»Ein Aufriss der Schädeldecke«

Albert Ostermaier: Schwarze Sonne scheine
Von Nicolas Franke


Bereits der Buchtitel von Ostermaiers neuem Werk lässt Spannendes und Mysteriöses erhoffen: Wer oder was ist diese schwarze Sonne, deren finsteres Licht erstrahlen soll?
»Wie ein Torwart Tore schießen will, so wollte ich schon immer als Lyriker einen Roman schreiben. Im Ernst: es war schon immer eine meiner größten, unerfüllten Sehnsüchte«, antwortete der Torwart der deutschen Autorennationalmannschaft und bekannte Gegenwartslyriker und -dramatiker in einem früheren Interview mit Blattwerk. Nach seinem Romandebüt Zephyr 2008 erschien 2011 sein zweiter: Schwarze Sonne scheine.
Albert Ostermaier, 1967 in München geboren, publizierte, knapp über 20 Jahre alt, bereits seine erste Gedichtsammlung. Bald darauf erhielt er das Münchner Literaturstipendium und festigte durch weitere Gedichtbände seinen Ruf als Lyriker. Das 1995 im Bayrischen Staatsschauspiel München uraufgeführte Stück Zwischen zwei Feuern. Tollertopographie ebnete ihm auch den Weg als Theaterautor.
Im Zentrum des Romans Schwarze Sonne scheine steht der 24-jährige Ich-Erzähler Sebastian, der erkrankt von einer Jemen-Reise nach München zurückkehrt. Obwohl er sich bereits von der Krankheit erholt hat, drängt ihn Silvester, Abt und Freund der Familie, eine Ärztin aufzusuchen, die Professorin Sybille Scher. Von Sebastian wird diese als »jungenhaft und männlich zugleich« beschrieben, sie habe »etwas fast Verruchtes, Obszönes, Aufforderndes« an sich. Sie diagnostiziert einen tödlichen Herpesvirus, der einzig in Atlanta mit noch nicht erprobten Medikamenten und einer Lebertransplantation behandelt werden könne. Einen Grund, an ihrer Diagnose zu zweifeln, sieht Sebastian nicht, denn die Ärztin behandelte schon Silvester erfolgreich, als er krank von einer Auslandsreise zurück kam
Sebastian besuchte die Klosterschule, der Silvester vorsteht. Auch über das Abitur hinaus besteht zwischen den beiden eine enge Freundschaft: Dem Abt legte Sebastian seine ersten lyrischen Werke vor und Silvester stand ihm bei seinen ersten Lesungen zur Seite. Gemeinsam verbrachten sie die Ferien in Venedig, musizierten in einer Rockband, gingen zusammen essen. Silvester entwickelte sich zu einer wichtigen Bezugsperson im Leben Sebastians, zu einem »Lebensabschnittsvater«. In seiner Nähe fühlt sich Sebastian, der von seinen Mitschülern als Außenseiter behandelt wurde, geborgen. Silvesters Charakter ist jedoch zwiespältig: auf der einen Seite wird er als weiser Priester beschrieben, von dessen Worten eine unglaubliche Anziehungskraft aus geht. Auf der anderen erscheint er selbstgerecht und schwelgt im Luxus. Wie eine Prophezeiung akzeptieren Sebastian und seine Eltern die tödliche Krankheit. Nur Sebastians Freundin Klara besteht darauf, ein zweites Urteil einzuholen. Doch Sebastians Ansichten beginnen sich erst während eines Essens mit Silvester in einem Münchner Edellokal zu ändern: Während die beiden Langusten knacken und Barrique-Rotwein genießen, offenbaren sich die Beweggründe hinter Silvesters Bestreben, seinen Schüler zu Professorin Scher zu schicken:
Es ist eine Grenzüberschreitung, einen Gesunden zum Arzt zu schicken. Es ist die Verletzung eines heiligen Bezirks. Du trägst die Verantwortung für dein Leben. Ich trage die Verantwortung für meine Sorge um dich. […] Du musst in ein inneres Kloster gehen, glaub mir.
