Gebrauchstheater

Ulrike Syha: Herr Schuster kauft eine Straße
Von Johannes Birgfeld


Theater sind mitunter eigenwillige Orte: Während heute Regisseure, Bühnenbildner oder Ausstatter vehement ihre künstlerische Autonomie betonen und durchsetzen, sind sie zugleich gemeinsam mit den Dramaturgen überwiegend der Auffassung, dass dramatische Texte prinzipiell einer Bearbeitung, Kürzung oder Ergänzung bedürfen, bevor sie zur Aufführung gebracht werden können. Ähnlich lässt sich an Theatern eine Praxis beobachten, die in anderen literarischen Gattungen unüblich ist: Fast niemand erwägt heute, Autoren für eine festgeschriebene Summe mit der Niederschrift eines Romans oder eines Gedichtes zu beauftragen. Theater hingegen entscheiden sich regelmäßig für die Kommissionierung neuer Auftragsdramen. Auch dabei kann der Eindruck entstehen, dramatische Literatur gelte an Theatern als auf Zuruf herstellbare Ware mit einiger Nähe zur Gebrauchsliteratur. Dies ist besonders dann der Fall, wenn zwischen Autor und Theater sogar konkrete Themen für das zu schreibende Stück vereinbart werden.
In der Saison 2009/2010 war Ulrike Syha, Jahrgang 1976, Hausautorin am Mannheimer Nationaltheater. Ihr Schauspiel Herr Schuster kauft eine Straße, das im Herbst 2010 ebendort uraufgeführt wurde, entstand als Auftragsarbeit des Hauses. Wie eng die Vorgaben bzw. die gemeinsame ›Zielvereinbarung‹ für die dramatische Arbeit Syhas waren, ist nicht öffentlich gemacht worden. Gedruckt liegt Herr Schuster kauft eine Straße nur in Theater heute vor (11/2010). Zuvor waren am selben Ort bereits Autofahren in Deutschland (2/2003) und Privatleben (12/2008) erschienen. Weitere Stücke Syhas sind bisher nicht publiziert. Die genannten Stückabdrucke aber, mehrere Stipendien und Förderpreise sowie zwei Nominierungen für den Mühlheimer Dramatikerpreis (2003 Nomaden, 2009 Privatleben) weisen Syha als Nachwuchsdramatikerin aus, die beachtliche Anerkennung genießt.
Herr Schuster kauft eine Straße steht fest in der Tradition des dramatischen Theaters. Das Stück besitzt keine Einteilung in Akte oder Szenen, wird aber von fünf klassisch-psychologisch motivierten Charakteren mit stabiler Identität getragen: Im Garten ihres Reihenhauses verbringen Georg Schuster und seine Frau Valerie mit ihrem lettischen Au-Pair-Mädchen Luize sowie mit Valeries Schwester Vera und beider Mutter Karin einen späten Sommernachmittag. Ein angeblich von Karins Ex-Mann Horst erbetenes Treffen mit seiner Ex-Frau ist der Anlass der Zusammenkunft.
Das Bühnenbild hat sich die Autorin schlicht vorgestellt: »auf dem Gartentisch: ein Monopoly-Spiel. Neben dem Teich: ein roter Spielzeugtraktor. Um den Tisch herum: die Familie« (S. 2). Ähnlich karg fällt die ›Handlung‹ aus – besser wäre von einer fast statischen Konstellation zu sprechen, denn die Familienmitglieder verlassen ihre Plätze am Tisch kaum. Herr Schuster macht sich am Monopoly-Spiel zu schaffen, liest die Regeln, baut es auf. Einmal deckt man gemeinsam den Abendbrottisch. Ein Telefon klingelt, eine Tasse fällt zu Boden und zerbricht, die Schwiegermutter verlässt für eine Weile den Garten, um Zigaretten zu kaufen. Luize schlendert gelegentlich vom Teich zum Haus und zurück. Einmal sieht Syha zwei Szenen vor, die parallel zueinander ablaufen: Herr Schuster füttert die Fische am Teich und spricht mit Luize. Am Terrassentisch entspinnt sich derweil ein Gespräch unter den Schwestern Valerie und Vera. Darüber hinaus passiert nur noch eines: man spricht miteinander.
Syhas Herr Schuster kauft eine Straße ließe sich vielleicht als ein ›bürgerliches Familien- und Konversationsstück‹ charakterisieren: Sein Personal rekrutiert sich mit Ausnahme Luizes aus dem Kreis einer bürgerlichen Familie. Deren Mitglieder, ihre Beziehungen zueinander und ihre Lebensentwürfe stehen inhaltlich im Zentrum des nachmittäglichen Gesprächs. Und dieses ist vor allem ›Konversation‹: im offeneren Sinn einer ›Plauderei‹ wie im engeren Sinn eines Gesprächs ›in fein gebildeten Kreisen‹ und ›unter Beachtung von Umgangsformen‹.
Georg, Karin, Vera und Valerie jedenfalls zählen nicht nur zur gut gebildeten Mittelschicht, ihr Gesprächston ist auch entsprechend bildungsbürgerlich elaboriert (»Haben die Kinder nicht nach Ihrer Großmutter gefragt?« – »›Großmutter‹ ist eine Vokabel, die sie verständlicherweise recht selten gebrauchen«, S. 2). Georg und Valerie mühen sich zudem um ein gewisses ›Niveau‹ im Umgang miteinander und formulieren wiederholt Sprechverbote vor allem für Karin:

Was ist denn? Mir wurde mitgeteilt, ich soll mich zügeln, wenn ich über euren Vater und unser ehemaliges Sexualleben spreche, ich soll mich zügeln, wenn es um euer Dasein und euer generelles Desinteresse an der Welt geht, aber dass ich mich jetzt auch zügeln soll, wenn wir über Stockhausen reden – darüber hat man mich noch nicht informiert (S. 5).
Das Gespräch selbst freilich überschreitet den Rahmen einer unverbindlichen Plauderei inhaltlich nicht, denn Georg, Karin, Vera und Valerie mögen einander kaum. Nur aus Höflichkeit und Pflichtgefühl verbringen sie den Nachmittag gemeinsam. So wird zwar viel geredet, miteinander gesprochen aber kaum. Stattdessen steigert Syha die ›Konversation‹ zu einem das Stück dominierenden offenen Schlagabtausch, der die verschiedenen Lebensmodelle der Beteiligten erkennbar werden lässt und der aus ihrer Gegensätzlichkeit Witz, Pointe und Komik zu generieren sucht: Kaum etwa bittet man Luize um Hilfe beim Abendbrot, da beklagt Karin laut die »[k]oloniale[n] Zustände« (S. 9) im Haus ihrer Tochter. Einen Angriff Karins auf die Kleinbürgerlichkeit ihrer Wohnverhältnisse in einem Reihenhaus wollen Valerie und Georg mit dem Hinweis auf besondere Einzugsumstände abwehren – »als Valerie plötzlich zum zweiten mal schwanger war« –, da kontert Karin: »Valerie ist doch eher regelmäßig schwanger als plötzlich« (S. 6).
Dysfunktionale Familien gehören schon lange zum Repertoire deutschsprachiger Bühnen, ebenso groteske Porträts der (bürgerlichen) Mittelschichten, ihres Scheiterns, der Absurdität und Lächerlichkeit ihrer besonders hochfliegenden Ambitionen. Auch in Fernsehen und Kabarett ist dieses Sujet wohlerprobt. Ein Theaterstück, das sich heute daran versucht, steht also unter einem hohen Originalitätsdruck, nicht schlicht zu wiederholen, was schon im Überdruss bekannt und weitgehend in den Bereich der Trivialität abgesunken ist.
Syha setzt, das zeigt bereits die erste Regieanweisung in Herr Schuster kauft eine Straße, auf Überzeichnung und Klischees: »In einem linksliberalen Garten mit Au-pair und Teich«, so führt sie die Szenerie ein und signalisiert, dass sie sich im Folgenden nicht für Nuancen und Komplexität interessiert, sondern Gewinn aus einer holzschnittartigen Darstellung zu ziehen hofft.
Dementsprechend fallen die Figuren aus: Georg entspricht dem Stereotyp des gescheiterten Intellektuellen, der von seiner Frau nicht ernst genommen und natürlich mit ihrem Chef betrogen wird. Das Au-pair-Mädchen Luize ist das ›geheimnisvolle‹ Element (sie arbeitet wenig, spricht fließend jenes Deutsch, das sie bei Schusters doch erst lernen sollte), und weckt natürlich Georgs Interesse, wenn nicht Begehren. Karin schließlich ist ein potenziertes Stereotyp: eine von ihren Töchtern gehasste, überdominante Mutter, die den Ehemann ihrer Tochter verachtende Stiefmutter, femme fatale der Ökobewegung der 1980er Jahre, Provokateurin und Egomanin par excellence, eine Frau ohne Feingefühl und genau jenes Schreckbild der Emanzipation, das Konservative einst malten, das seither ein schlimmes Klischee geworden ist und das Syha nun wiederholt. Es besteht in der Behauptung, dass die selbstbestimmte, politisierte Frau bloß vorgeblich um Selbstverwirklichung und die Rettung der Welt ringt, tatsächlich aber nur mit jedem erreichbaren Mann ins Bett steigt und Mann und Kinder am Ende mit einem südländischen Liebhaber verlässt.
Vera schließlich ist Vaters Liebling, Soziologin, ewige Studentin, promovierend und nur begrenzt zurechnungsfähig. Denn statt am Gespräch der anderen teilzunehmen, eruptiert sie nur ab und an störend in dieses hinein – mit Monologen, die primär ihrer Verachtung für die Welt Ausdruck geben: »Körper. Sperma. Eizellen. Schwangere Bäuche. Das ist doch widerlich. Lauter schwangere Bäuche, die dann noch mehr Körper erzeugen. Noch mehr Sperma. Noch mehr Eizellen. Noch mehr schwangere Bäuche. Gott, widert mich das an« (S. 14).
