Der Flug ist das Leben wert

Uwe Timm: Halbschatten
Von Kathrin Paszek


Margarete (Marga) Wolff gen. von Etzdorf war eine der ersten Fliegerinnen zur Zeit der Weimarer Republik. Mit 19 Jahren startete ihre Fliegerkarriere, mit 23 Jahren flog sie ihr erstes eigenes Flugzeug und erlebte am 18. August 1931 ihr persönliches Highlight: als erste Frau in Japan gelandet zu sein. Bei ihrem Rückflug stürzt sie in Bangkok ab. Ohne Flugzeug kehrt sie nach Deutschland zurück. Die daraufhin als Bruchmarie titulierte Frau musste auf ihrem letzten Flug Richtung Australien wieder eine Bruchlandung nahe Aleppo (Syrien) hinnehmen. Eine erneute Rückkehr nach Deutschland ohne Flugzeug wäre aber fatal gewesen, denn keiner würde einer Bruchpilotin erneut ein Flugzeug sponsern. Am syrischen Flughafen fielen schließlich zwei Schüsse. Am 28. Mai 1933 nahm sich damit Marga von Etzdorf im Alter von 25 Jahren das Leben.
Ein tragisches Schicksal, das trotz der Popularität Margas, durch ihre eigenen Publikationen und der enormen Pressepräsenz vor und nach ihrem Tod, fast in Vergessenheit geraten ist. 75 Jahre später veröffentlichte Uwe Timm (2008) seinen Roman Halbschatten. Seine Hauptperson ist Marga von Etzdorf, deren Grab noch heute auf dem Invalidenfriedhof in Berlin besucht werden kann. Dort beginnt Uwe Timm auch seine Geschichte:
Ein unbekannter Erzähler wird von einem preußisch gekleideten Mann, dem sogenannten »Grauen« durch den Invalidenfriedhof geführt. Seit der Gründung des Friedhofs durch Friedrich II. liegen dort die Helden Deutschlands: preußische Generäle, Admiräle, Sturmflieger, aber auch Nationalsozialisten. Neben all diesen männlichen Kriegshelden scheint das Grab der Pilotin etwas Besonderes zu sein. Der Graue spricht von ihrem Suizid und ihren ungeklärten Beweggründen. Er erweckt das Interesse des unbekannten Erzählers und berichtet ihm die Geschichte der jung verstorbenen Pilotin.
An eine chronologische Erzählstruktur hält sich Uwe Timm daraufhin nicht. Nach der beginnenden Handlung spricht Marga von Etzdorf selbst. Sympathisch und lebensfroh wirkt sie durch ihre Erzählungen von ihren Flügen, ihrer Angewohnheit bei jedem Start zu singen und ihrem wohl wichtigsten Flug nach Japan. Marga redet aber nicht als Einzige. Genauso spricht ihr Verehrer, ein Schauspieler namens Miller, den sie nach ihrer Ankunft in Hiroshima kennen gelernt hat. Ein Freund und Zeitzeuge, der ihre Lebensweise und ihren Tod kommentiert. Von Christian von Dahlem erfährt man nur durch die Erinnerungen von Marga und Miller. Er wird dadurch zur mystischen Gestalt. Es wird von seinem Waffenhandel erzählt und seiner Liebschaft mit Margas »Rapunzel«. Was Dahlem fühlt, denkt und tut, bleibt unbekannt: eine zwielichtige Person.
Damit eröffnet Timm die Hauptgeschichte seines Romans: Marga lernt Dahlem ebenfalls in Hiroshima kennen. Sie bekommt in der Stadt kein Zimmer. Dahlem nimmt sie in sein Hotel mit und lässt den Raum durch einen Vorhang teilen. Es kommt zu privaten Gesprächen, Erzählungen aus beider Vergangenheit, Ereignissen, die immer wieder unterbrochen werden.
Es sind nämlich noch andere Stimmen da, die in Uwe Timms Buch nicht schweigen wollen: die Toten des Invalidenfriedhofs. Die deutschen Helden aus der Zeit Friedrichs des Großen, den Napoleonischen Befreiungskriegen, den Bismarckschen Einigungskriegen, dem ersten und dem zweiten Weltkrieg melden sich zu Wort. Es entstehen Zwischengeschichten von berühmten Namen wie Gerhard von Scharnhorst (preußischer General), Friedrich II. von Preußen oder Otto Lilienthal (erster deutscher Flieger). Aber auch namenlose Zivilisten treten auf, die ihre Kriegserlebnisse schildern. Es entsteht ein ständiger Wechsel zwischen der Haupthandlung über die Pilotin, zwischen den Toten und den Zeitepochen, die immer wieder vom Grauen und dem Erzähler in der Gegenwart ›moderiert‹ werden.
Dies ist wohl das Bemerkenswerteste an Timms Buch. Nicht nur, dass eine historisch wirklich lebende Frau beschrieben, sondern auch mehrere wahrhaftig zum Teil bekannte Persönlichkeiten vorkommen. Dabei werden diese von Timm in ein anderes Licht gestellt als man erwartet. Sehr kontrastreich wird auf der einen Seite die zarte Liebe Margas beschrieben und auf der anderen die Brutalität des Krieges durch die beschriebene Gewalt und schamlose Menschenendwürdigung der sich von den Epochen zeitlich unterscheidenden Stimmen. Es wird damit eine Art Authentizität geschaffen, die wiederum durch den beiläufigen Sarkasmus niedergemacht wird: »Da ist wieder dieses Röcheln, dieses heisere Gurgeln. Kommt auch von da hinten, sagt der Graue- Hauptmann Berthold, Jagdflieger, erster Weltkrieg, 44 Siege, Pour-le-Mérite-Träger. Dann 1919 Führer der Eisernen Schar. 1920 auf dem Marsch nach Berlin zum Kapp-Putsch. Die linke Bande ausräuchern. Und dieses Gebrabbel? Sein Unterführer«.
Damit zollt Timm auf fragwürdige Weise allen deutschen Kriegshelden der jeweiligen Zeit Tribut und erzählt seinem Leser zugleich von der eigenen Landesgeschichte. Doch nicht nur Deutschland ist im Blickpunkt des Autors. Durch die kurzen japanischen Gedichte wird dem Leser en passent immer wieder der Aufenthaltsort Margas in Hiroshima bewusst gemacht:

Sie las Gedichte. Früher hatte sie welche geschrieben. Poesie, aber die, sagt Miller, ist für sie das Fliegen. Quatsch, Poesie und Fliegen. Es war Spaß, Abenteuerlust. Das reicht doch.
Yuku sora mo
ari ya satsuki no
ama-garasu
Und die anderen Stimmen? Sie erzählen, was sie behalten haben, was sie immer erzählt haben. Nur langsam verblasst es. Die Wiederholungen sind das Fürchterliche an der Erinnerung. Es kommt immer wieder dasselbe. Das ist die Hölle.
Uwe Timm verwendet viele Zitate aus Etzdorfs Buch »Kiek in die Welt«, sodass der Charakter Margas umso authentischer wirkt. Beschreibungen aus ihrer Kindheit, von ihren Flügen und Erlebnissen vereint Timm so gekonnt, als ob er Marga von Etzdorf neues Leben eingehaucht hätte. Für diesen vermeidlichen Wirklichkeitsbezug sorgt beispielsweise auch der eingeschobenen Todesbericht Margas, sowie sämtliche Daten und Fakten, die Timm für seine fiktiven Personen, wie Miller und Dahlem, benutzt. Diese Mischungen, Einschübe und Zeitverschiebungen haben auch einen Nachteil: Es werden zwar Textpassagen zur Differenzierung zum Teil kursiv gedruckt, aber in den kurzweiligen Dialogen sind die Sprecher oft nicht zu unterscheiden. Die oft alleinstehenden Sätze oder Fragen unterstützen meist auch noch die Verwirrung, da sie im ersten Moment nicht zuzuordnen sind.
Dies scheint ein wesentliches Defizit zu sein, macht den Roman aber zu etwas Besonderem und – wie gewollt – zu einem untypischen Buch. Langweile gibt es daher nicht. Denn sollte eine Passage einschläfernd sein, weckt spätestens der nächste Einschub über Tod oder Gewalt, ein kontextloser Satz oder eine banale Äußerung, einen wieder auf. Zudem werden ständig neue Emotionen geweckt, die ein besonderes Leseerlebnis bedeuten. Nachteilig wären die zum Teil unnötigen Wiederholungen, die definitiv ein Kürzungspotenzial besitzen.
Es gehört aber zu Uwe Timms Stil, kleine Puzzleteile zu verteilen, Vorausdeutungen zu machen, den Leser im Ungewissen zu lassen und erst am Schluss das bis dahin Unklare aufzulösen. Bereits in Die Entdeckung der Currywurst, erschienen 1993, zeigt Timm seine Neigung zum wechselnden Erzähler. Lena Brücker und der Erzähler scheinen ebenfalls um die Sprechermacht zu konkurrieren. Dabei geht es um Frau Brückers Miterleben des Krieges, ihre Liebschaft mit einem von ihr versteckten Soldaten bis hin zu ihrem Werdegang und gegenwärtigen Leben. Auch hier kommt es zu stetigen Wechseln von der Haupthandlungszeit des zweiten Weltkrieges bis zur Gegenwart. Eine weitere Parallele zeigt sich in der Geschichte von Brückers Liebhaber. Wie bei Dahlem erfährt man von ihm nur aus den Erzählungen von Lena Brücker selbst. Im Vergleich mit Halbschatten könnte man sich nun darüber streiten, ob es sich um eine Steigerung der Kunstfertigkeit im Sprecherwechsel handelt oder einen Rückgang ins Unverständlich-Abstrakte.
Wie in anderen Büchern des Schriftstellers (wie Am Beispiel meines Bruders von 2004 oder Der Freund und der Fremde, 2005) lässt es sich der Autor natürlich nicht nehmen Parallelen zwischen sich und dem Erzähler zu ziehen. Der unbekannte Erzähler ist zumindest im Roman im gleichen Jahr wie Uwe Timm geboren. Beide gingen einst über den Invalidenfriedhof und beide schauten fasziniert auf Margas Grabstein. Darauf steht an erster Stelle: »Das Fliegen ist das Leben wert«. 

Uwe Timm: Halbschatten. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008. 272 Seiten. 18,95 €.

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