Ein Alptraum, in dem sich Sebastian bereits auf dem OP-Tisch liegen sieht, gibt den entscheidenden Ausschlag, eine zweite Expertenmeinung einzuholen. Professor Lamm schließlich lüftet das Geheimnis um Sebastians mysteriöse und vermeintlich tödliche Krankheit: die Viruserkrankung ist nur eingeredet, ebenso wie die Tatsache, dass Professorin Scher Ärztin ist. Doch erleichtert fühlt sich Sebastian nach der Enthüllung dieser Wahrheit nicht. Für ihn bricht eine Welt zusammen: Die einstigen Todesängste weichen quälenden Fragen: Wusste Silvester, was es mit der Ärztin auf sich hat, als er ihn zu ihr schickte? Ist er selbst Opfer einer Hochstaplerin geworden oder machte er mit ihr gemeinsame Sache, um Sebastian und seine Familie – auch finanziell – enger an das Kloster zu binden? Eine Antwort auf diese Fragen sucht man im Roman vergeblich. Silvester, dessen seelsorgerische Worte Linderung bringen sollten, hüllt sich in Schweigen. Was Sebastian am Ende bleibt sind nicht die Gefühle eines Todkranken, sondern eines Verratenen.
Mit einem außerordentlichen Pathos schildert Ostermaier diese Lebensphase Sebastians, dessen Gefühle zwischen Todesfantasien und Lebenswillen hin und her pendeln. Er erschafft Gedankengänge Sebastians, die als Sturmfluten von Wörtern, bestehend aus Metaphern, Neologismen, Wortwiederholungen und schier endloslangen Hypotaxen auf den Rezipienten niederprasseln:
Der Georgsaal im Kloster, alles ist verdunkelt, ein silbernes Kreuz blitzt auf, der Projektor wirft das nächste Bild an die Wand, ein tiefer Ton aus der Flötenlunge, gepresst, zärtlich abgefangen, dann fast geschrien, er wiederholt sich, wird schneller, ein stechendes Stakkato, die Lippen Silvesters auf der Querflöte kaum sichtbar, seine fliegenden Fingerspitzen, die plötzlichen Pausen, er wartet, wartet, dass ich einsetze, dass ich meine Sätze auf seine Notenzeilen lege, hinstrecke, jage, dass die Worte sich in die Arme der Akkorde werfen, sich mitreißen lassen, sie mitreißen, dass alles sich miteinander mischt, wirbelt, den Raum füllt, in Vibration versetzt, der Rhythmus wird heftiger, drängender, schleudere die Silben singe sie, halte inne, ein Wind weht zwischen uns, trägt die Hitze, Töne, die Worte und Widerworte zu den Bildern Claudes an der Wand, das Licht bündelt sich, als wollten die Projektionen die Mauern niederreißen, Himmel und Horizonte aufmachen, der Enge zu entfliehen, über die Felder, die Baumwipfel, den Wolken nach, nur den Wolken nach.
Auf eindrucksvolle Weise zeigt Ostermaier seinen Sinn für Sprachästhetik und seine Liebe zur Sprache. Doch, wie man einen Menschen durch zu viel Liebe einengen kann, so kann man ihn auch mit Sprache erdrücken. Permanente rhetorische Fragen wie »Was wollte ich da noch erleben? Was wäre wichtig? Sollte ich beten?« wirken zunehmend störend. Sprachspielereien drücken zwar den Einfallsreichtum des Autors aus, wirken in diesem Roman aber oftmals deplatziert: »Was wollte ich hier? Gewissheit? Gänseblümchenmäher.« Die Bewusstseinsströme Sebastians erscheinen oftmals überfrachtet an spachstilistischen Finessen. Unbefriedigend und sogar dürftig erscheint die Handlung des Romans. Die Fragen, die die Überschrift aufwerfen, werden gar nicht, oder nur zum Teil beantwortet: Sollte mit der schwarzen Sonne die katholische Kirche gemeint sein, so wird dies nicht ausreichend deutlich. Dem Rezipienten wird Einblick in die Gedankenwelt eines scheinbar Todkranken gewährt. Die künstlich hochgeschraubten Gedanken, die durch Sebastians möglicherweise infiziertes Gehirn jagen, sind ein Lesegenuss für Sprachästhetiker. Wer allerdings auf der Suche nach einem soliden Plot ist und sich am Ende des Buches nicht mehr allzu sehr mit dessen Interpretation beschäftigen will, sollte lieber einen Bogen um diesen Roman machen.

Albert Ostermaier: Schwarze Sonne scheine. Roman. Berlin: Suhrkamp 2011. 287 Seiten. 22,90 Euro.

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