»Leben ist immer ein Problem, und jeder Tod eine Lösung«

Helmut Krausser: die letzten schönen Tage
Von Melanie Horn
 
»Und plötzlich pinkelte sich Serge in die Hose, seine hellblaue Jeans verfärbte sich dunkel, und rund um seine Füße entstand eine Pfütze« – die Hauptfiguren von die letzten schönen Tage sind typisch Krausser: der 33-Jährige Mann namens Serge, der »psychisch nicht ganz normal« ist, bei einem Geschäftsmeeting ausflippt und sich in die Hose pinkelt, ein koksender, sexsüchtiger Photograph namens David, der in der gleichen Firma arbeitet; und schließlich Kati, eine Frau, die es mit beiden Männern treibt, von letzterem aber nur »körperlich abhängig ist«. In abwechselnden Perspektiven erzählt Helmut Krausser einen dreimonatigen Ausschnitt aus dem Leben dieser drei Figuren, in dem eigentlich nur einer die Fäden zieht: Serge. Psychisch kaum zurechnungsfähig, besitzt er einen überdurchschnittlich hohen IQ und greift auf fast unheimliche Weise in das Leben von Kati und David ein.

Nach Serges ›missglücktem Meeting-Auftritt‹ machen er und Kati sich auf den Weg nach Malta. Wärme und Erholung sollen Serge helfen, sich wieder selbst zu finden. Doch da gibt es nichts zu finden, nichts anderes jedenfalls als eine »krankhaft zu nennende Verlustangst«, Selbstmordgedanken, eine Fantasie, die über jedes Maß hinausgeht und Eifersucht, immun gegen jegliche rationalen Argumente. Serge bleibt trotz Medikation und Psychotherapie gefangen in einer »auf [ihn] und [s]eine Marotten zugeschnittenen Welt«. Er beginnt, Kati immer stärker zu kontrollieren: Zunächst durchsucht er ›nur‹ ihre Jackentaschen, dann liest er ihre SMS. Als er eine simple Nachricht an einen David entdeckt, die bloß aus zwei Buchstaben besteht, »JA«, wird das Misstrauen so stark, dass er sich sogar ihres E-Mailzugangs bemächtigt. Sich als Kati ausgebend, schreibt er David von nun an E-Mails und erfährt so immer mehr von der inzwischen beendeten Affäre der beiden. Gleichzeitig aber erfährt Serge auch, dass immer nur er selbst in Katis Kopf dominierte: »In diesem Kopf drin, um nun zum weniger Aufregenden zu kommen, war hauptsächlich Serge. Stets hast du mir klargemacht, daß das zwischen uns nichts Ernstes werden könne, weil es ihn gab«. Doch trotz dieser Worte bleibt Serge hin- und hergerissen: An einem Tag liebt er Kati so sehr, dass er sicher ist, ihr niemals etwas antun zu können, an einem anderen aber hat er große Lust, sie einfach ins Wasser zu stoßen: »Sie ist der Klotz an meinem Bein. Mein Engel, mein Alles, was ich noch habe. Sie klebt wie Scheiße an meinem Schuh [...] ich liebe sie.«
Kati indessen glaubt an eine mögliche Heilung und sieht zu Serge auf: »Manchmal habe ich Schwierigkeiten damit, eine überzeugende Antwort zu finden, auf die Frage, warum jemand wie Serge sich mit jemandem wie mir zufrieden gibt.« Als eines Tages jedoch Serges Psychotherapeut, Dr. Huytens, Kati zu sich bestellt, erfährt die junge Frau die Wahrheit über den Geliebten: Mit 12 Jahren schubste dieser seine Mutter von der Kellertreppe, sie starb sofort. Als er Kati zum ersten Mal sah, war ihm, »als würde [er] nach sovielen Jahren ins verjüngte Gesicht [s]einer Mutter starren«. Kati ist ob dieser Wahrheit überfordert und unfähig zu handeln, was letztlich Serge für sie übernimmt: Sich weiter als Kati ausgebend, beschreibt er David per Mail ihre aussichtslose Situation, gibt ihm ihre Adresse und bittet diesen, Kati vor sich selbst zu retten.
Das Abschiedsbild ist trostlos – Kati ist mit David weg, Serge sitzt am Meer und reflektiert über das Leben:
Menschen gehen verloren, vertraute Wesen sind nicht mehr da, von einem auf den anderen Tag, und andere Wesen werden kommen und einem vertraut werden mit der Zeit – es geht so weiter, bis es nicht mehr weitergeht. Einfach ist das und grausam, und gut. Leben ist immer ein Problem, und jeder Tod eine Lösung.
Helmut Krausser stellt mit seinem Roman fundamentale Fragen über das Leben und die Liebe: Was eigentlich ist Wahrheit, und was Wirklichkeit? Ist nur das, was wir dafür halten, real? Und wo eigentlich sind die Grenzen von Liebe? Gibt es einen Punkt, an dem Liebe nicht mehr tragbar ist? Von den Figuren jedenfalls sind keine Antworten auf diese Fragen zu erwarten. Es bleibt nur folgende Erkenntnis:
Nichts wird uns je hinwegtrösten über den Umstand, daß wir eines Tages plötzlich weg sind, und mögen wir noch so vielen Menschen fehlen. Wenn die alle gemeinsam die Energie besäßen, uns zurückzuwünschen, das wäre ein Konzept, genial und eines wahren Gottes würdig. Dann, erst dann – würden wir alle so leben, wie es wünschenswert wäre, würden uns Freunde machen ohne Ende und in Liebe durch diese Welt wandeln.
