Von der Selbstfindung, von sprechenden Igeln und von Eichendorffs Taugenichts

Alexander Rösler: Ich bin nur mal kurz mein Glück suchen ... Neues vom Taugenichts
Von Michaela Kuntz

Ich bin nur mal kurz mein Glück suchen: Der Titel trifft den Nagel auf den Kopf: Das 'Ich' heißt Robert - und macht sich mit siebzehn Jahren und großer Gelassenheit einfach von seinem Elternhaus davon. Es sind keine tragischen Familienstreitigkeiten, die ihn mit gut gepacktem Rucksack und Haushaltskasse, aber ohne Plan und Ziel in die Ungewissheit der weiten Welt treiben. Nein, zuhause in der thüringischen Kleinstadt ist alles wie immer: Vater mäht allsamstäglich den Rasen, einmal längs und einmal quer, Mutter geht mit feuchtem Lappen und in Gesundheitssandalen auf Staubkornsuche. Dann fordert sein Vater Robert auf: "Mach endlich was, tu was Sinnvolles, lauf wenigstens irgendwohin und mach irgendwas von Nutzen!" Und genau das macht Robert. Er steht auf und sucht sein Glück woanders.


Es ist Robert selbst, der den Leser durch die Welten führt, die er während dieser Suche passiert. Und jede Welt hat ihre Herausforderung parat. Er muss einem Bauern beim Schlachten einer Kuh behilflich sein, später wäscht er in einem Altenpflegeheim Patienten, übernachtet in einem Schwimmbad und muss sich als Aktmodell tarnen, als er von zwei armenischen Brüdern quer durch Chicago gejagt wird. Dorthin führt ihn seine Reise, denn er folgt seiner große Liebe Anaid, einem armenischen Mädchen, das er während des Bettelns in Frankfurt kennengelernt hat. Robert hat also schon mehr erlebt, als mancher Mensch während seines gesamten Lebens.

Er beschreibt alle seine schönen und weniger schönen Augenblicke mit einer sachlichen Pragmatik, was der Erzählung den Charakter eines Berichtes verleiht: "Ich brachte Wasser, Frau Fischer schaute mich an und lächelte mit dem linken Mundwinkel. Ich guckte Gertrud zu, wie sie das Gesicht wusch und Frau Fischer ein bisschen mithalf, dann die Achseln, Brüste, Bauch und den Hintern, die Pobacken in Seitenlage mit Daumen und Zeigefinger der linken spreizend." Lediglich sein ironischer Unterton verleiht ihm die gewisse Frechheit, die Jugendlichen bekanntermaßen eigen ist: "Er stammte aus dem Sauerland, seine Freundin war aus Thailand oder so, hatte eine Haut wie Nutella und war stumm, weil sie mit dem Kapitän zusammen sein durfte. [...] Der Kapitän tätschelte die Backbordseite seiner Süßen und stellte mir seinen polnischen Maschinisten vor." Mit dieser nüchternen Sichtweise meistert Robert alle seine Erlebnisse, ohne einen Moment lang daran zu denken, ins heimische Nest zurück zu flüchten. Es sieht so aus, als ob er mit keiner Herausforderung, die ihm die Welt stellen könnte, ein Problem hätte. Das wirkt beim ersten Lesen der Lektüre natürlich beeindruckend, immerhin ist der Protagonist erst siebzehn. Aber dann wird man misstrauisch. Auf den zweiten Blick bekommt die vermeintliche Stärke des Protagonisten einen bitteren Beigeschmack: Die Leichtigkeit, mit der Robert an Herausforderungen herangeht, ist nicht mehr als das Ergebnis eines schlecht ausgearbeiteten Charakters. Der Autor macht nämlich in besagten Situationen keine Ausführungen zu seinen seelischen Reaktionen, Verarbeitungsmechanismen, inneren Konflikten oder über tiefergehende Motivationen.

