11 Fragen an Benjamin Stein

In einem Email-Interview stand Benjamin Stein Melanie Horn Rede und Antwort. Wir danken Benjamin Stein an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich für das Interview.
MH: Mich hat zunächst die äußere Form interessiert und neugierig gemacht. Formexperimente können ja durchaus als ein Risiko erscheinen: die Abweichung von der Konvention ist da oft besonders leicht wahrnehmbar – und weckt hohe Erwartungen. Welchen Stellenwert hat die äußere Gestaltung von Texten grundsätzlich für Sie in der Literatur?
BS: Form und Inhalt sind die zwei Seiten der ›Münze‹ Literatur. Beides muss zusammengehen, eine Einheit bilden, dann ist ein Formexperiment auch kein Risiko. Das gilt für die Sprache wie auch für die äußere Gestaltung eines Buches. Ich mag »schöne Bücher«, bei denen nicht nur der Inhalt interessant ist, sondern die man auch gern in die Hand nimmt, weil sie optisch und haptisch Freude bereiten.
MH: Wie kamen Sie speziell auf die Anordnung des Buches?
BS: Ich lasse in meinen Texten die Figuren sprechen. Bei der Leinwand war schnell klar, dass es zwei Erzähler geben würde. Also stellte sich die Frage, ob man die beiden Erzählungen kapitelweise verschränkt oder aufeinander folgen lässt. Ich besitze eine deutsch-hebräische Ausgabe des in der Leinwand erwähnten Mussar-Buches Mesilat Yesharim. Da Deutsch von links nach rechts und Hebräisch von rechts nach links geschrieben wird, sind in diesem Buch die beiden Fassungen so angeordnet, dass hinter jedem Cover ein Text beginnt. Dieses Prinzip hat mir gefallen, weil es die Möglichkeit bietet, den Leser entscheiden zu lassen, wo er die Lektüre beginnt. Dann kam mir ein anderes Buch in die Hände, ein Essay von Burroughs in einer deutsch-englischen Ausgabe. Bei diesen Sprachen ist die Schreibrichtung gleich. Deswegen hatten die Herausgeber sich entschieden, ein Buch zum Wenden daraus zu machen. Man muss das Buch über Kopf wenden, um die anderssprachige Fassung zu lesen. Als ich das sah, wusste ich, wie ich es machen müsste, und vor allem wusste ich auch, dass so ein Buch drucktechnisch produzierbar ist.
MH: Ihr Buch lässt sich von zwei Seiten aus lesen, es hat keinen klaren Anfang, kein Ende. Wie stellen Sie sich den Lesevorgang vor?
BS: Vier Lesewege durch den Roman sind dramaturgisch von mir geplant, also vorgesehen. Man kann mit Wechsler oder Zichroni beginnen und dann entweder die Erzählstränge zu Ende lesen und das Buch dann wenden, oder aber man wendet nach jedem Kapitel, liest die Erzählungen also kapitelweise verschränkt. Infam daran ist, dass das Buch dem Leser eine Entscheidung abfordert, die nicht mehr zu revidieren ist. Je nach dem, wie man sich entscheidet, wird man ein – zumindest etwas – anderes Buch lesen.
MH: Wie sah der Schreibprozess aus. Sind die beiden Teile des Buches nacheinander entstanden, oder parallel? Erfolgte der Entwurf beider Erzählungen vor dem Schreibbeginn, oder haben Sie sich eine hohe Abstimmungsarbeit beider Texte aufeinander während des Schreibens abverlangt?
BS: Ein solches Buch lässt sich wahrscheinlich nur schreiben, wenn man, bevor man mit dem Schreiben beginnt, den Gesamtablauf genau plant. Für alle vier vorgesehenen Lektürevarianten muss ja der dramaturgische Bogen stimmen. Dem Zufall kann man das nicht überlassen. Ich habe also zunächst genau geplant und dann die beiden Anfangskapitel geschrieben, um ein Gefühl für die Figuren zu bekommen, ihre Sprache, ihre Eigenheiten. Dann sind die Kapitel Zichroni 2-6, Wechsler 2-6, Zichroni 7-11 und Wechsler 7-11 in dieser Reihenfolge entstanden.
MH: Worin liegt für Sie ein spezifischer ›Mehrwert‹ experimenteller Literatur (insofern es ihn denn gibt)?
BS: Ich betrachte meine Bücher eigentlich nicht als Experimente, die Literatur, die ich schreibe, nicht als experimentelle Literatur. Dichtung sollte doch immer versuchen, einen Augenblick oder auch eine Geschichte auf die ihr angemessenste Art zu gestalten. Unsere Welt ändert sich ständig und damit verändert sich wohl auch, was man als angemessenste Art der Gestaltung bezeichnen würde. Damit sind wir wieder beim Zusammenspiel von Inhalt und Form. In der Leinwand berichten zwei Erzähler von wesentlichen Lebensentscheidungen – glücklichen wie unglücklichen – und deren unausweichlichen Folgen. Wenn nun die Form des Buches dem Leser eine solche Entscheidung mit unausweichlichen Folgen abverlangt, bevor er die Lektüre beginnt, ist er – ohne sich dessen bewusst zu sein – bereits mitten im Thema, und dies, ohne auch nur einen Satz gelesen zu haben
MH: Sind Sie selbst gläubig? Halten Sie Visionen für möglich, oder ist dies für Sie nur ein fiktiver Teil Ihrer Literatur?
