Schulmeister in Halbtrauer

Uwe Timm: Freitisch
Von Adrian Froschauer

Uwe Timms Novelle Freitisch geht der »existenziellen Frage« nach: »Was lässt sich umsetzen von den Wünschen und Hoffnungen, mit denen man angetreten ist?« – Zumindest behauptet das der Klappentext. Eine weitere Frage wirft Timm auf, indem er dem Text ein Zitat aus Arno Schmidts Die Schule der Atheisten voranstellt:
›warum &/ab wann beginnt ein Dichter, Bilder als Vorlagen zu verwendn?‹ (anstatt auf ›wirkliche Erlebnisse‹ zurückzugreifn) – ist das eine reine AltersFrage?; oder aber eine von Temperament?/Constitution?; (dh ›ist‹ Einer so; oder ›wird‹ Jeder so?).
Zwei Männer treffen sich unerwartet im vorpommerschen Anklam: der namenlose Ich-Erzähler, pensionierter Deutschlehrer, und Euler, Müllunternehmer und potentieller Investor, der die Kleinstadt von ihrem »Epitheton ornans ›sterbend‹« befreien könnte. Sie erinnern sich an die gemeinsame Studienzeit im München der frühen 60er Jahre. Zu jener Zeit sitzen sie zusammen mit dem existentialistischen Jungautor Falkner und »dem Juristen« ein Semester lang jeden Tag am titelgebenden Freitisch in der Kantine einer Versicherungsgesellschaft. Als Stipendiaten erhalten die Studenten hier jeden Tag kostenlos eine warme Mahlzeit, damit sie sich später bloß an die Großzügigkeit jener Versicherung erinnern. Bei diesen Treffen unterhalten sie sich über das Studium, die Frauen, das Essen und vor allem die Literatur – nicht zuletzt über Arno Schmidt, dessen Buch Kühe in Halbtrauer zum Dreh- und Angelpunkt vieler Gespräche wird.
Die idealistischen, intellektuellen Studenten der 68er-Generation kennt man aus Timms Werken zur Genüge. Im Falle des Erzählers liegt sogar die Vermutung nahe, dass man diesen bereits als Ulrich Krausse kennen könnte, den Münchner Studenten aus Heißer Sommer und den Lehrer aus Rot. Die Besonderheit an Freitisch ist, dass die Handlung in den frühen 60er Jahren spielt, noch wenig bis gar nichts vom radikalen Geist der 68er zu spüren ist und die Studenten es auf eine künstlerische, vielleicht auch philosophische Revolution anlegen, aber noch kaum einen Gedanken an eine politische verschwenden. Aber reicht diese leichte Variation des Szenarios und Ensembles aus, um einen originellen Text zu produzieren?
Timm erzählt äußerst geschickt: Die Rahmenhandlung und die einzelnen Episoden der Binnenhandlung werden elegant zu einem dichten Geflecht verwoben. Bald sind Erinnerungen und Gegenwart kaum mehr auseinanderzuhalten, zumal sie im Erzählfluss unvermittelt ineinander übergehen. Außerdem erklärt der Erzähler bereits nach wenigen Seiten: »Man fragte nicht nach dem Wahrheitsgehalt der am Tisch erzählten Geschichten.« Dieser postmodern anmutende Kniff ist zwar alles andere als subtil, verleiht dem Erzählgefüge aber eine zusätzliche Dimension.
Auch der Humor kommt wie gewohnt nicht zu kurz: Wortspiele, ungewöhnliche Metaphern, das Jonglieren mit der Sprache, häufig ganz im Schmidtschen Stil, ziehen sich durch die gesamte Novelle. Amüsant ist zum Beispiel, wenn der Erzähler erklärt, Euler »pfropf[t]e ein Edelwort auf«, als dieser von ›Abfallwirtschaft‹ spricht. Für Konsternation hingegen sorgt ein Satz wie folgender, der kontextlos zwischen zwei Abschnitten hängt: »So ganz nickelmannt stehen und jappen.« Neben Sprachwitz schleicht sich aber auch der eine oder andere derbere Scherz oder eine Karikatur des deutschen intellektuellen Studenten ein.
Doch all das kennt man, das ist typisch für Uwe Timm. Beschäftigt man sich länger mit Timms Schaffen, dann hat man die Figuren bereits kennen gelernt, die Dialoge bereits gelesen, über die nostalgische, aber zugleich ironische Betrachtung des Studentenlebens in den 60er Jahren bereits geschmunzelt. Dies weist gewohntes Niveau und Qualität auf, schafft es in Freitisch aber nicht, eine Aura von biederer Altbackenheit abzuschütteln. Die macht den recht kurzen Text trotz stilistischer Finessen äußerst vergessenswert. Als »unprätentiös« und »zwanglos« wird das Buch bezeichnet (Die Zeit), als »natürlich« und »gemütlich« (Frankfurter Rundschau). Solche Adjektive können durchaus für ein Buch sprechen, wie Timm selbst mit interessanten Geschichten über unspektakuläre Einzelschicksale mehr als einmal bewiesen hat. In diesem Fall würde das Adjektiv ›langweilig‹ allerdings wesentlich besser zutreffen. Uwe Timm ist es gewohnt, mit wenig Handlung große Wirkung zu erzielen. Dennoch schafft er es nicht, aus Freitisch mehr als die nostalgische, etwas zerstreute Plauderei eines altlinken, deutschen Schulmeisters zu machen, der in Halbtrauer den 68ern nachhängt.