Ruft man sich den Titel des Buches ins Gedächtnis, stellt man einen Widerspruch fest: Es geht danach um die Suche nach dem Glück. Das ist zunächst ein sehr viel- und doch nichtssagender Begriff, und um ihm Sinn zu geben, muss man erst einmal viel über sich selbst lernen. Also: Der Titel verspricht, dass die Suche nach sich selbst ein Thema hohen Ranges in Röslers Werk ist. Wenn allerdings das ‚Selbst‘ des Protagonisten, und damit der für den jugendlichen Leser so wichtigen Identifikationsfigur, verloren geht, ist fraglich, ob diesem das Thema noch vollständig vermittelt werden kann. Ein weiteres Problem besteht darin, dass der Held in den 134 Seiten straff gespannter Handlung untergeht, obwohl diese einen Hintergrund bietet, vor dem er sich entfalten könnte und mit dem sich der Leser auch identifizieren kann. Die Nebenfiguren drängen sich nicht in den Vordergrund, sondern sind recht einfach gestaltet. Sie entsprechen zudem Stereotypen, was dem Jugendlichen die Einordnung der Nebenfiguren in die Handlung erleichtert: Es gibt beispielsweise den verschrobenen Losbudenbesitzer Meckel, die beiden handgreiflichen Brüder Anaids, den afrikanischen Einwanderer Bobo, der versucht, den amerikanischen Traum zu leben, und eine Bar voller Homosexueller, die in Robert nur einen blutjungen, hübschen Ausländer mit einer "wilden Sprache" sehen.

Auch der Stoff ist dem Rezipienten vertraut. Es geht um das Leben, das voller Abenteuer steckt, um die Auseinandersetzung mit der elterlichen Spießerwelt, um Liebe, gepaart mit ordentlichen Hormonschüben. Die Identifikation mit dem Handlungshintergrund ist somit erreicht, es fehlt aber die Identifikationsfigur. Diese bleibt oberflächlich. Hat Rösler schlichtweg 'vergessen', ihn ausführlicher zu charakterisieren? Hat er sich vielleicht einfach zu viel von Eichendorffs Taugenichts leiten lassen? Der wirkt nämlich ähnlich charakterflach wie Robert. Jedenfalls ist der Traditionsbezug unübersehbar: Der Beweis steckt ebenso im Titel Neues vom Taugenichts wie in dem Umstand, dass das tatsächliche Werk Eichendorffs in englischer Ausgabe in Roberts Hände gerät. Und, wie das Original, zeigt auch Röslers Text viele Merkmale der Novellenform: die Textlänge, die pikaresk anmutenden Abenteuer, in die der planlose Held ständig gerät, die typische unerhörte Begebenheit in Form des plötzlichen Davonmachens von zuhause, die einsträngige Handlungsführung. Sogar so etwas wie ein Dingsymbol ist zu finden - und zwar in Form eines Igels, dem Robert dreimal begegnet und mit dem er meint sprechen zu können. Dieser scheint ihn zu seiner großen Liebe führen zu wollen.

Und der Protagonist? Er erlebt ähnliche Dinge wie sein Vorgänger, angefangen bei der Ursprungssituation über seine erste Mitfahrgelegenheit in Form einer Kutsche bis hin zur Schifffahrt zurück nach Europa. Auch gleicht seine Haltung der Welt gegenüber, obgleich nur ansatzweise, der antiutilitaristischen Haltung des alten Taugenichts: "Alles geht von selbst, die Füße, der Atem und die Gedanken. Ich dachte beim Wandern an nichts Bestimmtes, die Gedanken flossen wie Wolken bei raschem Wind, ich hielt nichts mehr fest, ließ die Gedanken mit dem Atem kommen und mit dem Atem gehen." Rösler vereint sein Werk in ausgewogenem Maße mit dessen Vorlage: Bei ihm findet sich die überaus romantische Eichendorff-Lyrik lediglich als belustigendes Gedicht auf einer Speisekarte wieder. Die angestaubte Sprache hat er durch eine zeitgemäße jugendliche Umgangssprache ersetzt. Der Erzähler lebt im Jahr 2008, das wird vom Autor glaubhaft umgesetzt. So schafft er es, mit diesem Buch einem jugendlichen Leser den Inhalt eines romantischen Klassikers unterzuschieben, ohne dass dieser wähnt, ihn gelesen zu haben. Trotzdem wiegt der unausgearbeitete Charakter Roberts schwer, denn der Titel des Buches verspricht mehr als eine reine Literaturadaption.

Alexander Rösler: Ich bin nur mal kurz mein Glück suchen ... Neues vom Taugenichts.
Würzburg: Arena Verlag 2008. 134 S. 9,95 €

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