Die Anatomie der Melancholie

Kai Weyand: Schiefer eröffnet spanisch
Von Boris Seewald

Kai Weyands Romandebut wirft einen alkoholgeschärften Blick auf die Bildungsmisere - aus der Perspektive eines gescheiterten Lehrers. Der titelgebende Schiefer ist ein solcher: Verzweifelt aus dem Schuldienst ausgeschieden, von Frau und Sohn verlassen, widmet sich der ehemalige Pädagoge nun anderen, mehr ins Private zielenden Tätigkeiten: Gitarre spielen in einer Hochzeitsband, Schachpartien gewinnen und Unmengen geistiger Getränke konsumieren. Die allgemeine Daseinsmelancholie teilt er mit dem namenlosen Ich-Erzähler, seinem Schachpartner. Der ist von Profession Privatdetektiv und mit seinem Leben ebenfalls alles andere als zufrieden. Das zeigt sich nicht nur an der Bouteillenzahl, die sich im Laufe der Romanhandlung anhäuft. Seit drei Jahren treffen sich die beiden fast täglich zu Schach und Rotwein, begleitet von wenig Konversation, aber umso mehr desillusionierter Schwermut.


Veränderung bricht sich erst Bahn, als Schiefer aus finanziellen Gründen mit Theo Mal einen Untermieter aufnimmt. Der kommt aus großindustriell-wohlhabenden Verhältnissen, hat aber gegen den Widerstand seiner Eltern dem Familiengeschäft den Lehrerberuf vorgezogen. Enthusiastisch und motiviert tritt er die Beamtenstelle an. Schiefer erkennt in ihm sein früheres Ich, eine Vorher-Figur und glaubt ihn zwangsläufig dem gleichen Verderben ausgeliefert, das er selbst durchleiden musste. In seinem neuen Chambregarnist sieht er zugleich die Chance zur empirischen Aufarbeitung seines eigenen Scheiterns: "Nehmen wir einen Lehrer, sagte er, einen Lehrer, der aus dem Schuldienst ausgeschieden ist. Um herauszufinden, warum genau er gescheitert ist, ob er der Fehler im System Schule war oder ob das System Schule fehlerhaft ist, wäre doch die Beobachtung eines anderen Lehrers ein legitimes Vorgehen. Theo Mal als Forschungsobjekt, fragte ich? Mein Leben ändert sich, sagte Schiefer und legte auf. Ich ging in die Küche und köpfte eine Flasche Sekt." Also beobachtet Schiefer fortan, investigativ unterstützt vom Erzähler, seinen Mitbewohner. Er führt Buch über den allmählichen Verfall des engagierten Unerfahrenen, der im Laufe des Schuljahres erwartungsgemäß abmagert, kränklich wird und zunehmend in Angstzustände verfällt.

Das Schachmotiv ist dabei für die Handlung weniger bedeutend, als es der Titel vermuten lässt. Es unterstützt eher die Charakterisierung Schiefers und verleiht der Figur psychologische Tiefe. Schiefers Privattheorien und philosophische Betrachtungen sind immer wieder allegorisch an das Schachspiel geknüpft: "Um dich herum nichts als schwarz, eine Armada von schwarzen Bauern, Läufern und Pferden und Türmen, die langsam Schritt für Schritt näher kommen, um dich zu vernichten. So ist es, eine achte Klasse zu haben."

Die spanische Eröffnung, ein indirekter Angriff auf den König, wie im Roman simplifizierend erklärt wird, steht für die zunächst passiv-beobachtende Haltung der beiden Hobbywissenschaftler. Schnell wird aber klar, dass für eine aufschlussreiche Studie die bloße Beobachtung des allmählich in die Depression talwärts schreitenden Junglehrers nicht ausreicht. Höchste Zeit also für die so genannte teilnehmende Beobachtung: Mit im Schulgebäude installierten Kameras und Mikrofonen wollen der Detektiv und der Ex-Lehrer den Untersuchungssektor erweitern, um die pädagogenzermürbenden Vorgänge schonungslos aufzudecken. Sie weihen Theo Mal in ihre Absichten ein und gehen zu dritt zum Angriff aufs System über.

