Das vermeintliche Paradies

Thomas Klupp: Paradiso. Roman
Von Wolfgang Planz

"Irgendwann rastet ein Mechanismus ein, ich sage lauter Dinge, die ich überhaupt nicht so meine, und wenn ich mich erst einmal um Kopf und Kragen geredet habe, gibt es kein Zurück. […] Irgendwann werde ich mir die Zunge rausschneiden müssen oder als Einsiedler in die Wälder gehen, das ist die einzige Rettung, die es für mich gibt."
Thomas Klupp hat seinen Ich-Erzähler und Protagonisten mit einem unbändigen Hang zum Schwindeln ausgestattet: Alex Böhm ist ein Hochstapler und ein berechnender Lügner. Auf seiner rund 24-stündigen Reise entpuppt er sich sogar als ein ausgesprochen hinterhältiger Kerl, der in seiner Vergangenheit fast alle seine Freunde auf die eine oder andere Weise betrogen hat.

Es sind Semesterferien und eigentlich sollte Böhm, der in Potsdam Drehbuchschreiben studiert, schon auf dem Weg nach München sein, von wo aus er tags darauf mit seiner Freundin Johanna in den Portugalurlaub fliegen will. Doch seine Mitfahrgelegenheit lässt ihn warten und Böhm trifft auf einen Bekannten aus Schulzeiten. Spontan entschließt er sich, mit ihm in Richtung Bayern zu fahren und gelangt durch eine Verkettung von Umständen nach Weiden, seinem oberpfälzischen Heimatstädtchen. 

Ähnlich wie in Christian Krachts Faserland, das neben J.D. Salingers Fänger im Roggen zu den wichtigsten literarischen Einflüssen auf Paradiso gezählt werden kann - beide hat Klupp mit Anspielungen in seinem Roman bedacht - wird die Reisehandlung von zahlreichen, teils seitenlangen Retrospektiven des Ich-Erzählers unterbrochen. Darunter fallen so schräge Anekdoten wie sein erstes Mal mit einer tschechischen Prostituierten, vor allem aber Geschichten, die Böhm als einen ebenso gerissenen wie heimtückischen Betrüger zeigen. Einem besonders perfiden Schwindel des Protagonisten ist etwa Leni aufgesessen, seine 'Ex'-Freundin und angeblich "große Liebe": Aus Imagepflegegründen hat er die "ein wenig zu mollig[e]" Leni gegen die hübschere Johanna ausgetauscht, jedoch ohne sich tatsächlich von dieser zu trennen. Stattdessen hat er sie unter dem Vorwand einer Identitätskrise zu einer Beziehungspause überredet. So bleibt ihm Leni als 'gefällige' Alternative, falls Johanna ihn unverhofft abservieren sollte:
"Ich selbst habe mir die Sache im Idealfall als eine Abblende vorgestellt. So wie wenn im Kino das Bild langsam ins Schwarze gefahren wird und man irgendwann merkt, dass der Film zu Ende ist. Aber wenn Johanna plötzlich einen Schnitt gesetzt hätte, hätte man aus der Abblende auch problemlos eine Aufblende machen können."

In Böhm schlicht den Lügner im Sinne eines leicht auszurechnenden Typs zu sehen, würde allerdings diesem facettenreich konstruierten Charakter nicht gerecht. Klupp kalkuliert bei der Gestaltung seines Protagonisten geschickt mit Spracheffekten und Erzählperspektive. Ein wenig angestaubte Wendungen wie "eins a", "tipptopp" oder "lebensmüde bin ich gleich dreimal nicht" lassen Böhm eher bieder und fast harmlos erscheinen. Im Spannungsverhältnis zu seinen Betrügereien gegenüber dem Romanpersonal steht die Aufrichtigkeit, mit der er dem Leser selbst pikanteste Details seines Lebens präsentiert.

