Der Tod und das Mädchen - "eine Grammatik des Abschieds"

Siegfried Lenz: Schweigeminute. Novelle
Von Lisa Huber

Eine Geschichte, so zeitlos und selbstverständlich wie das Meer: Ein Schüler verliebt sich in eine junge Frau, sie ist wenige Jahre älter als er, und sie verbringen einen Sommer zusammen. So schön hätte es sein können, so idyllisch, inmitten einer zeitentrückten Meeresszenerie, so tragisch endet die Liebe zwischen den beiden, und Siegfried Lenz beschreibt es mit schmerzvoller Poesie. Christian befindet sich auf einer Gedenkfeier zu Ehren seiner verstorbenen Lehrerin und Geliebten Stella. Während der titelgebenden Schweigeminute teilt er die Erinnerungen an die Beziehung zu Stella mit dem Leser, versetzt sich zurück in eine Zeit, die zu schön war, um nicht vergänglich zu sein. Lenz' Novelle spielt in einem Hafenort, zu einer Zeit, als man Ray Charles und Benny Goodman im Radio hörte. Mehr erfährt man nicht, und mehr ist zu wissen nicht nötig. Christian rekapituliert Szene für Szene dieser Liebesgeschichte, schmerzbeladen, verzweifelt und voller Trauer, aber nie selbstmitleidig. Wie sie zusammen spazierten, diskutierten, schliefen, bis es zu dem verhängnisvollen Unfall kam, der Stellas Leben so unerwartet beendete. Eine kurze Episode im Leben des jungen Christian wird hier geschildert, ausschnitthaft und einschneidend, so, wie sie in unser aller Leben hätte passieren können. Die Tragik ist unausweichlich.


Siegfried Lenz erzählt mit Distanz, fast lakonisch, und geht sparsam mit seinen Mitteln um. Ein Alterswerk liegt hier vor, dem man das Alter des Autors nicht anmerkt; er schreibt weise und lebenserfahren, aber ohne Besserwisserei oder Zynismus. Er beherrscht sein Handwerk virtuos: die Modulation der leisen Töne, eine Sprache, die kunstvoll in ihrer Einfachheit und Schlichtheit ist, die Atmosphäre schafft mit der Präzision und Genauigkeit weniger Worte, ohne in Sentimentalität oder Kitsch zu verfallen: "Was Vergangenheit ist, ist dennoch geschehen und wird fortdauern, und begleitet vom Schmerz und einer zugehörigen Angst werde ich versuchen, das zu finden, was unwiederbringlich ist."

Siegfried Lenz lässt das Meer rauschen und grollen, den Wind im Röhricht knistern und die Möwen flattern, er erschafft eine Atmosphäre voller symboltragender Naturerscheinungen. "Die Wolken, dunkel, zerrissen, trieben niedrig. Auf einmal sah ich ihn, auf einmal sah ich den Zweimaster draußen, der in unsere Bucht hineinkreuzte, stetig kam er auf bei steifem Nordost." Die Figuren sind mit wenigen Strichen gezeichnet, die junge Lehrerin Stella bleibt farblos, ein Rätsel. Christian ist ein durchschnittlicher Junge, kein jugendlicher Casanova, dem alle Herzen zufliegen. Er will nur bei ihr sein, und schmiedet Pläne, mit ihr wegzugehen. Er ist eine Figur, wie sie uns oft in Lenz' Geschichten und Erzählungen begegnet: menschlich, nachvollziehbar und liebenswert.

Leicht kommt diese Liebe zwischen den beiden daher; es herrscht ein Einverständnis, das kaum Dialoge braucht. Dazu passt das, was der Direktor, der wohl diese Liebe zwischen seiner Angestellten und dem Schüler ahnt, zu Christian sagt, als dieser Stellas Foto stehlen will: "Was wir verschweigen, Christian, ist mitunter folgenreicher als das, was wir sagen." Die Selbstverständlichkeit, mit der die Figuren ihre Liebe leben, ist beeindruckend. Da ist nichts Skandalöses an der Liebesbeziehung zwischen den beiden. Dass Stella Christians Lehrerin ist, ist zwar ein Problem, aber keiner der beiden Protagonisten äußert den Gedanken, die Beziehung aus diesem Grund zu beenden, und beide nehmen diese Tatsache als schicksalsgegeben an. Die drohende Vergänglichkeit schwebt dennoch über den beiden, man ahnt, dass diese Liebe nicht von Dauer sein wird, dass eine Gefahr dieses Glück bedroht. Da wird das Altwerden beschrieben, der Verfall des Körpers, drastisch und zugleich zart: "Brot und Schüsselchen stellt sie ihrem Vater hin, sie setzte sich zu ihm und sah zu, wie er aß, schnell aß, mit erkennbarem Altershunger oder sogar einer Altersgier."

In der Person des alten Bordfunkers ist der Tod personifiziert, ein freundlicher Tod, aber allgegenwärtig. Die Ungerechtigkeit von Stellas Tod wird dadurch unterstrichen, dass sie, die Vitale, ihren alten, gebrechlichen Vater nicht überlebt. "Schnell nahm das Wasser die Asche auf, keine Spur blieb, kein Beweis, nur ein lautloses Verschwinden wurde ahnbar, eine Grammatik des Abschieds. Obwohl er stand und stand und auf das Wasser starrte, blieb auch für deinen Vater nichts anderes zu tun, er ergriff einen der Kränze, er ließ ihn nicht einfach fallen, sondern schleuderte ihn hinaus, mit einer Kraft, die mich erstaunte." Christian wechselt innerhalb des Textes zwischen der Ich-Perspektive und dem 'du' der persönlichen Anrede. Durch diese Technik entsteht eine ganz besondere, intime Stimmung, die den Leser tief in die Geschichte hineinzieht, die ihn fühlen lässt, was Christian fühlt, der mit Stella spricht, die ihn nicht mehr hören kann. So entsteht ein Lehrstück über Vergänglichkeit, die hier zugleich eine Vergänglichkeit des Lebens und eine Vergänglichkeit der Jugend ist. Stella, die jung aus dem Leben gerissen wurde, und Christian, der nun von der Leichtigkeit und Unbelastetheit der Jugend Abschied nehmen muss: "Gestützt von der englischen Grammatik, stellte ich die Karte neben unser Bild und spürte einen unwillkürlichen Schmerz bei dem Gedanken, daß ich etwas versäumt hatte oder daß ich um etwas gebracht worden war, das ich mir mehr gewünscht hatte als alles andere."

Auf der Karte steht: "Love, Christian, is a warm bearing wave". Siegfried Lenz' Novelle beschreibt auf eine diskrete Weise, die ihren Figuren niemals zu nahe tritt, aber doch präzise deren Gefühle darstellt, das abrupte Erwachsenwerden und die Trauer des jungen Christian. Ein Buch, wie es nur selten zu finden ist, klarsichtig, zärtlich und brillant erzählt.

Siegfried Lenz: Schweigeminute. Novelle. Hamburg: Hoffmann und Campe 2008. 128 S. 15,95 €.

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