Bietet die Haupthandlung einen Nährboden für Reflexionen vielerlei Art, so sind die Nebenhandlungen indes kaum erwähnenswert: Ein elf Jahre altes Mädchen namens Becky trifft sich mit zwei halbstarken jungen Männern und macht erste sexuelle Erfahrungen. Zwei ältere Frauen, Lisbeth und Jule, reisen gemeinsam nach Miami, streiten sich und versöhnen sich letztendlich wieder. Das Pokerpärchen Greta und Ralf, bei dem Serge und Kati in Malta unterkommen, verschwindet aufgrund hoher Schulden spurlos, taucht letztlich wieder auf und beschließt, nach Deutschland zu fliehen. Und schließlich gibt es da noch den Kater Johnson, der ob des Aufbruchs seines Frauchens Jule nach Miami einsam ist, und »nach klassisch römischer Art Suizid« begeht.
Die Verknüpfung dieser scheinbaren Einzelgeschichten mit der Haupthandlung ist trivial und schnell durchschaubar: Becky ist die Tochter von Davids älterem Bruder Arved, Jule ist Davids Mutter und David kümmert sich während ihrer Abwesenheit um den Kater Johnson. Kati wiederum ist mit Greta und Ralf befreundet. Weder stellen diese Hintergrundinformationen einen eigenständigen Mehrwert dar, noch werden sie zum Verständnis der Haupthandlung benötigt. Eine Auslassung dieser Nebenhandlung hätte die Geschichte gestrafft und den Fokus auf die wichtigeren Fragen gelegt, die Krausser in seinem Roman aufwirft.
Erwähnenswert hingegen ist wie immer die Kraussersche Sprache: Sätze wie »Sie war ein Fick gewesen, sie war siebzehn Ficks gewesen, um genau zu sein« oder »Deine Brüste sind herrlich, und die Färbung ihrer Nippel, dieses zarte Blaßrosa, wenn ich nur daran denke, steht er mir« machen die letzten schönen Tage zu einem »hautnahen« Erlebnis.
Auch intertextuell hat der Text einiges zu bieten: Kati ist Sängerin in einem Chor, den ein gewisser Dirigent namens Hermannstein leitet. Kenner der Krausserschen Literatur wissen: Arndt Hermannstein ist die Hauptfigur aus dem Roman UC. Interessant ist aber, dass in die letzten schönen Tage ein ganz anderes Bild des Dirigenten gezeichnet wird als in dem bereits 2003 erschienen Roman: Ist Hermannstein dort größtenteils desorientiert und überfordert ob der Erfahrungen mit dem Ultrachronus, aber als Person nicht unsympathisch, so wird er hier als durchweg unangenehmer Mensch beschrieben: »In der Probe heute hat Hermannstein über den Chor abgelästert, der einer mitteleuropäischen Hauptstadt nicht würdig sei. Ein guter Dirigent, aber so brutal und gemein«. Ob damit auf eine frühere Phase seines Schaffens hingewiesen wird und somit Hintergrundinformationen zur Figur Hermannstein aus UC geliefert werden, oder ob es sich gar um einen Querverweis auf bisherige Fehldeutungen der Hauptfigur von UC handelt, bleibt jedoch Interpretationssache.
Auffällig ist auch die Ähnlichkeit zu Kraussers Einsamkeit und Sex und Mitleid. Dass nach und nach Verbindungen aufgedeckt werden und sich ein Beziehungsnetz entfaltet, erinnert eindeutig an den 2008 erschienen Roman des Schriftstellers, wird hier leider aber auf weitaus geringerem Niveau umgesetzt.
Helmut Kraussers Roman die letzten schönen Tage erzählt von Menschen, die sich ständig die größte Mühe damit geben, herauszufinden, was im Kopf des jeweils anderen gerade vorgeht und am Ende deshalb in ihren Beziehungen zueinander scheitern: Kati glaubt Serge zu lieben, doch in Wahrheit ist sie zu keinem Zeitpunkt der Handlung in der Lage, diesen richtig einzuschätzen. Serge glaubt Kati zu lieben, gleichzeitig allerdings übersteigen die Gedanken, die er in sie hineininterpretiert, ihren Intellekt deutlich. Und schließlich glaubt auch David, Kati zu lieben, hat aber nicht die geringste Ahnung davon, was überhaupt in ihrem Kopf vorgeht. Er ist nicht einmal fähig, den Unterschied zwischen einer Korrespondenz mit der echten Kati und einer mit Serge festzustellen. Wirkliche Beziehungen zueinander haben alle drei nicht. Am Ende steht eine erschütternde Bilanz: Serge bleibt allein zurück, Kati entscheidet sich für den Mann, in dem sie im Grunde nur einen Gebrauchsgegenstand sieht, und David holt die Frau ab, die ihm tief in seinem Inneren eigentlich fremd ist. Alle Figuren gehen Kompromisse ein, und Helmut Krausser stellt damit die Spekulation in den Raum, dass zwischenmenschliche Beziehungen im Grunde immer nur Kompromisse sind.
Auch wenn die Nebenhandlungen ersatzlos gestrichen werden könnten und auch wenn die Ähnlichkeit zum besseren Einsamkeit und Sex und Mitleid mehr stört als bereichert, beweist Helmut Krausser mit die letzten schönen Tage einmal mehr, dass er einer der wenigen Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist, der in einer Literaturlandschaft voller Vergangenheitsbewältigungen und in einer Welt voller Unsicherheit und Schnelllebigkeit in der Lage ist, zu fruchtbaren Reflexionen anzuregen.

Helmut Krausser: die letzten schönen Tage. Roman. Köln: DuMont 2011. 223 Seiten. 19,99 Euro.

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