BS: Ich bin Jude und lebe observant. Dass ich Visionen ganz sicher für möglich halte, hat damit aber nichts zu tun. Ich könnte Atheist sein, und würde sie ebenso sicher für möglich halten, wobei ich dann wahrscheinlich von einem ›Defekt‹ im System unserer Wahrnehmung sprechen müsste. Interessant finde ich, dass meine Meinung darüber für den, der die Vision erlebt, keine Rolle spielt. Er erfährt sie als etwas Wahrhaftiges. Ich ziehe auch keine scharfe Grenze zwischen Literatur und Leben. Fiktionen haben die Kraft, die Welt zu verändern und also auch unser Leben. Das ist gut so und hat oft Heilsames. Das sehe ich ganz so wie Zichronis Vater: Träume sind Medizin.
MH: In Ihrem Roman erinnert sich Jan Wechsler an etwas, was nicht sein Leben ist. Was bedeuten für Sie selbst Erinnerungen? Was hat Sie gereizt, eine so komplexe Reflexion über die Unverlässlichkeit der Erinnerungen in das Zentrum eines literarischen Werkes zu stellen?
BS: Waren Sie noch nie in einer Situation, in der zwei Leute die gleiche Begebenheit erzählen – an der sie gemeinsam beteiligt waren – und der Eindruck entsteht, beide hätten etwas ganz und gar Unterschiedliches erlebt? Erinnerung ist kein digitaler Speicher verlässlicher Informationen. Sie ist unscharf und wandelbar. So funktioniert unser Gehirn. Vergessen und umformendes Gestalten beim Wiedererinnern sind wesentliche Voraussetzungen dafür, dass unsere Psyche mit diversen schwer oder gar nicht handhabbaren Situationen oder Erlebnissen überhaupt halbwegs zurecht kommt. Pikant ist nun, dass unser Selbstbild, unsere Identität in unseren persönlichen und in kollektiven Erinnerungen wurzelt. Damit ist unsere Erinnerung ein ›Luftwurzler‹, um es überspitzt zu sagen. Unser Selbstbild, dessen Störung oder gar Zerstörung uns empfindlich trifft, steht auf einem sehr unsicheren Fundament.
MH: Gibt es für Sie ›Wahrheit‹?
BS: Aber sicher gibt es die. Das Problem ist: Es gibt nicht nur eine. Bleiben wir beim Einzelnen. Was wir wahrnehmen, erscheint uns als wirklich. Das aber hängt ganz von unseren persönlichen Fähigkeiten zur Wahrnehmung ab. Kognitionsforscher stellen mit Recht die Frage, ob ohne Wahrnehmenden überhaupt etwas existiert, und stellen fest, dass das, was wir Wirklichkeit nennen, eine sehr subjektive Angelegenheit ist. Genau aus diesem Grund misstraue ich Erzählungen in der dritten Person und lasse stattdessen die Figuren selbst berichten.
MH: Nach dem Lesen Ihres Romans bleiben viele Fragen offen: 
Ist Jan Wechsler oder Amnon Zichroni zum Mörder geworden oder hat Zichroni gar die Erinnerungen Wechslers bei dessen Berührung gespürt und war dies Auslöser für eine Verschmelzung beider? Warum ist das Becken, in das Wechsler springt, leer? Gibt es eine Antwort auf diese Fragen, oder sollen gerade sie und ihre dezidierte Unbeantwortetheit das Ende des Leseprozesses markieren und warum?
BS: Wenn man sich die zeitlichen Erzählstandpunkte beider Erzähler vergegenwärtigt, liegt die Vermutung sehr nahe, dass niemand zu Tode gekommen ist in diesem Buch. Zichroni gibt seinen Bericht nach dem Showdown in Moza, und Wechslers Erzählung setzt gar erst nach seiner Rückkehr von seiner Israelreise ein. Ich habe eine Theorie darüber, was passiert sein könnte, die ganz ohne übernatürliche Vorgänge auskommt.
MH: Ihr Text weckt Erinnerungen an den ›Fall Wilkomirski‹. Inwieweit hatte dieser Einfluss auf das Buch? Es scheint mir, als würde es starke Parallelen zu dem ›Fall Minsky‹ geben. Und falls dieser Fall Ihnen als Grundlage diente, wieso haben Sie sich entschieden, einen Roman darüber zu schreiben?
BS: Ganz offensichtlich basieren Teile der Handlung auf diesem Fall und die Figuren beider Erzähler auf Personen, die an diesem Fall beteiligt waren. Aber der Roman wäre misslungen, wenn er nur als Schlüsselroman zu lesen wäre. Mich hat dieser konkrete Fall persönlich sehr bewegt. Deshalb fiel die Wahl auf diesen Plot und diese Personen. Sie sind aber ›nur‹ Vehikel, um die Themen Erinnerung und Identität, Identitätsgestaltung und -suche literarisch zu verhandeln. Und das sind, wie ich meine, zeitlose Themen. Gelungen wäre das Buch, wenn man es mit gleichem Gewinn wie heute auch noch dann lesen kann, wenn sich niemand mehr an den ›Fall Wilkomirski‹ erinnert.
MH: Erlauben Sie zum Schluss eine recht weitreichende Frage, auf die Sie aber vielleicht doch eine Antwort wagen mögen: Was bedeutet für Sie Literatur? Könnten Sie den Kern ihrer Poetik des Schreibens andeuten?
BS: Ich habe in den vorangegangenen Antworten schon sehr viele Hinweise auf den Kern meiner Poetik gegeben. Müsste ich es zusammenfassen, dann wohl so: Wirklichkeit ist eine sehr subjektive Angelegenheit, und gerade dieser Umstand macht die künstlerische Auseinandersetzung mit ihr so ungemein spannend.

Haben Sie herzlichen Dank!
 
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