Böhm ist ein innerlich zerrissener Erzähler, aus dessen Monologen seine Sehnsüchte sprechen. Seine Gefühlslagen reichen von wütendem Hass bis hin zu Momenten der Ergriffenheit. Er ist jemand, der lügt, aber immer wieder Besserung gelobt, der zynisch ist und trotzdem den Wunsch in sich trägt, mit "mehr Liebe an die Welt und an die Menschen" zu denken. Seinen Kumpel Simon idealisiert er geradezu als Inbegriff des treuen Freundes und denkt sehnsuchtsvoll-nostalgisch an ein Wiedersehen mit ihm: "Wir würden an einen der zahllosen Baggerseen hinausfahren und ein Feuer machen, und dann würden wir dort im Schein der Flammen am Ufer liegen, ein paar Sixpacks leeren und uns über Gott und die Welt unterhalten." Die Unberechenbarkeit seines Protagonisten nutzt Klupp für abrupte Wendungen in der Handlung. Böhms idyllisches Freundschaftsbild entlarvt sich später als eine realitätsferne Schwärmerei: Auf einer nächtlichen Party am Baggersee "Paradiso" schlägt er seinen besten Kumpel bewusstlos, als dieser die Lüge gegenüber Leni aufzudecken droht. 

Klupp spielt in seinem Roman mit dem Motiv der Heimkehr. Beim Anblick der Landschaft kurz vor Weiden wird Böhm von Glücksgefühlen schier überströmt. Die Heimat des Protagonisten wird aber nicht zum Schauplatz einer Neuorientierung, im Gegenteil, seine wirklichen Abgründe kommen dort erst zum Vorschein. Für eine ernsthafte Wende in seinem Leben fehlt Böhm eine Sichtweise, die über sein Ego hinausreicht. Es ist bezeichnend, dass er über Johanna nach sechs Wochen Beziehung keine drei Sätze sagen kann. Stattdessen: die ewige Furcht vor dem Ausbrechen seiner Schuppenflechte, der Hypochondrismus oder der selbstverliebte Blick in den Spiegel. 

Einen Erklärungsansatz für seine Egomanie und die zynische Weltsicht liefert Böhm selbst. In seiner Jugend ist ihm Raskolnikow, die Hauptfigur in Dostojewskis Roman Schuld und Sühne, zum Vorbild geworden. 
"Es gibt ja darin diese Stelle, wo Raskolnikow seine Theorie aufstellt, dass zwei Sorten von Menschen existieren, die Genialen und das Material, und dass die Genialen das Material töten dürfen, wenn es ihnen nützt, und genauso habe ich das auch gesehen. Würde man das Töten durch etwas Harmloseres ersetzen, sehe ich es im Grund noch immer so."
Neben den Auffassungen von Dostojewskis Protagonisten scheint auch die strenge Erziehung Böhms ihren Teil zu seiner Persönlichkeitsstörung beigetragen zu haben.

Ohne seine Makel - das manische Lügen, den Narzissmus, die Neurosen - würde dem Protagonisten jedoch die grotesk-komische Seite fehlen, die ihn so unterhaltsam macht. Dem lügnerischen Ich fast distanzlos in seiner Gerissenheit zu folgen, wirkt auf den Leser befremdend und faszinierend zugleich. Das liegt wohl daran, dass man es kaum vermeiden kann, sich ein ums andere Mal in der Figur des Lügners wiederzuerkennen. Ständig pendelt der Drehbuchstudent zwischen Sein und Schein, so wie es jeder mehr oder weniger in seinen zahllosen sozialen Rollen tut. 

Paradiso ist ein sorgfältig konstruiertes Debüt, von dem rasch eine Sogwirkung ausgeht. Mit wenigen einfachen, aber plastischen Beschreibungen gelingt es Klupp, den Leser in den Bann seines bitter ironischen Romans zu ziehen. Vor allem ist es letztlich Klupps origineller Erzähler, der über die Brennnessel-Heilpraktiken seines Großvaters, seine Schuppenflechte oder erinnerungsträchtige Pornovideos monologisierend, für eine kurzweilige Lektüre sorgt.

Thomas Klupp: Paradiso. Roman. Berlin: Berlin Verlag 2009. 208 S. 7,95 €.

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