"Ich war keiner von ihnen. Das sagte ich mir jeden Tag"

Benedict Wells: Spinner. Roman
Von Mareike Voigt

"Ich verfluchte die Tatsache, dass mein Leben wie ein mieser Hollywood-Film war." - Der Hauptdarsteller dieser Produktion heißt Jesper Lier, ist wohnhaft in Berlin, Alibi-Student und hauptberuflich Schriftsteller eines neuen 'Ausnahme-Romans'.  Frei nach seiner Vorstellung von einem jungen, vereinzelten und in Selbstfindung begriffenen Genies, ist sein Künstlerdomizil ein finsteres Kellerloch. Der Fußboden ist übersät mit beschriebenen Seiten von "Der Leidensgenosse", seines Welterfolgs in spe. Weitere Charakteristika: wenig Freunde, um genauer zu sein nur Gustav und Frank; allerdings mit dem ehemaligen Lehrer Borning immerhin eine Art Mentor; ein ungesunder Lebensstil, hauptsächlich Alkohol und zu wenig Essen; ein problematisches Verhältnis zur Familie, die er nie schafft, zu besuchen; Probleme mit dem weiblichen Geschlecht, denn Jesper ist noch immer Jungfrau und erfindet sogar eine Freundin; und zu guter Letzt: ausgewachsene Wahnvorstellungen.

In Spinner, dem im Oktober 2009 erschienenen Roman von Benedict Wells, versucht ein junger Mann trotz Depressionen und alltäglicher Rückschläge sein Leben irgendwie in die von ihm gewünschten Bahnen zu zwingen. Wells erzählt eine Adoleszenzgeschichte, mit - es sei gleich gesagt - vielen altbekannten Motiven des Genres. Ein junger Mann fällt nach Abitur und Zivildienst in eine Art Sinnkrise. Um diese zu überwinden, muss er erst traumatische Familienerlebnisse verarbeiten sowie den Prozess der Selbstfindung und Selbsterkenntnis unbeschadet überstehen.

Im Zeitraum einer Woche durchlebt Jesper Lier diese Lebensphase intensivst, inklusive postpubertärem Spiel mit dem Wunsch nach Isolation in der Gesellschaft. Fremd in Berlin muss er seinen Platz in der neuen Umgebung erst finden. Dabei begegnet er vielem mit Abneigung: "Alles nur Schein, Schein, Schein." Und: "Nie fand man in dieser verlogenen Stadt etwas Wahres." Er nimmt sein äußeres Umfeld als oberflächlich und störend wahr, und stellt fest: "Ich war keiner von ihnen. Das sagte ich mir jeden Tag."Dieser Eindruck deckt sich mit dem vieler Intellektueller, die 'Anderen' sind "all diese miesen kleinen Kreaturen mit ihren sicheren Einkommen, ihren sauberen Wohnungen und ihrem vergeudeten, leeren Leben". Jesper klammert sich an die Vorstellung, er sei anders und er wird nicht müde, dies sich selbst und anderen gegenüber in Gesten und Verhalten zu demonstrieren. Er fühlt sich 'getarnt'. Dass sich hinter dieser inszenierten Andersartigkeit neben der "normalen" Adoleszenz auch massive psychische Probleme verbergen, wird mit jedem Tag(eskapitel) des Buches deutlicher.

Zu bedenken wäre etwa, dass sich sein Vater vor anderthalb Jahren 'erfolgreich' die "Pulsadern aufgeschnitten hatte". Durch den Selbstmord fühlt Jesper sich allein gelassen und hegt zudem noch Schuldgefühle. Schließlich sind da noch die Erinnerungen "an seinen Zivildienst in einem Neuköllner Behindertenheim" Obwohl er versucht hatte sie zu verdrängen, bleibt eine schwerwiegende Prägung und Desillusionierung. 

Aufgrund dieser existenziellen Erfahrungen und einem Gefühl begrenzter Handlungsmöglichkeiten, generiert Jesper ein äußerst negatives Selbstbild: "Jesper sein bedeutet im entscheidenden Moment zu verstummen". Und: "Ich bin zur Zeit nicht unbedingt ein Fan von mir." Dieses spiegelt sich auch in seinem fast schon anorektischen Essverhalten wider: Er hat so gut wie nichts Essbares in seinem 'Kellerloch' und lässt sein Essen auswärts oft stehen. Daraus entwickelt sich ein gefährlicher Strudel von Wahnvorstellungen. Die Bekanntschaft mit Miri, einer jungen Studentin, die jedoch keine Beziehung mit Jesper will, ergänzt diese Realität auf unglückliche Weise. Um mit diesem weiteren Tiefschlag fertig zu werden, hält er sich an seine Freunde Gustav, "[er] war schwul, zwei Jahre älter als ich und mein einziger Freund in Berlin" und nach einigen Tagen auch an Frank, den er noch aus Schulzeiten kennt "Frank fiel auf meine fröhliche Fassade rein. Alle fielen sie darauf rein."

Nach dem plötzlichen Tod seines Mentors Borning bröckelt seine Fassade und er versucht, sich von seinen Freunden zu trennen, um weiter in seine Vereinzelung zu flüchten. Seine Wahnvorstellungen nehmen an Bedrohlichkeit zu: "Als ich mich umdrehte, sah ich sie. Ein Rudel von acht Wölfen." Weitere folgen: Finstere Personen aus seinem Roman tauchen auf; verfolgen ihn. Sein Vormieter wird zum gesuchten Verbrecher. Realität und Wahn verbinden sich zu Jespers Wirklichkeit. Endstation Krankenhaus, Intensivstation. 

Benedict Wells bedient sich einer nüchternen Sprache, die Bilder und Klang entstehen lässt. So sagt Jesper von sich: "Ich habe diese eiskalten Hände. Menschen schrecken zurück, wenn sie mir die Hand geben. Und dann starren sie auf meinen langen, weißen Finger, die einem gerade verstorbenen Pianisten gehören könnten, und nachdem sie auf meine Finger gestarrt haben, schauen sie mir ins Gesicht und wirken für einen Augenblick überrascht, dass ich noch lebe, bei diesen toten Händen." Dieser Satz beschreibt treffend das Selbstbild des jungen Mannes zu Beginn des Geschehens. 

In den sieben Tagen der Romanhandlung hastet Jesper durch seine eigene Entwicklung vom verwirrten Teenager zum Erwachsenen. Dies erweckt den Eindruck, das Muster des Entwicklungsromans in 'Goethescher Manier' sei mit modernem Inhalt und versuchtem schöpfungsgeschichtlichen Anklang (sieben Tage) abgehandelt worden. Diesen Vorwurf muss sich der Autor wohl gefallen lassen, denn gerade die Ankunft Jespers in der Erwachsenenwelt wirkt durch den rasanten Handlungsfortschritt eher erzwungen als gelungen. Passend endet der Roman mit der zugegeben pathetischen Weisheit, dass man "manchmal ein kleines bisschen sterben muss, um wieder ein wenig mehr zu leben." Bis zur Mitte der Woche ist es interessant Jespers verwirrtes Leben in Berlin zu verfolgen. Ob sich die zweite Hälfte der 'Schöpfungsgeschichte' zu lesen lohnt, bleibt fragwürdig.

Benedict Wells: Spinner. Roman. Zürich: Diogenes 2009. 308 S. 19,90 €.

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