Favourite Worst Utopia

Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Roman
Von Boris Seewald

Christian Kracht ist - so viel Floskel möge erlaubt sein - eine Ausnahmeerscheinung. In den Neunzigern noch als Popliterat gehandelt, musste von dieser Bezeichnung spätestens seit 1979 abgelassen werden. Kracht ist Weltreisender, Kosmopolit, viel­seitig und fundiert gebildeter Reisejournalist und seine Veröffentlichungen im Ver­bund mit seinen öffentlichen Auftritten können fast schon als Gesamtkunstwerk gel­ten. Es ist ein Glücksfall, dass Kracht finanziell nicht auf Verkaufszahlen angewiesen ist, keinen Trends folgt und sich erst recht weigert, zwanghaft welche zu setzen. So kann er sich diverse Freiheiten erlauben. Beispielsweise eine in hochwertigem Layout gedruckte Literaturzeitschrift im Axel­ Springer-­Verlag herausgeben (Der Freund, 2004­-2006). Redaktionssitz: Nepal. Oder die inszenierte Realität Nordkoreas vor Ort erkunden und affirmierend in einem Bildband porträtieren (Die totale Erinnerung. Kim­ Jong Ils Nordkorea, 2006). Solche Aktivitäten sind gleichzeitig ernst, spöttisch und ironisch, können in ihrer Exzentrik als absurde Gesten, eigentlich schon als post­postmoderne Aktionskunst verstanden werden.


Das dazugehörige Maß gepflegten Wahnsinns kommt in Krachts Romanen gleicher­maßen als Stilmittel zur Anwendung. In diesen etabliert sich Kracht aber vor allem auch als sprachmächtiger und eleganter Erzähler, das gilt abermals und ganz be­sonders für Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Flüssig, sogar spannungsreich treibt er seine Geschichte voran. So fällt es leicht, die radikale alter­native Gegenwart anzunehmen, in der ein andauernder 1. Weltkrieg, ein wahrer Weltkrieg, denn Frieden gibt es auf keinem Kontinent mehr, zur alles bestimmenden Dominante geworden ist. Nach und nach erschließt sich im Laufe der Handlung das ungefähre Szenario: Lenin ist 1917 aus dem Schweizer Exil nicht mehr zurückge­kehrt und begründete statt der Sowjetunion die Schweizer Sowjetrepublik (SSR). Diese befindet zum Handlungszeitpunkt in einem andauernden Konflikt mit der faschistischen Achse Deutschland/England. Daneben existieren noch zwei weitere Weltreiche, ein asiatisches und ein großaustralisches, nähere Informationen werden nicht gegeben und sind auch nicht notwendig. Eine weitere derartige Statistenrolle kommt "Amexiko" zu, der zynischen Kracht­-Alternative zu Amerika. Diese ist als sol­che hoffnungslos in Binnenkonflikte verstrickt und nimmt keinen Einfluss mehr auf die Restwelt.

Die Handlung setzt im 96. Kriegsjahr ein. Beim Erzähler handelt es sich um einen schwarzen Parteikommissar, einen afrikanischen Eidgenossen. In visionesken Rückblenden werden die Hintergründe erklärt: Um über genügend Menschenmaterial für ihre Armee zu verfügen, betreibt die SSR Kuschel-­Imperialismus in Afrika, kämpft zunächst erfolgreich gegen Buren und die Kolonisierungsbestrebungen ihrer Oppo­nenten, um anschließend den totalen Strukturwandel zu vollziehen: "Und als ein zivilisatorisches Netz über Ostafrika gelegt war, als elektrischer Strom die Hütten erhellte und die Städte an den Küsten den Schiffen den Weg in die Häfen leuchtete, als Eisenbahnzüge die  Ernte in den Süden und die Medizin in den Norden fuhren, als endlich nie gekannte Gleichheit herrschte, begannen die Schweizer mit dem Bau der Militärakademien, um die Afrikaner zu Soldaten zu machen und damit den gerechten Krieg, der in der Heimat wütete, endlich zu gewinnen." Städte werden errichtet, Afrikaner eingebürgert und zu Offizieren ausgebildet.

Ein solcher Offizier ist auch der Protagonist. Er erhält in Neu­-Bern den Auftrag, den jüdischen Arzt und vermeintlichen Konterrevolutionär Brazhinsky zu verhaften und folgt diesem durch die frostige, ruinöse Schweizer Landschaft bis ins Réduit, der Al­penfestung, die seit nunmehr hundert Jahren in die Berge gegraben wird. Dem Weg des Erzählers folgend, entfaltet sich die düstere, endzeitlich anmutende Albtraumwelt. Kracht vermischt in seinem paradoxen und dennoch seltsam schlüssigen Weltent­wurf futuristische Elemente mit antiquierter Technik, spielt mit Steampunk-­, Comic­- und Filmästhetik. Die vom Krieg bestimmte Menschheitsentwicklung lässt sonderbare Anachronismen entstehen. So scheint der technische Fortschritt einerseits nie über den 1. Weltkrieg hinausgekommen zu sein - bombardiert wird aus Zeppelinen, ge­schossen mit simplen Waffen. Doch dann schwirren wiederholt und wie selbstver­ständlich autarke metallene Sonden umher, wie Relikte aus einer vergangenen High­tech­-Hochkultur. Menschen haben das Lesen ver­- oder nie gelernt, eine Kultur au­ßerhalb des Krieges existiert nicht mehr. Kunstobjekte verstopfen als Plunder Abstell­räume im Réduit. Degenerierte, inhumane, in Hundefelle gekleidete Soldaten zeugen von der allmählichen Umkehr der Evolution. Im Gegensatz dazu stellt Brazhinsky eine Art Neomensch dar, hat eine "Steckdose" im Körper eingebaut und beherrscht die sog. "Rauchsprache", eine Art Telepathie. Kracht lässt diese Verhältnisse, so ab­surd sie auch daherkommen, plausibel erscheinen. Dies ist seinen narrativen Quali­täten zu verdanken. Er bedient sich geschickt Erzählmechanismen aus Science Fic­tion und phantastischer Literatur: Die Welt wird nicht in aller Breite erklärt und es werden meist keine detailreichen Ausführungen geboten. Stattdessen werden immer wieder Einzelheiten und simple Fakten beiläufig und wie selbstverständlich einge­streut, damit angedeutete größere Zusammenhänge sind der Vorstellung des Rezi­pienten überlassen. Darüber hinaus konstruiert Kracht immer wieder mit meisterhaf­ter Leichtigkeit in wenigen Sätzen eine dichte Atmosphäre.

