Der ewige Ritt auf dem Bock

Peter Höner: Gynt
Von Nils Neusüß

Jakob Blatter ist Peer Gynt. Auch seine Tochter Anita war es einmal und ihr ehemaliger Liebhaber Felix ist es immer noch: Dies sind nur drei der zehn Figuren, von denen Peter Höner in Gynt erzählt, und die alle, miteinander verwoben, Henrik Ibsens Peer Gynt als Gemeinsamkeit haben. In zehn Kapiteln, jeweils mit Fokus auf einer Figur, entfaltet sich die Geschichte einer Theateraufführung: Die beiden Lehrer Severin und Anita möchten mit ihren Klassen, unter Anleitung der beiden Schauspieler Daniel und Felix, Peer Gynt auf die Bühne bringen. So wird nicht nur das Geschehen im Umfeld dieses Vorhabens berichtet, sondern auch die einzelnen Schicksale und ihre ganz persönliche Verbindung zu Peer und seinem Charakter beleuchtet.
Die Unterschiede zwischen den Figuren gestalten sich bei Höner auch als eine Generationsfrage: Während Jakob mit seiner neuen Identität als Pensionär hadert und die Generation seiner Tochter sich selbst sucht, wird die Schulklasse von essentiellen Zukunftsängsten gequält. Luka, ein junger Migrant, kann dies am deutlichsten ausdrücken, wenn er seiner Freundin seine apokalyptische Vision des Jahres 2031 schildert:
Schuld an der Zerstörung waren nicht nur der Stromausfall und der Sturm, die fehlende Hilfe von Auswärts, sondern die ohnmächtige Wut der Bewohner. Verbitterung und Hass, Brutalität und Verrohung, und die permanente Angst, zu kurz zu kommen, hatten die Stadt in ein explosives Tollhaus verwandelt. Die Könige der Selbstsucht lieferten sich eine letzte Schlacht.
In dieser Binnenerzählung, von ihm geschildert während auf dem Küchentisch ungeöffnet die nächste Absage für eine Ausbildungsstelle wartet, zeigt sich Lukas’ Verständnis von Peer: Er reduziert ihn auf seine Episode als Kaiser der Selbstsucht in einem Irrenhaus in Kairo – als jemanden, der ohne Werte, skrupellos und egoistisch, dort nach der Macht greift, wo sie sich ihm anbietet. In seiner Untergangsfantasie sind es diese Menschen, die eindeutige Mehrheit der Gesellschaft, die die Welt in den Ruin treiben. Sie sind es auch, die ihm aufgrund seiner Herkunft einen Ausbildungsplatz verwehren.
Eine andere Auslegung des ewigen Traumtänzers Gynt wird in der Episode um Anita präsentiert: In einem Brief erklärt sie ihrem einstigen Geliebten Felix, warum sie ihm in ihrer Jugend monatelang ein Schauspiel vorgeführt hatte und ihn dann, bei dem Auffliegen desselben, für immer verließ. Um ihr Liebesleben vor ihren Eltern zu verheimlichen, lies sie sich von ihren Freunden nicht nach Hause bringen, sondern an anderen Häusern absetzen. Dabei entwickelte sie eine Lust an der Erfindung von neuen Existenzen: Zu einem großen Haus mit üppigem Garten hatte sie eine besondere Beziehung, und die Geschichte, sie sei die Tochter der Besitzer, spielte sie auch Felix vor. Sie ging sogar so weit, in den Garten einzubrechen und sich im bisher verlassenen Gartenhaus häuslich einzurichten: »Wie verkrafte ich diesen Spagat zwischen einer Realität, die ich kaum wahrnahm und meinen Lügen, die ich für wahr hielt? Ich erfand mich aus Lust. Später aus Not.«
Auch so lässt sich Peer verstehen – als Phantast, der seiner unschönen Realität entflieht, indem er sich eine neue, bessere erfindet; der seiner Mutter, während sie stirbt, vorspielt, sie würden sich in einer Kutsche auf dem Weg zum König befinden und ihr so die letzten Minuten erleichtert.
Peter Höner, selbst Schauspieler, schafft es so, unterschiedliche Zugänge zu Ibsens dramatischer Ballade zu öffnen und den Klassiker durch seine eigene Fiktion differenziert zu beleuchten.
Er spielt mit den Formen: Neben dem Brief und der Binnenerzählung nutzt er beispielsweise auch die seltene Du-Erzählung oder den Bewusstseinsstrom. Außerdem kann Höner durch die Episodenstruktur nicht nur Peer Gynt aufs Unterschiedlichste betrachten, sondern auch die einzelnen Figuren aus verschiedenen Perspektiven zeigen. Wird Luka beispielsweise in seinem Kapitel als Opfer präsentiert, stellt Miriam ihn in ihrem Part als kiffenden Unruhestifter dar. Dies führt zu einem angenehmen, da wenig wertenden, Gesamtbild.
Einzig die Geschichte von Sarinas Schicksal fällt negativ aus der Reihe: In Tagebuchform schildert die Sechzehnjährige selbst ihr Leben, das obsessive Verhalten ihres Ex-Freundes, ihre Ängste und Wünsche und schließlich eine versuchte Vergewaltigung durch diesen ehemaligen Freundes – die irrationalen Schuldgefühle, das Mobbing der Schulkameraden und letztendlich ihren Selbstmordversuch.
Dadurch stellt er sich eine Aufgabe, der er nicht gewachsen ist: Zum einen wirkt der jugendliche Jargon arg aufgesetzt, die zusätzlichen Emoticons (:-#) verschlimmern die sprachlichen Ausfälle noch. Schwerwiegender hingegen ist der Umgang mit dem Schicksalsschlag, den Sarina erleiden muss. Die Motivation, den Angriff auf sich zu verheimlichen, und den Stumpfsinn, der bisweilen in ihren Gedanken und Taten zu finden ist, erzeugen eher Ablehnung als Sympathie für das Opfer.
Ganz anders verhält es sich mit der ersten Episode um Johanna, die eine Art Prolog darstellt: Die gealterte Schauspielerin soll am Wiener Burgtheater die Solveig, Peers große Liebe, verkörpern. Doch ihre Paraderolle war immer das Gretchen aus Faust und daher empfindet sie die Rolle der bis ins Unendliche auf den Geliebten wartenden Solveig als Fehlbesetzung: »Ihre Figuren schwebten nicht über den Wolken, sondern standen auf dem Boden der Tatsachen. Sie handelten entschlossen, mutig und klar. Wie sie.« Sie merkt nicht, dass dies eine kolossale Fehleinschätzung ist, denn während sie dies denkt, wartet sie spät in der Nacht auf Daniel, der immer nur für kurze Treffen aus der Schweiz zu ihr kommt. Dass Daniel am Ende von Gynt auf eben einer solchen Fahrt sterben muss, schließt den Kreis, in dem es um Peer Gynt, verschiedene Sichtweisen, Alter und Jugend, das Theater und immer wieder die Kraft der Phantasie geht.

Peter Höner: Gynt. Zürich: Limmat 2011. 283 Seiten. 29,50 Euro.

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