Im Schatten des Nobelpreisträgers

Michael Degen: Familienbande
Von Kathrin D. Paszek


Familienbande ist ein Titel, bei dem man sich eine fröhliche Familie vorstellt, die fest zusammenhält und alle Probleme gemeinsam löst. Nicht aber bei Michael Degen und vor allem nicht bei der Familie, die im Zentrum seines Romans steht: Es handelt sich um die Familie Thomas Mann. Entsprechend der Aufmerksamkeit, die man dem Familienvater, Nobelpreisträger und Autor der Buddenbrooks schenkte, standen selbst bei seiner Frau Katia die Kinder im Hintergrund. Bekannt sind vor allem die älteren Geschwister Erika, Klaus und Golo, weniger hingegen Monika, Elisabeth und Michael.

Dabei scheint gerade Michael Mann, über den bisher noch keine eigene Biographie erschienen ist, prädestiniert für einen Roman: Von Geburt an vom Vater abgelehnt, wächst er in einer lieblosen Familie auf, in der ihm nur sein älterer Bruder als Vorbild, Freund und Vertrauter dient. Bereits im Kindesalter fällt er als stark aggressiv und gewalttätig auf, und verliert selbst im vorangeschrittenen Mannesalter des Öfteren die Kontrolle über sich und sein Handeln. Er macht Karriere als Bratschist und Violinist, nach dem Tod des Vaters als Germanist, bis er sich mit Drogen selbst das Leben nimmt.
In drei Teilen fokussiert Degens Roman dieses dramatische Leben: Der erste Teil beschäftigt sich ausgiebig mit Michaels Kindheit und seinem Verhältnis zu den Eltern und Geschwistern. Der zweite skizziert dessen Jugend im Schweizer Exil und den Aufbau einer eigenen Existenz. Der letzte Teil beschreibt seine Loslösung von der Familie und dem langsamen Verfall durch Drogen und Alkohol.
Um die Sonderrolle Thomas Manns kommt dabei auch Michael Degen nicht herum. Meist beiläufig beschrieben, spielt der Vater eine zentrale Rolle im Leben seiner Kinder. Auf der einen Seite wird er glorifiziert, auf der anderen Seite wird er als kaltherzig, schwach und verhaltensgestört beschrieben. Er ist auch in Michaels Augen eine gespaltene Persönlichkeit, die der jüngste Sohn einerseits abgöttisch liebt und bewundert, andererseits feindselig betrachtet und letztlich für ihre Lieblosigkeit hasst. Geradezu alle Beziehungen der sechs Kinder und auch der Mutter zum Vater werden erwähnt, zwar beiläufig und unerwartet, doch gut in den jeweiligen Stellen des Buches gesetzt.
Das Bild einer gestörten Familie entsteht, nicht zuletzt auch deshalb, weil Degen bereits den jungen Michael Mann im Bemühen zeigt, dem Vater sprachlich ebenbürtig entgegenzutreten:
Und haben Sie, Herr Papale, nach mehrmaligem Sitzenbleiben nicht auch das Handtuch geworfen? Und bedenken Sie doch, was am Ende, trotz allem, aus Ihnen geworden ist. Wer weiß denn heute noch, dass Sie im Grunde ein genauso miserabler Schüler wie ich gewesen sind.
Es ist ein Vergnügen, solche Szenen zu verfolgen, wobei Degen auch gerne ins Banale abschweift und bizarre Umschreibungen nicht auslässt. Im Kontext scheinen sie nicht unpassend, sondern eher unterhaltend, fast schon zu fantasievoll:
Er war von Beginn an nicht sehr erbaut drüber, dass man ihn in diese Welt geworfen hatte. Unter Beihilfe eines Vaters, damals fast schon weltberühmt, und einer Mutter, deren ausschließlicher Lebensinhalt ebendieser Vater war. Misstrauisch beäugte er seine Eltern und verbrüllte fast sein ganzes Babydasein. Dieser wütende Protest mochte vielleicht auch daher kommen, dass er sich mit der Lieblosigkeit seiner Umgebung nicht abfinden wollte. Sobald das unbewegte, kühläugige Gesicht seines Erzeugers über ihn auftauchte, schrie er vor Schreck auf. Diese ausdruckslose Miene versetzte ihn in Wut und Angst. Schon bald versuchte er, mit seinen strampelnden Beinchen das Gesicht über sich zu erreichen. Vergebens. Dafür schrie er. Und wie! Der Vater äußerte einmal, dass der Junge ihn ebenso wenig leiden könne wie er ihn. Am liebsten hätte er sich wohl zum Söhnchen ins Bett gelegt und auf ähnliche Weise gestrampelt. Aber das mochte er überhaupt nicht aussprechen. Schon gar nicht der Mutter gegenüber.
Degen lässt in seiner Darstellung der Manns keine der bekannt gewordenen Details über das Innenleben der Familie aus: Am harmlosesten sind hierbei die liebevollen Kosenamen wie Milein und Pilein oder die Entstehungsgeschichte für Michael Manns Kosenamen ›Bibi‹.
Dagegen stehen die detaillierten Beschreibungen der Drogenexzesse seiner älteren Geschwister, der vom Vater ausgelösten Verhaltensstörungen der Kinder und der brutalen Gewaltausbrüche Michaels. Umso realistischer scheint das zeitgenössische Verhalten der Familie Mann zum Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit, welche den 1932 geborenen Autor Michael Degen selbst sehr geprägt haben. Seine eigene Note bringt der aus einer jüdischen Familie stammende Autor mit der Betonung des Judentums in Thomas Manns Familie: die jüdische Herkunft, die bei Katia Mann durch die Konvertierung zum Protestantismus verdeckt, aber im Nationalsozialismus nicht vergessen wurde. Damit übt Degen auch eine indirekte Kritik an Thomas Mann, welcher trotz jüdischer Frau antisemitische Einstellungen gehabt haben soll.
Insgesamt liest sich das Buch Degens mit seinem chronologischen Verlauf und den unterhaltenden Beschreibungen flüssig. Ausschließlich hingebungsvollen Thomas Mann Fans sollte von dem Buch abgeraten werden, da dieser hauptsächlich negativ dargestellt wird. Selbst einige Werke des Nobelpreisträgers werden von den jungen Familienmitgliedern zumeist kritisch betrachtet, was das Buch vielleicht umso interessanter macht.

Michael Degen: Familienbande. Berlin: Rowohlt 2011. 480 Seiten. 22,95 Euro.

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