Über "Berganalphabeten" und die Macht der Sprache

Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Roman
Von Nils Neusüß

Die Weltordnung wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Lenin ist in der Schweiz geblieben und hat dort die kommunistische Revolution angeführt. Das Ergebnis ist ein bereits fast hundert Jahre andauernder Erster Weltkrieg, in dem die Schweizer Sowjetrepublik gegen ein faschistisches deutsch-englisches Bündnis und "Hindustanien" kämpft. Russland ist atomar verseucht und Afrika zu zwei Dritteln kolonialisiert. Der Ich-Erzähler ist ein in Afrika geborener, aber in der Schweiz lebender Kommissär. Sein Aufgabenbereich umfasst vor allem, das Militär auf die politische Linie hin zu überprüfen. Als solcher bekommt er die Mission, den polnischen Juden Brazhinsky festzunehmen, der sich im Réduit, einem in die Alpen gegrabenem Bollwerk, verstecken soll.


Der Erzähler reist also durch die Schweiz bis zu der Festung am Schreckhorn und findet dort zwar Brazhinsky, stellt aber zudem fest, dass das Innenleben des Berges eine Farce ist. "Nichts funktioniert. Es ist alles nur Propaganda, es ist alles schon lange kaputt. Das Bombastische des Réduits ist ein magisches Ritual, ein leeres Ritual. Es war immer leer, es wird immer leer sein." Nachdem der namenlose Erzähler dies erkannt, akzeptiert und verstanden hat, führt er seinen Weg fort, kehrt nicht zurück zu seinem Ausgangspunkt, sondern zieht weiter in den Süden, viel weiter. Er geht zurück in seine Heimat - Afrika. Tausende Menschen folgen seinem Beispiel, verlassen die Städte. Der Erzähler bekommt eine fast messianische Bedeutung: Er wird zum Anführer, zum Erlöser der Massen.

Schon in diesem kurzen Abriss der Umstände und der darin eingebetteten Handlung finden sich Ansatzpunkte für sehr verschiedene Lesarten bzw. Interpretationen des Romans. Die politische Lage, der ewig währende Krieg stellen die typischen utopischen Fragen: Was wäre wenn? Und wäre es dann besser? Thematisch bewegt sich Kracht damit nah an Philip K. Dicks Das Orakel vom Berge, in dem der amerikanische Science-Fiction-Autor eine alternative Welt zeichnet, in der Japan und Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben. Die Reise, ein Motiv, das schon in Krachts Faserland (durch Deutschland bis in die Schweiz) und in 1979 (von Teheran in ein chinesisches Straflager) eine tragende Rolle spielte, bietet auch in seinem neuen Roman einen weiteren Interpretationsansatz. Der Reisende ist ein Entdecker. Durch die sich verändernde Umgebung bekommt er eine neue Sichtweise auf sich selbst. Auch Krachts Erzähler verändert sich. Sowohl charakterlich als auch, zur Verdeutlichung, körperlich. Seine Augen werden blau.

Den Bezug auf Dick hat Kracht genauso offen gelegt wie die offensichtliche Ähnlichkeit zu Joseph Conrads Herz der Finsternis. Dort ist es Kapitän Marlow, der eine Reise durch den Kongo unternimmt, um den verrückt gewordenen Elfenbeinhändler Kurtz zu finden. "Die weißen Affen ohne Fell beherrschen die schwarzen Affen ohne Fell." Natürlich ist auch Krachts Alternativwelt nicht frei von Rassismus. Bei einem dunkelhäutigen Erzähler in der durch und durch weißen Schweiz, dem Kolonialherrentum in Afrika und dem Faschismus in Deutschland und England, kann oder will auch Kracht - trotz seines Hangs zum Ästhetizismus - offenbar diese Thematik nicht umgehen. Neben diesen doch recht offensichtlichen Deutungsmöglichkeiten, gibt es eine weitere, verborgenere Ebene: Sprache. Mehrere Punkte deuten darauf hin: In der Schweiz kann, von wenigen Ausnahmen abgesehen, niemand lesen und schreiben; der Erzähler verwendet Worte aus seiner Muttersprache, Kinder heißen bei ihm beispielsweise "Mwanas"; außerdem werden verstreut schweizerische Ausdrücke gebraucht; am außerordentlichsten fällt die von Brazhinsky erfundene "Rauchsprache" auf. Es ist eine esoterische Sprach, die ohne Laute auskommt. Brazhinsky schafft es sogar, den Erzähler mit seinem Lachen zu schubsen oder drei Menschen gleichzeitig zu entwaffnen. Die Macht der Sprache?

