Die Überwindung des Menschen

Dietmar Dath: Die Abschaffung der Arten
Von Christoph Hümpfner

Die Fabel hat eine lange Tradition. Vom antiken Äsop angefangen über den mittelalterlichen Reinhart Fuchs bis zum Märchen des 19. Jahrhunderts sind Tiere beliebte Handlungsträger. In seinem Roman Die Abschaffung der Arten, der sich auf der Shortlist des deutschen Buchpreises 2008 befand, geht Dietmar Dath einen Schritt weiter: Seine Tiere stellen nicht einfach Tiere mit menschlichen Eigenschaften dar, die dem Menschen den Spiegel vorhalten sollen. Nein, diese Tiere, welche sich Gente nennen, haben die Herrschaft des Homo sapiens auf der Erde abgelöst. Losgelöst vom Diktat der Form, durch welche die Arten beschrieben sind, geht es um Identität, Humanität und deren Behauptung im Kampf ums Dasein.


Die Zeit der Menschen, die Zeit der "Langeweile", ist vorbei. Nun, in der Zeit der "Befreiung", herrschen die Gente - gestaltwandlerisch oder, wie Dath sagen könnte: 'nanobiologisch modulierbar' in ihrer Gestalt, langlebig, erschaffen von Cyrus Golden. Dieser ist ein augusteischer Übervater in der Gestalt eines Löwen, der über die Gente und die drei großen Städte aus de Halbschlaf heraus seit fünfhundert Jahren regiert. "Lebt, als ob ihr auf einer neuen Erde lebtet, die einen neuen Himmel vorhat. So lautet die Weisung des Löwen. Der Financier der neuen Schöpfung, der undurchsichtige Hintermann, ist der Fuchs Ryuneke Nirgendwo. Dieser hat sich von seiner materiellen Form losgesagt und tritt als korrumpierende Personifikation des Mammon in flüssiger Form auf, wie beispielsweise Whisky. So rechtfertigt der Fuchs seinen Beschluss: "Aber wie mit dem Geld, das wir benutzen, um es abzuschaffen, will ich es mit dem Körperlichen halten. Denn was soll ich mich etwa weiter träge in dieser trägen Welt mitbewegen?" Die Dachse haben die Exekutive übernommen, ihre Anführerin Georgescu betreibt aus ethischen Gründen Photosynthese und hat sich deshalb grün gefärbt.

Hier zeigen sich nur einige der revolutionären Aspekte, die in Daths Roman den Leser verwirren. Das Einlesen fällt nicht leicht. Naturwissenschaftlich-philosophische Diskussionen mit futuristischer Biogenetik werden gleich zu Beginn aufgerollt, fakultative Gedankenspiele, die nur schwer nachzuvollziehen sind. Diesen ist, auch aufgrund von Daths mitunter komplexer Satzkonstruktion, nicht immer leicht zu folgen. Mitunter übertreibt es der Autor in einem intolerablen Maße: "unter Berücksichtigung der eingetretenen Ungültigkeit des Okunsabyoschen Gesetzes von Elastizität der Ratio des tatsächlichen zum möglichen produktiven Output eines gegebenen Erzeugungsraums". Dieser Stil ist allerdings nicht durchgängig. Geradezu anarchisch wirkt es dann, wenn der vermeintliche Esel Storikal zwischendurch in dadaistischer Manier neologistisches Kauderwelsch verbreitet: "da jahhaaa setzte sich, bobatz bobei, hubabs, ein so ein wie sag ich das, so ein Spunko hin".

Als Sprachwissenschaftler erlaubt sich Dath auch zahlreiche andere Spielereien. So verständigen sich die Tiere durch ein Pheroinfosystem, das man wohl als Internet des Geruchs bezeichnen kann, Foren inklusive. Auch ihren Speichel können die Gente mit Informationen versehen und zurücklassen. In einer Szene wird Daths neue Welt der Wissenschaft, als der Wolf zu Gast bei forschenden Fischen ist, ironisch pointiert: "Der Wolf beschloß, sein autonomes Hörhirn speichern zu lassen, womit der Angeber ihn vollquasselte. Sollte der Löwe den Matsch doch später aus seinem Gehirn popeln." Wie verstanden sich der Leser an dieser Stelle fühlt. Ein weiterer auffälliger, formaler Aspekt des Buches ist, dass Dath seinen Roman in eine Sonatensatzform bzw. Symphonieform untergliedert hat. Der Roman besteht aus insgesamt vier Teilen - dabei lassen sich die verschiedenen Themen und Akteure durchaus in einem musikalischen Zusammenspiel sehen und die Handlungssprünge weisen ebenfalls Parallelen zu musikalischen Sätzen auf.

