nicht er, von dem man dachte, er würde den ganzen Weg über auf den drohenden Amoklauf hinarbeiten, der am Ende den »Großen Fall« auslöst. Er ist gar nicht Akteur, sondern nur Voyeur.
Du bist weder König noch ein Desperado, Bruder Christoph. Du bist ein Schauspieler. Woran ich das erkannt habe? An deiner Unauffälligkeit, an deiner ›Unperson‹. Selbst allein auf weiter Flur wärst du zu übersehen.
Der Schauspieler ist lediglich anwesend, wenn im letzten Satz der Erzählung der große Fall geschieht, und der Erzähler möchte nicht offenbaren, worum es sich genau handelt. Mit Paradise Lost im Hinterkopf wären zwei Fälle möglich: Zum einen ist es der Sturz Luzifers, die Verbannung aus dem Paradies. Doch wer soll dieser Luzifer sein – der Schauspieler zumindest ist weder Lichtbringer noch Antichrist. Die andere Möglichkeit ist der Sündenfall. Doch diese Stadt und die Menschen in ihr sind nicht im Ansatz paradiesisch, die Menschheit ist also auch in Der Große Fall schon lange verbannt worden.
Bleibt nur die andere Fährte erneut aufzunehmen: Orpheus hat Euripide zurück erlangt, doch er begeht einen fatalen Fehler, er blickt sich um, sie stürzt zurück in den Hades und ist damit für immer verloren. Der Fehler, den entsprechend der Schauspieler begeht, ist sein Hunger: »Es war das ein Hunger nach Speisen, und ein Hunger nach mehr, viel mehr. So mächtig war er, daß er, der Hungrige, nein, der Hungernde, sich den Tränen nahe fühlte. […] Der Hunger nach Essen wurde gesteigert durch den Hunger auf eine, nein, auf die Frau, dort unten in der Stadtmitte – mit ihr eins werden, jetzt, und jetzt, nicht das Tier, sondern der Gott mit zwei Rücken.«
Seine Leidenschaft, seine Unfähigkeit zur Vernunft, so wie bei Orpheus, stürzt den Protagonisten offenbar in die Tragödie. Damit vertritt Handke eine Weltanschauung, die so profan ist, dass sich fast niemand mehr wagt, sie zu äußern: Der Mensch ist ein Tier, das sich selbst ins Verderben reißt und es nicht einmal merkt, sondern sich dabei auf die Schulter klopft. Eine Annahme so alt wie die Menschheit selbst – undifferenziert und irrelevant.
Wenn eine solche Generalanklage ernst genommen werden möchte, darf sie nicht auf Klischees und Allgemeinplätze fußen, da kann Handke auch kein mythologisches Untergerüst weiterhelfen.

Peter Handke: Der große Fall. Berlin: Suhrkamp 2011. 280 Seiten. 24,90 Euro.

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