Orgasmen als Lebenselixier

Helmut Krausser: Einsamkeit und Sex und Mitleid. Roman
Von Melanie Horn

Der Callboy Vincent sitzt am Weihnachtsabend in einer Kneipe. Als er nach Hause kommt und sich seiner Kleider entledigt, wird er von einer blutjungen Einbrecherin überrascht. Statt die Polizei zu rufen, bietet er ihr sein zuvor eingelassenes Badewasser an und lädt sie zu einem Glas Sekt ein. Ekkehard Nölten, ehemaliger Lateinlehrer, zwangspensioniert, sucht an diesem Abend dieselbe Kneipe auf wie Vincent und un-erhält sich mit der Besitzerin Minnie. Er erzählt ihr vom Römischen Reich und davon, dass alles irgendwie schon einmal da war. Julia König teilt ihrem Ehemann Uwe nach sechs Jahren mitten in ihrem alljährlichen Weihnachtsritual mit, dass sie sich trennen müssen, sofort. Uwe verlässt das Haus und sucht Zuflucht im Alkohol. 

Ausgangspunkt von Helmut Kraussers Roman Einsamkeit und Sex und Mitleid sind drei Weihnachtsgeschichten aus der Großstadt Berlin: Ein einsamer Callboy, der sich auf einen Plausch mit einer Einbrecherin einlässt; ein alter Lehrer, der versucht der Einsamkeit in einer Kneipe zu entfliehen; und eine Frau, die das Zusammenleben mit ihrem Mann satt hat und stattdessen den Weg in die Einsamkeit sucht.

Ausgehend hiervon entfaltet Krausser ein Beziehungsgeflecht, in welchem sich fortlaufend neue Verbindungen auftun und in dem bisherige genauer konturiert werden. Immer wieder kommen neue Personen hinzu, die sich wie die Teile eines Mosaiks langsam zu einem Krausser'schen Sittenbild der Gegenwart zusammenfügen. Die Protagonisten der drei Weihnachtsgeschichten sind nur die Startsteine, um die herum sich alles andere aufbaut. Da gibt es zum Beispiel Dr. Stern, der aus Mangel an Sex mit seiner Ehefrau eine Affäre zu seiner viel jüngeren Sekretärin unterhält. Sarah, die Ehefrau, aber weiß um die Affäre und spricht von einer "durch Erotik notdürftig übertünchten Midlife-Crisis" ihres Mannes. Während dieser versucht, den Ansprüchen seiner wesentlich jüngeren Geliebten Carla gerecht zu werden, vergnügt sie sich zunächst im Freizeitsport mit Farbpistolen und entdeckt dabei ihre Leidenschaft für masochistische Sexspielchen, die sie auch kurz darauf mit einem Callboy befriedigt. Klar, wer dieser ist: Vincent. Der ist inzwischen fest mit der Einbrecherin, die sich als die 21-jährige "Gelegenheitsnutte" Vivien entpuppte, liiert und die beiden haben einen Deal: Vincent spritzt bei seinen Kundinnen nicht ab, dafür darf kein Freier Viviens Haut mit Sperma berühren. Eine skurrile Vereinbarung, die vor allem bei einer anderen Kundin Vincents, Julia König, die zudem auch noch eine Freundin von Sarah ist, zu Unverständnis führt. Diese weiß nämlich haargenau, was sie will: "[I]ch möchte zuerst geleckt werden. Sobald ich gekommen bin, tun Sie so, als hielten Sie es nicht mehr aus, und ficken mich [...]. [S]ie nehmen mich, von vorne bitte, bis ich erneut gekommen bin, und dann, bevor Sie selbst kommen, ziehen Sie ihn raus und schieben ihn mir in den Mund." Nur sonntags hat sie Zeit, ihre sexuelle Lust zu befriedigen, und dann soll es gefälligst auch richtig geschehen, inklusive Orgasmus des Gigolos. Ihr Ex-Ehemann Uwe verabredet sich derweilen in einer Internetpartnerbörse mit "Tanzkatze" Janine, einer Ex-Primaballerina mit epileptischen Anfällen. Für mehr als das kurze Vergnügen im Bett reicht es bei den beiden aber auch nicht.

Dann gibt es da noch den "Jesus-liebt-mich-Johnny" der seine 15-jährige Freundin Swentja mehr als alles andere liebt, außer Jesus natürlich. Ein Typ mit Religionstick, der jeglichen sexuellen Kontakt zu Swentja ablehnt. Araber Mahmud dagegen fackelt nicht lange. Er macht Swentja ein Angebot: 100 Euro will er zahlen, wenn er sie mit dem Mund befriedigen darf. Swentjas Eltern, die für die Amateurstadtmeisterschaft in Lateinamerikanischen Tänzen nominiert sind, bitten Janine um Tanzunterricht. Für die ist das allerdings eindeutig unter ihrer Würde. Die Eltern streiten gerade über Janines als Beleidigung empfundene Weigerung, als ihre fünfjährige Tochter Sonja scheinbar spurlos auf einem Spielplatz verschwindet. Fünf Tage wird um die Kleine gebangt, bis sie schließlich ausgesetzt auf einer Parkbank, ausge-rechnet von Johnny, gefunden und nach Hause gebracht wird - völlig unversehrt.