Es ist nicht das erste Mal, dass Literatur in Timms Werk thematisiert wird. Hier werden die sprachphilosophischen und literaturwissenschaftlichen Exkurse allerdings – besonders in den Diskussionen am Freitisch – derart aufdringlich, dass man sich auch als interessierter Germanist das eine oder andere Mal dabei ertappt, die Augen zu verdrehen und sich zu fragen, wann die Handlung endlich weitergeht. Ohne eine gewisse Bildung auf diesen Gebieten dürfte sogar ein großer Teil des Reizes an Freitisch verloren gehen. Denn Timm platziert die Exkurse nicht dezent am Rande, sondern widmet ihnen große Aufmerksamkeit. So sehr sogar, dass die interessante Thematik des Verlorengehens von Idealen und Leidenschaft nur oberflächlich präsent bleibt, aber nie eingehend bearbeitet wird; die exemplarischen Biographien der Figuren werden nicht mit Leben gefüllt. Häufig wird diese Thematik zugunsten eines gewitzten Schmidt-Zitats oder einer Meta-Spielerei mit der Gattung Novelle zurückgestellt und sogar aus den Augen verloren. So ist Falkner ein ambitionierter, aber äußerst selbstkritischer Autor, der die Konflikte, die alle anderen Hauptfiguren umtreiben, widerspiegelt. Sein Name stellt einen Bezug zu Paul Heyses Falkentheorie her. Das ist nicht gerade der subtilste Schachzug – in einem Exkurs direkt auf diese Parallele hinzuweisen, ist sogar bevormundend dem Leser gegenüber. Zudem wirkt es schlicht inkonsequent, dass Timm auf der einen Seite subtile literarische Anspielungen versteckt äußert, sich auf der anderen Seite aber dazu gezwungen sieht, diese konkret zu erläutern.
Wesentlich dezenter spielt Timm mit der Frage, was denn nun in der recht handlungsarmen Geschichte die novellentypische ›unerhörte Begebenheit‹ sein könnte. Wiederholt tauchen Ereignisse auf, die in Frage kämen, jedoch einige Seiten später schon keinen allzu großen Einfluss mehr auf die Geschichte haben, da sie im Strom aus halbwahren und halbtraurigen Anekdoten untergehen. So zum Beispiel die kurze, unterhaltsame Episode, in der Falkner bei einem Happening ein Klavier mit der Axt zerlegt, statt, wie von allen erwartet, endlich einen eigenen Text vorzutragen. Erst kurz vor Schluss wird mit einem mühsam vorbereiteten und lange erwarteten Besuch bei Arno Schmidt und der einhergehenden Desillusionierung Eulers ein wirklich einschneidendes Erlebnis geschildert. Nur in diesem Moment zeigt sich eine virtuose Symbiose aus Inhalt und Form; hier sind die stilistischen Spielereien endlich kein reiner Selbstzweck mehr.
Als »wackeres Schmidt-Imitat« bewertet der von den Hauptfiguren verehrte Schriftsteller Eulers eigene literarischen Bemühungen: »Ich kann bei der Sprechzerhacke nur abwehrend die gespreizten Hände aufstellen. Denn schon besser solide erzählen.« Das »solide Erzählen«, das Uwe Timm besser liegt als wilde Sprachexperimente, wird vom fiktionalisierten Arno Schmidt heruntergespielt. Das lässt sich als Hinweis darauf verstehen, dass Timm sich als Verehrer, aber eben nicht als Imitator Schmidts sieht. Die Ernüchterung über den »großen Arno«, der auch nur ein Mensch ist, lässt die Würdigung differenzierter und nicht als bloße Schmidt-Beweihräucherung erscheinen.
Arno-Schmidt-Liebhaber werden sich über die clevere Hommage freuen, die von einem Mann kommt, der mittlerweile selbst zu den Großen seines Fachs gehört. Uwe-Timm-Liebhabern kann Freitisch allerdings nichts Neues bieten; in seinem Schaffen ist diese charmante, aber uninteressante Novelle lediglich als Nebenwerk zu bewerten.
Mit Freitisch hat ein Literat ein Stück Literatur geschaffen, das von Literaten handelt und an dem vermutlich auch nur Literaten Gefallen finden.

Uwe Timm: Freitisch. Novelle. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011. 136 Seiten. 16,95 Euro.

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