Herr Schuster kauft eine Straße ist dabei interessant komponiert: Dem sparsamen Bühnenbild und dem Verzicht auf Plot und größere Handlungsbögen entspricht die Fokussierung auf die Figurenrede, auf die Konversation. Und dieser hat Syha drei weitere Kommunikationsebenen beigefügt: Erstens sehen die Regieanweisungen zahlreiche vielsagende Blicke vor – auf Luize, den Gatten, eine »Pfeffermühle aus Edelstahl« (S. 11), auf einen der anderen Anwesenden. Zweitens ist eine filigrane Geräuschdramaturgie vorgesehen, die regelmäßig die nachbarliche oder natürliche Umwelt in den Familienkreis hineinträgt, diesen so kontextualisiert und ihm dadurch stellvertretenden Charakter verleiht: »Irgendwo lacht ein Kind« (S. 3), »Man hört das Hupen eines Transporters« (S. 6), oder: »Und wieder fährt der Wind durch die Blätter« (S. 7). Drittens weist der Text im Druck kontinuierlich Fußnoten auf, die das Geschehen kommentieren und deren Verfasser Georg Schuster ist. Sie sind direkt an das Publikum adressiert – »Ich bin Schriftsteller, wissen Sie« (S. 3) – und müssen so als fortdauernde Kommentierung der Handlung durch Georg aus dem Off oder durch Beiseitesprechen vorgestellt werden. Da Georg in ihnen auch eine veritable Mordphantasie an seiner Familie entwickelt, können sie zugleich als innerer Monolog der Person Georgs gedeutet werden – und tragen damit eine hinter der Oberfläche seiner bürgerlichen Existenz verborgene Ebene in das Stück ein.
In der von Syha vorgesehenen Umsetzung ist Herr Schuster kauft eine Straße prädestiniert für eine kleine Bühne, auf der die vielen Blicke sichtbar werden und auf der die subtile Geräuschkomposition ihre Wirkung entfalten kann. Die Einsetzung einer Erzählinstanz aus dem Off, die einen Illusionsbruch erzeugt, die (post)moderne Überzeugung von der Ungreifbarkeit einer Wahrheit inszeniert und die auch die potentielle Doppelbödigkeit biederer Lebensentwürfe illustriert, ist nicht neu – hier aber durchaus reizvoll.
Problematisch ist die Substanz des Stücks, kurz: die Figuren und das, was sie sagen. Es lässt sich gut vorstellen, dass Herr Schuster kauft eine Straße bei passender Inszenierung Lacher provoziert. Nichts aber von dem, was gesagt wird, keine der Figuren bewegt sich jenseits der vom Theater und noch mehr von durchschnittlichen Sitcoms des Fernsehens weidlich ausgetretenen Pfade einer konstant im Klischee operierenden Familiensatire. Beim Fernsehen ist die Redundanz dabei Programm. Dass sie trotzdem immer wieder die Aufmerksamkeit des Betrachters zu binden vermag, liegt vor allem an der Professionalität ihrer Herstellung, kurz: an der Dichte der Pointen und an der Geschicklichkeit, mit der sie gesetzt werden. Verantwortlich dafür aber ist kein einzelner Autor, sondern ein Team professioneller (Gag-)
Schreiber. In dieser Konkurrenz müssen es Theaterautoren schwer haben, wenn sie alleine am schlagfertigen Stück arbeiten, das dann auch noch 90 statt 20 Minuten unterhalten will. Ein professionalisiertes Unterhaltungstheater, das ebenfalls viele Autorentalente bündelt, wäre darauf eine aussichtsreiche Antwort. Theaterstücke, die auf Stereotype verzichten, die das Klischee meiden, die einer Familie Sätze in den Mund legen, die komisch und merkenswert sind, die Formulierungen nutzen, die im Zuschauer weiter arbeiten, die produktive Bilder erzeugen, wären eine zweite.
Syhas Stück besitzt eine bemerkenswerte Form, deren statische Grundkonzeption an das symbolistische (Maeterlinck) und absurde (Becket, Hildesheimer) Theater erinnert. Syha entwirft aber vornehmlich eine Familien- und Konversationskomödie, deren Figuren (nicht nur) aus dem Fernsehen so und schlagfertiger allzu bekannt sind. Kaum ein Satz findet sich darin, dem nachzugehen sich lohnte, der einen besonderen Moment ermöglichte, kurz: der eine Ambition verriete, mehr zu wollen, als lediglich einem Publikum auf der Bühne tatsächlich als bloße Gebrauchsdramatik eben jene abgesicherte Unterhaltung anzubieten, die es vom Fernsehen her sehr gut kennt – dort aber meist professioneller, technisch routinierter ausgeführt bekommt.

Ulrike Syha: Herr Schuster kauft eine Straße. In: Theater heute 11/2010, eingelegter Stückabdruck. 16 Seiten. 9,80 €.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

 
Creative Commons License
Diese Inhalte sind unter einer Creative Commons-Lizenz lizenziert.