Zwischen Absätzen und Kapiteln tauchen periodisch kleine Symbole auf, welche die Hauptfiguren des Romans zeigen. Nach Dath dienen diese nicht nur der Illustration, sondern stellen kleine Totems und Weltbilder dar, die im Sinne einer musikalischen Komposition ihr Thema an späterer Stelle dem Leser wieder ins Gedächtnis bringen. Ein Protagonist des Buches ist der loyale aber einzelgängerische Wolf Dmitri Stephanowitsch. Diesen schickt der Löwe auf eine dringliche Mission. In den Wäldern Südamerikas hat sich ein feministischer Supercomputer namens Katahomenleandraleal erhoben. Dieser plant mit den überlebenden Menschen, zumindest den Frauen, zusammenzuarbeiten, was zur Bildung der mysteriösen Rasse der Keramikaner führt. Diese undurchschaubaren Überwesen bedrohen nun die Vorherrschaft der Gente. Dmitris Aufgabe besteht darin, einen alten Verbündeten des Löwen in Nordamerika aufzusuchen.

Neben den Keramikaneren droht dem Löwenkönig auch Kritik aus den eigenen Reihen. Besonders seine eigenwillige Tochter Lasara konfrontiert den konservativen Monarchen mit antileonistischen Tatsachen. Indem Lasara in Luchsgestalt eine Affäre mit dem Wolf beginnt, ist mehr als nur ein Konflikt zwischen Pflicht und Neigung vorprogrammiert. Daneben gibt es noch zahlreiche andere handelnde Tiere. Ob Laufschwein, Affe mit Künstlerallüren, waffenentwickelnde Fledermaus, intrigante Libelle oder philosophischer Zander, Dath gibt Einblick in einen großen Tiergarten. Die Gente sind in gewisser Hinsicht 'Übermenschen'. Sie sind intelligent, besitzen die Fähigkeit zur Kontemplation ihrer Instinkte und sie wägen über den Verbrauch ihrer Gefühls- und Energieressourcen ab: "Die Freude über diesen Gedanken kämpfte eine Weile in Dmitris Herz mit der Trauer darüber, daß die Welt auch mit all der Macht, die der Löwe hatte, offenbar nicht zu bessern war. Dann gebot er beiden, der Freude wie der Trauer, zu schweigen. Sie gehorchten." Die Gente besitzen tierische Anmut und eine Ratio jenseits von Gut und Böse. "Denn das waren die Gente ja: die erste realisierte Menschheit."

Die letzten Menschen sind den Genten hoffnungslos unterlegen, tauchen nur noch als Randerscheinungen auf, manche werden als illegale Sexsklaven im "Menschenpuff" gehalten. Um die letzten Menschen zu sabotieren, greifen die Gente zur biologischen Kriegsführung, die ihren Gegnern die Hände zerstört. Nur Abscheu und Mitleid hat der Wolf für einen Menschen, den er in der Wildnis tötet. "Er biß dem armen Idioten die Kehle durch und spuckte, was er zwischen seinen Zähnen aus dem Menschenhals herausgerissen hatte, angewidert in den Schnee." Nur die rätselhafte Komponistin, deren Bedeutung sich erst sehr spät erschließt (und die wohl auch demnach Frau Späth heißt), scheint in ihrer Menschengestalt mächtig zu sein. Ihre eigene Auffassung lautet: "Die Langweiler, die so waren, wie ich es war: langweilig eben, aber irgendwie doch ganz liebenswert, wer immer strebend sich bemüht..."; "Ich glaub, ich werde zur Abwechslung mal das, was die Welt noch nicht gesehen hat. Ein freier Mensch." Sie lässt in ihrem Wortschatz die längst vergangene Popkultur der Menschen wieder aufleben.

Auch die Welt der Gente fällt schließlich der zerstörerischen Evolution zum Opfer, die Gente werden von einer überlegenen Spezies verdrängt, so, wie sie selbst einst die Menschen verdrängten. Nach der guten Hälfte des Buches hat sich der Leser mit zwei neuen Planeten anzufreunden, auf welche der Exodus die Gente führte. Daths Abschaffung der Arten stellt ein Experiment dar, ein Gedankenspiel über Fortschritt und Wissenschaft. Sind zum einen die Artengrenzen durch die biotechnische Freiheit überwunden, so drohen die vielfältigen Gente zum anderen durch die assimilierten Computerexistenzen der Keramikaner gänzlich vernichtet zu werden. Sowohl die alte Erde als auch die neuen Schauplätze der Zukunft, die bewohnbar gemachten Planeten Mars und Venus, ereichen in ihrer Entwicklung nur die Dekadenz. Dabei bedient sich Dath sämtlicher Genres. Die splatterhaltigen Gefechte mit den Keramikanern erinnern an Filme wie Star Ship Troopers und die futuristischen Waffen der Echsenkrieger auf dem Mars an martialische Shooter. Sogar ein Riesenaffe darf eine Stadt zerstören.