Auch in diesem Text finden sich Kracht­-typisch zahlreiche Zitate, Bilder und Referen­zen aus Literatur (Lovecraft, Orwell), Film (Kubrick, Lynch) und Philosophie (Wittgen­stein). Eine weitere Qualität Krachts: Folgt man seinen Verweisen, wird stets deutlich vorgeführt, wieso eine Trennung von "Popkultur" und "Hochkultur" längst obsolet und unproduktiv ist. Die auftragsgeleitete Reise der Hauptfigur erinnert eindeutig an Jo­seph Conrads Heart Of Darkness. Statt Dschungelwahnsinn erwartet den parteitreu­en Kommissar hier die surreale Bergwelt des Réduits, eine unaufhaltsam sich ver­selbstständigende Kommunismus-­Miniatur, die wiederum in Anarchie übergegangen ist. Dort verweilt der Erzähler einige Monate, währendderen er sich der wahren Zu­stände im Kern der ausgehöhlten Schweizer Zivilisation bewusst wird. Dank dieser Erkenntnis ist seine Reise hier nicht zu Ende, sondern mündet in der einzig noch verbleibenden individualisierten Selbstrettung, der Flucht.

Christian Kracht selbst beschreibt sein neues Buch als Abschluss einer bisher aus Faserland (1995) und 1979 (2001) bestehenden Trilogie, die Gegenwart, Vergan­genheit und Zukunft behandelt. Vieles lässt dies schlüssig erscheinen, als herausra­gendes Vergleichskriterium muss aber die Erzählstruktur gelten: Die Reise dient als handlungssteuernde Strukturmaxime. Den beiden Romanen gemeinsam ist die phy­sische Fortbewegung des jeweiligen Erzählers. Diese befinden sich auf Sinn-­ und Heilssuche, welche scheitert, da es nichts zu finden gibt. Für den Protagonisten in Faserland endet seine Deutschlandreise, höchstwahrscheinlich mit letalem Ausgang, mitten auf dem Zürcher See. Der Ich-­Erzähler in 1979 begibt sich auf Selbsterkennt­nistrip in den Himalaya - und endet verhungernd, aber glücklich im Irrsinn eines chi­nesischen Umerziehungslagers. Tödlich-radikale Selbsttherapie, Katharsis ad absur­dum: wo anders hätte man sich ähnlich sinnlos, dafür weit bequemer des Lebens entäußern können. Diese Endstationen von Krachts Figuren sind deshalb wichtig, weil dem Helden in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten zunächst ein anderes Schicksal beschert wird. Er sucht nichts Metaphysisches, sondern ver­folgt den Dissidenten, folgt seiner Pflicht, und das Ziel seiner Reise ist nicht das Ende, sondern der Ausgangspunkt seiner Selbstrettung. Denn mit der Erkenntnis der in der Alpenfestung herrschenden Sinnleere beginnt nicht nur seine Rückkehr in die afrika­nische Heimat. Der Erzähler, alle ideologischen und zivilisatorischen Zwänge abstrei­fend, flieht aus dem europäischen Kriegschaos. Der transhumanistische Übermensch Brazhinsky endigt in seiner Festung, sich in ödipalem Erkenntnisschrecken selbst die Augen ausstechend. Im letzten Akt folgt dem Individuum die Masse: Die Afrikaner wenden sich von der schweizerisch oktroyierten Urbanität ab, verlassen die Städte, und die Natur erobert Landschaft und Menschen zurück. Zuletzt lässt Kracht noch den verantwortlichen Schweizer Architekten, einen Roman-­Le Corbusier sich in einer seiner eigens entworfenen, nunmehr verlassenen Städte erhängen. Ein anschaulich­-deutlicher Schlusskommentar zur modernen Architektur.

Christian Krachts kontrafaktische Versuchsanordnung ist weit mehr als Uchronie, es ist ein Abgesang auf die sich zwangsläufig aus der Moderne entwickelten Un-Gesellschaft, eine kritische Utopie, in der Stadt­ und Zivilisationsflucht als einziger Ausweg bleibt. Religion, Ideologien, Technisierung, Fortschritt, nichts führt hier ir­gendwohin, außer in die Selbstzerstörung. Lediglich die Totalverweigerung verheißt noch Rettung. Auch wenn Krachts Alternativwelt ins Extreme verlagert ist und ober­flächlich betrachtet sehr wenig mit der realen Welt zu tun hat: Es stellt sich die Frage, ob der Lösungsansatz der Romanwelt angesichts der herrschenden globalen Zu­stände auch für die Realität in letzter Konsequenz als einzig noch verbleibender gel­ten kann.

Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008. 149 S. 16,95 €.

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