Der ausgeweitete Blickwinkel offenbart eine fatale Mischung aus schikanöser Atmosphäre und subhumanen Arbeitsbedingungen. Schon rein äußerlich beschreibt Weyand das Schulgebäude als baufälliges, stinkendes und obskures Konvolut aus Schimmel, Zerfall und Vandalismus. Theo Mal hat dort keine Hilfe zu erwarten, ausschließlich Fronten. Die Schüler betreiben gnadenloses Mobbing, sogar über die Schulzeit hinaus via Telefon und Internet. Die Lehrer zeigen untereinander keinerlei Solidarität, jeder kämpft für sich selbst. Bei aller Tragik des Geschehens geht der Text allerdings nie der Komik verlustig. Nüchtern berichtet Theo beispielsweise von einem Kollegen, der seine nächsten Urlaubsorte bestimmt, indem er auf schuleigene Landkarten ejakuliert: "Später lässt er ihm verhasste Schüler auf den Karten die Orte mit den Fingern suchen." Vordergründig absurde Übertreibungen sind bei näherer Betrachtung eventuell realistischer als es wünschenswert sein könnte. Wer in den letzten Jahrzehnten ein Gymnasium besucht hat, dem erscheint Schiefers Zustandsbeschreibung möglicherweise nicht so abwegig: "In der Schule ist der Durchschnitt Mitte fünfzig, alkoholkrank, zynisch, suizidal. Und entspannte Gesichtszüge kennt man nur vom Hörensagen."

Während andere sich weiter mit Geschichtsbewältigung befassen, nimmt sich Kai Weyand, früher selbst Lehrer, mit Affinität zur Satire einer zwar nicht neuen, aber noch immer aktuellen Problematik an. Das deutsche Bildungssystem ist marode und wirksame Sanierung nicht in Sicht. Notendruck, unsinnige Lehrpläne, mangelhafte Lehrerausbildung, versagende Eltern, soziale Verrohung: solcherlei Schlagworte tauchen in unregelmäßigen Abständen verstärkt in den Medien auf; mit Symbolpolitik und aktionistischen Scheinverbesserungen wird bildungspolitisch auf miserabel ausfallende Schulleistungsuntersuchungen reagiert. "Der Bauch ist träge, der Geist ist müde und Geld ist auch keins da" resümiert Schiefer lakonisch. Weyand versucht glücklicherweise nicht, den Problemkomplex in Gänze zu erfassen, zu moralisieren oder fragwürdige Lösungen anzubieten. Sozialpathetische Schilderungen der Vorgänge im Klassenzimmer in extenso werden weitestgehend ausgelassen, stattdessen umso deutlicher die Folgen für die Unterrichtenden verhandelt, angenehm unprätentiös und immer mit Neigung zum Skurrilen.

Kai Weyands Roman ist dennoch nur zum Teil satirische Kritik an Bildungsinstitutionen. Er handelt zunächst einmal von entfremdeten, perspektivlosen Menschen. Die auftretenden Personen sind allesamt notorische Wirkungstrinker, Degenerierende, Strauchelnde - und Theo Mal ist auf dem besten Weg, sich zu ihnen zu gesellen. Eine Liebesgeschichte, die sich zwischen dem Erzähler und Schiefers geschiedener Frau anbahnt, kommt immer wieder vom Weg ab, verfährt sich alkoholisiert in komatöse Zweisamkeit und führt letztlich nirgendwohin. Das offene Ende bietet keine produktiven Lösungen für die Figuren: Schiefer hat lediglich die private Erkenntnis gewonnen, dass nicht unbedingt er der Fehler im defizitären System war. Theo Mals Ausweg besteht aus kompromissloser Verweigerungshaltung im Unterricht und schließlich der Abkehr vom Lehrerberuf noch bevor er zu einem zweiten Schiefer mutieren kann. Der Erzähler schließlich verabschiedet sich gleich vollends von seinem alten Leben und flüchtet ins Ungewisse.

In Weyands Roman scheitert nicht nur der Idealist - für die Figuren offenbart sich nirgendwo eine Zukunftsoption mit Sinn. Als mehr oder weniger gebrochene Existenzen befinden sie sich in einem aussichtslosen, absurden Gefüge, in dem nicht nur die Schule einen final perspektivberaubten Ort darstellt. Dennoch bleibt natürlich die düstere Kritik an einer reformbedürftigen, aber anscheinend irreversibel dysfunktionalen Institution als Leitmotiv des Romans hängen. Von der Bildungskrise wird man jedenfalls nicht zum letzten Mal gehört haben. Von Kai Weyand hoffentlich auch nicht.

Kai Weyand: Schiefer eröffnet spanisch. Roman. Göttingen: Wallstein 2008. 216 S. 17,90 €.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

 
Creative Commons License
Diese Inhalte sind unter einer Creative Commons-Lizenz lizenziert.