Ob Utopie oder Dystopie, es ist ein schmaler Grat zwischen Staunen und Abscheu, welche den Leser angesichts dieser schönen neuen Welt der Gente befallen. Mal bieder und ernst, mal kindlich-verspielt, mal wissenschaftlich verkopft, Dath zieht alle Register. Das ist es, was diesen Roman trotz seiner enervierenden Komplexität lesenswert macht. Er weiß stets zu überraschen und konventionelle Muster der Erzählung zu übergehen.

Dietmar Dath: Die Abschaffung der Arten. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2008. 552 S. 24,80 €.

1 Kommentar:

  1. Empfehlung Buch-Neuerscheinung: „Ausgesetzt zur Existenz“; Franz Sternbald

    *

    Die Virtualität einer augmented reality besitzt ihre eigene übergriffige Wirksamkeit. In einer digitalisierten Lebenswelt verlieren die Potentiale der biodynamischen Anpassung hingegen ihre Wirksamkeit. Eine ‚Fitness’ des Menschen wird künftig daher nur durch die Ergänzung und letztendlicher Überwältigung der organischen Lebensfunktionen durch synthetische Prothetik (Neuroimpuls-Multiplikatoren; Muskel-Aktuatoren; brain-enhancement; nanometrisch selbstorganisierende Polymerstrukturen zur Generierung künstlicher neuronaler Netzwerke, die als effiziente Datenleitungen den Organismus durchsetzen; gentechnische Manipulation der biologischen Erbsubstanz) möglich sein. Damit tritt die Evolution, die gewissen weltanschaulichen Kreisen bereits in der biologischen Ausprägung suspekt erscheint, unversehens in die digitalisierte Phase 4.0, ohne im gleichen Maße eine leidenschaftliche Debatte auszulösen, wie gegenüber ihrem Vor- und Auslaufmodell im 19. Jhrd., zur Zeit der luddistischen Maschinensturm-Proteste
    Mit dem Auftreten des kybernetischen Organismus, dem androiden Cyborg als dem ‚besseren Menschen’, unterstützt von einer künstlichen Intelligenz-Effizienz, gewinnt der Begriff des Sozial-Darwinismus eine qualitativ unheimliche Dimension hinzu.
    Eingespannt in eine technoide Montur von exorbitanter Potenz, wird der kommende ‚Übermensch’ zu einem lebensuntauglich schwächlichen Wesen mutieren, an Körper und Seele atrophiert, sein Geist auf ein digitales Speichermedium gebannt. Aber die wuchtigen robotronischen Werk-Zeuge, die sich das Organische einverleibt haben werden, pflügen effizienter den Planeten um; und es ist ihnen gleich ob es noch die Erde selbst ist, oder der Mars – weil sie sich ja doch irgendwann ähneln werden.
    In der heraufdämmernden Epoche des Transhumanismus erwächst dem Menschen nicht nur eine weitere Demütigung, sondern eine veritabel existentielle Gefahr. Wenn darin für uns die Idee eines „Übermenschen“ verwirklicht zu werden scheint, haben wir Nietzsches Postulat von der ‚Überwindung des Menschen’ eine willkürlich neue Deutung gegeben, die nicht in der Intention seines Urhebers gelegen haben kann.
    Der ‚Letzte Mensch’ am Joystick derjenigen Apparatur, von der er selbst künftig ein funktionaler Teil, und autonom lebensunfähig geworden sein wird, wähnt sich wohl am Steuer, während die Maschine, über die Kanäle der neuronalen Verbindungen zu dessen Gehirn, ihn wohlweislich darüber in der Illusion von der Autonomie belassen wird, während es doch längst sie selbst es ist, die denkt und lenkt.
    Dies ist der Omega-Dollpunkt der smarten Singularität, wie ihn die transhumanistischen Verfechter der sog. ‚Starken KI’ anstreben, in der das Organische mit dem Technologischen verschmolzen sein wird.

    *

    „ Ausgesetzt zur Existenz “ – warum der Mensch ein Schicksal ist
    - vom Ausgang aus der unverschuldeten Absurdität –
    Verlag BoD-Norderstedt
    Franz Sternbald

    AntwortenLöschen

 
Creative Commons License
Diese Inhalte sind unter einer Creative Commons-Lizenz lizenziert.