Der 'Prophet Jesaja', der bereits zu Beginn des Romans auf einem Bahnsteig auftrat und verwirrte Predigten hielt, hatte Johnny zu der Parkbank geführt. Klar, dass dem scheinbar verrückt gewordenen Jungen zunächst keiner glaubt und dass er selbst als Täter beschuldigt wird. Aber Barbesitzerin Minnie gibt ihm ein Alibi. Schließlich war er am Abend zuvor mit Mahmud in ihrer Kneipe. Minnie selbst hat immer noch Kontakt zu Ekkehard, den sie am Weihnachtsabend kennen gelernt hatte, und es wirkt beinahe unheimlich, als am Ende klar wird, dass Swentja es war, die für die Zwangspensionierung des Lateinlehrers verantwortlich gewesen war ...

Dies sind noch lange nicht alle Handlungsstränge, die Helmut Krausser in seinem Roman verfolgt. Aber am Ende bleibt ein Bild: Alles ist irgendwie mit allem verknüpft, ob über die Zeit, über den Ort oder über scheinbar zufällige Begegnungen. Nur eine Frage bleibt offen: Wer hat eigentlich Sonja entführt? Es gibt Anhaltspunkte, die auf Ekkehard Nölten deuten, explizit gesagt wird es jedoch nicht. So bleibt es schließlich dem Leser überlassen, das Beziehungsnetz weiter auszuphantasieren und somit auch noch die letzte, bleibende Lücke zu füllen.

Krausser zeichnet in seinem Roman "eine Gesellschaft eitler und liebeshungriger Menschen, die ihre Lebensqualität über die Zahl der erzielten Orgasmen definiert" um mit der Figur Sarah zu sprechen. Sex fungiert als Mittel der Wahl, um der Einsamkeit zu entkommen, oder ist Resultat mitleidiger Empfindungen. Und gerade aus dem Sex resultieren immer wieder Einsamkeit und Mitleid. Es ist wie ein Teufelskreis, dem scheinbar nicht zu entkommen ist. Die gehobene Literatursprache Kraussers wird in diesem Text kombiniert mit milieugerechter Sprache. Bei letzterer ist der Filter der Zivilisation zugleich häufig ausgeschaltet: Ausdrücke wie "geldgeile Fotze", "Negerin" und "Ziegenficker" oder Neuschöpfungen wie "turbokapitalistisches Traumsystem" und "Zahnarztgat-tinnenkotzfotzen" entsprechen dabei nicht nur dem Charakter der Figuren, sondern führen zum Kern der außerordentlichen literarischen Potenz Kraussers. Er zeichnet damit ein Bild einer Großstadt, das in all seinen Extremen einen besseren Zugriff auf unsere Wirklichkeit zu geben scheint, als man es von der Mehrheit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur behaupten kann. 

Liest man Kraussers Roman Einsamkeit und Sex und Mitleid, so entsteht durch die drei Weihnachtsgeschichten, die das Buch eröffnen, zunächst der Eindruck, man habe es mit Trivialliteratur zu tun. Langsam entwickelt sich aber durch die kontinuierliche Beziehungsverdichtung ein Werk der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, das sich nicht nur in der Obszönität der Sprache und der Drastik der Bilder erschöpft. Kraussers Text lässt sich auch als Portrait von Menschen lesen, die dem Frivolen nicht affirmativ verfallen sind, sondern die ihren Körper als Medium gebrauchen, durch den sie sich, mangels Fähigkeit zu einer angemessenen sprachlichen Zuteilwerdung, einander offenbaren. Die Sexsehnsüchte können so geradezu als Ersatzhandlungen für das Unvermögen, Liebe zu artikulieren und mit den anderen zu teilen, gedeutet werden. Dies ist typisch für Krausser und findet sich beispielsweise auch in seinen Texten Die Schmerznovelle und Die Gärten des Maestro Puccini wieder. Kraussers Literatur lebt so nicht nur von der Extravaganz der Sprache, sondern vor allem von der Komplexität der literarischen Konzeptionen, die jenseits allen Eros' den Leser fordern und beglücken.

Helmut Krausser: Einsamkeit und Sex und Mitleid. Roman. Köln: DuMont 2009. 240 S. 19,95 €.

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