Dionysos in Mexiko City

Airen: I Am Airen Man
Von Christoph Hümpfner

Geboren aus einer Tragödie und einem Lurch, welcher dem Literaturbetrieb Anfang des Jahres 2010 über die Leber lief, nutzt Airen die ihm gewidmete, willkommene Aufmerksamkeit, um sein zweites Buch auf den Markt zu bringen. Nachdem Jungautorin Helene Hegemann im feuilletonistisch durchzelebrierten Plagiatsstreit die fremden Federn lassen musste, mit welchen sie ihren Debütroman ausgeschmückt hatte, war der Weg frei für den düpierten Blogger.
Nach Strobo, der vor allem auf die Berliner Technoszene zentriert war, schildert der anonyme Autor nun die auf seinem Blog basierende Folgezeit seines Lebens in Mexiko. Den mexikanischen »Hinweisen zur Volksgesundheit« zum Trotz befolgt Airen hier nicht das Motto: »Evita el Exceso« (»Meide den Exzess«). Nein, gemäß seinem Wesen, kann ihn auch in der neuen Welt die Arbeit nicht lange von dem »Polarstern des Exzesses« fernhalten.
I Am Airen Man lautet der seltsame Titel des neuen (Blog-)Romans. Ob der Black Sabbath-Titel, der eisenharte Triathlon oder der self-made Superheld hier Pate standen, bleibt offen. Hier feiert Airen das »Chaosleben«, denn:

Dies zu bejahen oder gar prototypisch zu personifizieren, ein Künstlerleben zu führen, also mit Glitter, Schmutz und Pailletten, mit ganz bösem Nightmare-Bass für Erwachsene, mit farbigem Schattenspiel auf hyperrealen, aber durch Rohypnol etwas schlecht aufgelösten Vaselinetitten, das sollte dann doch angesichts der Vielfalt und Greifbarkeit dieser realistischen Erlebnissequenzen einem durch Liebe betäubten Leben vorzuziehen sein.
So resümiert der Autor seine Berufung und pathetisch getragen seinen pothos – die grenzenlose Sehnsucht. Ganz im Sinne von Nietzsches Dionysosbild: »Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: Die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches«. Airen strebt tanzend nach der Auflösung seiner Individuation in der Kunst, im göttlichen Dasein  ̶ hier im Rausch des Basses. »Da war Techno, und da war alles klar. Da war ich. Da war Airen«.
Techno und Drogen, sowie sexuelle Ausschweifungen mit beiderlei Geschlechtern und Transsexuellen kennzeichnen sein maßloses Streben nach dem Extrem, das »Extrem, das mich so fickt, dass ich ihm alles widme, sonst wird alles nur Mittelmaß«.
Umso überraschter ist Airen, als dies nach und nach in einer Beziehung zu der Mexikanerin Lily Einzug hält. So sieht er sein Leben »aus dem Ruder« laufen, als er sich bald in einem nahezu gewöhnlichen Alltag – inklusive Sport, Nüchternheit und Familienbande  ̶ wieder findet. Die ruhigen Momente werden häufiger und sind doch meist beseelt von Melancholie und Tristesse. Die größten Emotionen vermittelt wohl das tragische Schicksal eines verlorenen Straßenwelpen.
Dem geordneten, fast apollinischen Alltag steht stets Airens erlebnissüchtiger Drang entgegen: der stetig sterbende und auferstehende Gott des Rausches, Dionysos. So gleicht Airens maßloses, exzesshaltiges Fortschreiten in neue Welten einem Alexanderzug. Denn auch der geschichtsträchtig verklärte Eroberer war ein beflissener Anhänger der dionysischen Verkörperung und des ekstatischen Exzesses, den er bis hin zum Indus vollzog.
Aus wohlbehütetem Hause in Bayern stammend, hatte Airen schließlich in der Hauptstadt seine Bestimmung gefunden. Und auch im fernen Mexiko ist Berlin überall: »Berlin Is Here To Mix Everything With Everything«, holt ihn die Erinnerung immer wieder ein. Berlin bleibt Airens Babylon. Die Sprache des Exzesses ist universal. So zieht es ihn auch letztlich wieder dorthin. »Ich bin pervers, tut mir leid, ich such den Abgrund, ich brauche Techno, und ohne Verzweiflung fühl ich nichts. Ich werde auch bald wieder da sein. In Berlin«.
Airens Sprache bleibt über weite Strecken klar und einfach. Dabei ist sie stets Ausdruck der modernen Jugend- und Internetkultur. Anglizismen, Kraftausdrücke, gewagte Neologismen und explizite Schilderungen von Partynächten lesen sich zwar unterhaltsam, werden jedoch bald repetitiv und bleiben letztlich dünn. Zwischen dem »typischen hormongeschrumpften Fünf-Zentimeter-Transenschwanz« und einer »hardcoregefickten Lunge«, fällt das »letzte Zoll Altkacke« nicht weit vom Stamm. Wie nach einem Rausch setzt so irgendwann die Ernüchterung ein, die der Autor auch nicht immer ausblenden kann: »Aber ich schreibe ja besoffen, wie je«. Da helfen auch manche pseudophilosophischen Passagen nichts, sie wirken vielmehr erzwungen.
»Airen, der Antiheld zwischen den Welten«, weiß die Drogen apologetisch für sich zu nutzen. Die »Sinnesarmut« der Nüchternheit erscheint ihm zu langweilig. »Live hard, die young, sagt doch jeder«. So wundert man sich angesichts seines Lebensstils auch nicht, weshalb er auf der Arbeitsstelle stets die »Angst, erkannt zu werden« hat. »Wenn ich ohne Führerschein fremde Autos fahre, dann nur besoffen«, tönt Airen zurück in der Heimat. Man muss kein Moralist sein, um die Fragwürdigkeit dieser Erfahrungsprahlerei zu erkennen. Wer weiß, vielleicht hat Airen ja bei seinen Komafahrten in Mexiko gar einen Axolotl überfahren.
Dennoch vollzieht sich in I Am Airen Man eine Wandlung, es brechen auch für Airen neue Zeiten an. Die Reize der Berliner Szene schwinden schleichend und er sieht sich gealtert. »Als werdender Vater stand ich irgendwann nur noch am Rand, klaute kein Bier mehr und zog auch nichts«. Und so überlässt er schließlich selbst seine alte Stammdisko Berghain, »dieses Wunder von einem Club einer anderen Generation«. So strandet Airen nach seiner wilden Odyssee an der Bucht der Verantwortung ̶ bezirzt von Lily, deren einnehmendes Wesen nur sehr schemenhaft bleibt, und in die Pflicht genommen vom erwarteten Nachwuchs.
Airens Roman erweist sich als Abgesang auf die Jugend  ̶ ein zeitloses Thema. »Wenn all das, was wir auf Partys erlebt haben, nichts als jugendlicher Leichtsinn war« meint Airen, dann würde er Ja sagen: »Ja zum Leichtsinn, denn nur diese Küsse zählten, nur dieses Lächeln war echt, dann und dort habe ich gelebt«. Airen zelebriert den Rausch und kondoliert seinem Party-Ego, seinem jugendlichen Ich, von dem er sich langsam aber sicher verabschieden muss. »Ja, krasser Ort, Jugend, da bin ich, da werde ich gewesen sein«, so prangt es schon vom Buchrücken. Auch wenn sein Weg eine rücksichtslose Schneise durch Nächte, Täler und Sündenpfuhle war, nimmt er »ein paar Sünden am Wegesrand« in Kauf. In der Summe erscheint dies wohl als ein gehöriges Understatement für diese späte Coming-of-Age-Einsicht.
Airen bleibt literarisch ein Zwitter. Die schnelllebige Instant-Literatur der Internetsphäre mag mancher für erfrischend halten, ein anderer für den Tod der Kreativität. Noch halb im Delirium in den frühen Morgenstunden nach exzessivem Feiern ein paar Zeilen hinzuschludern, das hinterlässt Spuren. Im Rausch schreiben macht noch keinen Bukowski oder Hemingway. Wo Hegemann das Plagiat letztlich nicht salonfähig gemacht hat, scheitert wohl Airen auch mit dem blog – progressiv, aber im Gehalt stagnierend. Wenn sich etwas mitnehmen lässt, dann ist es der Hauch der Melancholie, der einen alternden reifenden Partygänger einholt und der notorische Exzess, der einer verantwortungsvollen Vernunft weicht.
 
Airen: I Am Airen Man. Berlin: Blumenbar 2010. 176 Seiten. 17,90 €.

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