Es war einmal in einem versunkenem Land ...

Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman
Von Mareike Voigt

"Elektrische Zitronen aus dem VEB 'Narva'" als Weihnachtsbaumlichter, ein aknegeplagter Teenager, Kohlenknappheit und ein "Tausendaugenhaus": Es ist Winter in der Deutschen Demokratischen Republik, sieben Jahre vor der Wende und Christian Hoffmann ist auf dem Weg zum Geburtstag seines Vaters Richard. Christian ist der älteste Spross einer bildungsbürgerlichen Familie, die ihre Nische im 'real-existierenden Sozialismus' im Dresdener Turmviertel gefunden hat. Mit der Ausleuchtung dieser Nische nebst ihrer Bewohner beschäftigt sich der im Herbst 2008 erschienene Roman Der Turm von Uwe Tellkamp, für den er im selben Jahr den Deutschen Buchpreis erhielt.


Gespiegelt am Leben der Turm-Bewohner werden auf fast 1000 Seiten die letzten sieben Jahre der DDR und schließlich ihr Untergang erzählt. Tellkamp öffnet ein Fenster zu einer Vergangenheit, das zeigt, dass in der Mentalität eines Teils der Bevölkerung auch östlich des 'Antifaschistischen Schutzwalls' noch atavistische Vorstellungen des 'alten Dresden' verankert sind. Gerade aufgrund eigener biographischer Berührungspunkte - Uwe Tellkamp wuchs im Turmviertel auf - gelingt es dem Autor "die süße Krankheit Gestern", an der die vergangenheitsverklärenden Turmbewohner leiden, kritisch zu beleuchten. Dies geschieht durch die Figur Meno Rohde, Lektor beim Dresdener Hermes Verlag und Lieblingsonkel von Christian, etwa indem Meno in seinen persönlichen Aufzeichnungen ein typisches "Dresdener Gespräch" protokolliert:
"»Was ist, ist nicht, was war. Kein Vergleich. Nee, nee. Heute: Dresdengrad. Provinz in der UddSR: Union der deutschsprachigen Sowjetrepubliken. [...] Und früher: Warn wir Residenz. Residenz!«
»Elbflorenz, so italienisch weich, eine lächelnde Stadt!«
»Und die soziale Lage? Wie lebte man damals wirklich? Eine schöne Fassade für viel Elend? Gab es nicht 100 000 Arbeitslose 1933? Waren die Mörder nicht unter uns?«
»Ach, Schluß! Hätteter de Nazis nicht gewählt, würd’s immer noch lächeln.«
»Du bist kein richtscher Dresdner, wenn du so was sagst, du liebst deine Stadt nicht!«"

Gefangen in einem Netz aus Vorstellungen von der alten Glorie Dresdens, von Hoffnungen auf Freiheit und auf bessere Zeiten in einer fernen Zukunft, von Bespitzelung und Angst vor Verrat durch die eigenen Freunde und Familie, versuchen die Turmbewohner, ihr Leben irgendwie innerhalb der Planwirtschaft zu organisieren. Diesen Dresdener Alltag beschreibt Tellkamp in einem märchenhaft anmutenden Ton, durch den er die Erlebnisse der Turmbewohner miteinander stimmungshaft verwebt und mit syästhetischer Vielfalt besondere Atmosphäre fixiert. Tellkamp entwirft eine Welt, in der sogar Häuser Namen tragen. Das "Tausendaugenhaus", das mitunter Christians Lieblingsonkel Meno bewohnt, wird entsprechend sinnlich eingeführt: "das »Kwitt« des Käuzchens drang nun vom Park herüber, der neben der Mondleite steil abfiel und an den Garten des Tausendaugenhauses mit einem Saum von Tränenkiefern grenzte, die ihren harzigen Duft in den metallischen der Schneeluft mischten."

Das Ergebnis wirkt beinahe wie eine Mischung aus hochauflösendem Digitalfoto, romantischem Gemälde von Caspar David Friedrich, einem fernöstlichen Gewürzbasar und dem harmonischen Klang eines Orchesters. An letzteres erinnert bereits der Beginn des Romans, den Uwe Tellkamp als regelrechte Ouvertüre, so auch der Titel des Vorspanns zum ersten Kapitel, zu seiner Vergangenheitsbeschau gestaltet hat. Vorausdeutend ist schon hier der Verfall der DDR auf sinnlicher Ebene präsent: "im Tiefseedunkel kroch das Spüllicht der Kanalisation, tropfender Absud der Häuser und VEB, in der Tiefe, wo die Lemuren gruben, stauten sich die ölig-schwere, metallische Brühe der Galvanikbäder, Wasser aus Restaurants und Braunkohlekraftwerken und Kombinaten, die Schaumbäche der Reinigungsmittelfabriken, Abwässer der Stahlwerke, der Krankenhäuser, der Eisenhütten und der Industriezonen."