Die Kombination aus Dystopie und Problematik von Sprache und Schrift ist nicht neu. Auch in diesem Punkt ähnelt der Roman internationalen Klassikern. In Fahrenheit 451 von Ray Bradbury werden Bücher verboten und verbrannt. In Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten fallen Bibeln, den kommunistischen Atheismus überspitzend, dem Feuer zum Opfer. Ebenfalls George Orwells 1984 ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Orwell vermischt auch mehrere Sprachen miteinander, erfindet sogar eine neue: Neu-Sprech. In einem Gespräch zwischen Brazhinskys Frau Favre und dem Erzähler erklärt sie ihm: "Wir, die wir früher im Frieden viel gelesen haben, Bücher geschrieben, Bücher gedruckt, Bibliotheken besucht haben, bilden uns evolutionär von der Schrift weg, sie wird immer unwichtiger. Es entsteht eine Privatsprache, wenn Sie so wollen." Die Feinde aus Deutschland beschimpfen das schweizerische Volk als "Berganalphabeten".

Favre ist Divisionärin, Teil des Militärs, ihr Mann erhebt sich zum Guru im Réduit, über das er selbst sagt: "Der Kern, verstehen Sie? Eine autonome Schweiz." Favre stirbt bei einem Granateinschlag, Brazhinsky sticht sich die Augen aus und die Schweiz scheint am Ende des Romans unterzugehen. Der Erzähler überlebt, der einzige, der ein Notizbuch nutzt. Der Erlöser ist ein Schriftsteller. "Ein pfeifendes Sausen kam von Norden über den Himmel. Wir duckten uns nicht, ich ging neben Favre. Sie sagte: »Warten Sie hier«, lief vielleicht dreissig Schritte vor mir die Strasse hinauf und drehte sich zu mir um. Sie hob die Augenbrauen, die Granate schlug ein, und sie war fort." In Absätzen wie diesen schafft Kracht es, in wenigen Sätzen den Krieg mit all seinem Horror zu veranschaulichen. Dem Autor gelingt es, Atmosphäre zu erzeugen. "Der Weg zum Bahnhof schien jeden Morgen wie eine Theaterkulisse; erst ging es an mit Rauhreif überzogenen Wellblechhütten vorbei, dann kam ein Gatter, Bäume, immer wieder schwarze Vögel". Solche Sätze malen graue, eiskalte Novemberbilder, während die Beschreibung des Réduits an tropisch-schwüle Fieberträume erinnert: "Ich sah dampfende Röhren, die wie das Wurzelwerk eines endlosen unterirdischen Baumes aus den Wänden wuchsen, perspektivisch unmögliche Böden, hoch über mir Decken von denen kondensierte Feuchtigkeit auf uns niedertropfte".

Neben der Fähigkeit, Metaphern und Bilder treffend einzusetzen, überzeugt der Roman durch geschickten Umgang mit unterschiedlichen Erzählgeschwindigkeiten. Zu Beginn wird noch sehr ausführlich und detailliert erzählt, die erste Romanhälfte umfasst nur wenige Tage. Nach dem Höhepunkt im Réduit jedoch erhöht sich das Erzähltempo, mehrere Monate werden auf wenigen Seiten zusammengerafft. Kaum ist der Erzähler den Alpen entkommen, wandert er schon durch Afrika. Gleichzeitig verschiebt sich der Fokus der Betrachtung. Während die ersten Kapitel ausschließlich den Kommissär als ein Individuum behandeln, befassen sich die letzten Kapitel mit den Massen, die dem Erzähler auf seiner Rückkehr folgen. Im letzten Kapitel taucht der Erzähler als Figur daher gar nicht mehr auf. Was für den Einzelnen gilt, gilt auch für die Masse.

Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008. 149 S. 16,95 €.

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