Neben Christians schulischer Entwicklung und seiner ersten Liebe beschreibt Tellkamp besonders die Zeit bei der Nationalen Volksarmee, zu der er sich für drei Jahre 'freiwillig' verpflichtet hat, was hilft, seine Chancen auf einen Medizinstudienplatz bedeutend zu erhöhen. Um die Entfernung zwischen dem "Ausbildungszentrum Q/Unteroffiziersschule Schwanenberg" und dem heimatlichen Turmviertel zu überbrücken, schreibt Christian, jetzt "Unteroffiziersanwärter Hoffmann", fortan heimlich ausführliche Briefe an die Turmbewohner. Von den hierarchischen Strukturen innerhalb des "Zimmers 227" bis zu Beschreibungen von "Einsatzübungen gegen den Klassenfeind" gewährt Christian detaillierten Einblick in die militärische Grundausbildung der DDR. Musikalische Begleitung leistet dabei ein Lied, das von Christian in einem Brief an seine Eltern auch in ironischer Absicht zitiert wird: "Rosa ist die Waffenfarbe, / die so stolz ich trag', / rosa ist ein Kleid von dir, / das so gern ich mag. // Von den Feldern winken Tücher, / eins davon gilt mir, / in Gedanken küss' ich dich, / bald bin ich bei dir. // Freust du dich auf heute Abend, / auf den Tanz zu zweit, / dort wirst du die Schönste sein, / du im rosa Kleid. // Durch das kleine Dorf marschiert / unsere Kompanie, / wo der Weg zu dir hinführt, / das vergess' ich nie."

Unter den Bewohnern des Turmviertels genießt Meno durch seinen Beruf als Lektor das seltene Privileg, schon einmal bei der Zensurbehörde gewesen zu sein in "Ostrom", dem Stadtteil der Parteifunktionäre, der nur durch spezielle Passierscheine zu erreichen ist. Die regelrechte Abschottung der Funktionäre vom Volk in einem eigenen, von Soldaten geschützten Stadtteil, erinnert an die ausgeprägte Kaisersakralität der römischen Kaiserzeit, die durch die eigens eingerichtete Prätorianergarde geschützt wurde. Aufgrund von Menos Beschäftigung beim Verlag wird ein Kontakt zur intellektuellen Szene Dresdens hergestellt. So werden die Schwierigkeiten der Veröffentlichung eines Buches in der DDR offenbart, z.B. die Existenzbedrohung eines Autors durch seinen Ausschluss aus dem "Verband der Geistestätigen der DDR". Richard Hoffmann, Chirurg, hat seit Jahren eine Affäre mit Josta, einer Sekretärin aus dem Krankenhaus, und eine gemeinsame Tochter mit ihr. Wegen ihr ist er für die Stasi erpressbar geworden und muss um seine Ehe mit Anne fürchten. So hat jeder der Turmbewohner um die Verwirklichung des eigenen Lebensplans und den Erhalt des bereits Erreichten, gegen per-sönliche Schwächen, Stasi und Planwirtschaft zu kämpfen.

Die Sprache, die Uwe Tellkamp dafür gebraucht, hat mit Kampf allerdings nicht viel gemein, sondern gibt vielmehr eine melancholische, romantisch-fließende Welt wider: "Der Mond war langsam gestie-gen und hatte sich von der kalt-trägen, wie flüssige Erde wirkenden Masse des Stroms gelöst, um allein über den Wiesen mit ihren in Nebelgespinste gehüllten Weiden, dem Bootshaus auf der Altstädter Elbseite zu stehen, den gegen Pillnitz zu sich verlierenden Höhenzügen." Bei solch malerischen Satzkonstruktionen ist es nicht schwer nachvollziehbar, dass Thomas Mann ein Vorbild Uwe Tellkamps ist. Auch im Zusammenhang mit der Niedergangsthematik des Turms und insbesondere bei einem Blick auf Christian drängen sich die Ähnlichkeiten besonders zu den Buddenbrooks geradezu auf. So überrascht es nicht, dass er Violoncello spielt und künstlerisch begabt ist, wie sein Namensvetter. Und obwohl "Christian, wenn Ezzo und Reglinde [sein Cousin und seine Cousine] Zeit hatten, [...] das Cello mitbrachte, [und sie] dann Streichquartette spielten", reicht auch sein Talent nicht zu Höherem. Wie bei Mann ist die Zukunft Christians durch den Beruf seines Vaters vorbestimmt. Diese Parallelen zu den Figuren Thomas Manns, besonders bei Christian, erscheinen allerdings teilweise etwas zu aufdringlich und künstlich aufgesetzt.

Der Roman endet mit der Wende 1989. Uwe Tellkamps Der Turm ist ein Roman der Träume in einer häufig bitteren Realität. Er zeichnet das Porträt einer Gesellschaft, deren mühsam erhaltene Nische im 'real-existierenden Sozialismus' durch die Wende plötzlich aufgelöst wird. Wie sie damit umgehen, bleibt der Fantasie des Betrachters überlassen.

Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2008. 976 S. 24,80 €.

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