Pfefferminz auf der Friedhofscouch

Hanne Kulessa: Der große schwarze Akt. Roman
Von Ina Kroker

"Der Grabstein war umgefallen. Über dem Sterbedatum klebte ein gelber Zettel, und auf dem gelben Zettel stand: ›Umfallgefahr!‹" Es ist eine absurde Begebenheit, mit der sich die kunstsinnige Paula konfrontiert sieht, als sie auf dem Friedhof an das Grab ihrer Mutter tritt. Es soll nicht die einzige Absurdität bleiben, aus der Hanne Kulessa ihren Debutroman Der Große Schwarze Akt zusammenwebt. Paula kann nur kurz über das umgekippte Grabmal sinnieren, denn plötzlich steht ein Fremder vor ihr und bietet ihr ein Pfefferminzbonbon an. Wie der Mann heißt, der tatsächlich ein Pfefferminzbonbonvertreter ist, und woher er kommt, danach fragt Paula nicht.
Der Friedhof wird zur Freud'schen Couch und wie von selbst erzählt Paula dem Fremden mit den Fisherman's Friend-Tütchen in der Tasche Geschichten: Geschichten von sich und von anderen, wahre und erfundene - denn Paula leidet, wie sie dem Fremden gegenüber selbst sagt, an "phantastischer Pseudologie": "Entweder ich weiß oder ich weiß nicht. Oder ich erfinde. Oder ich lüge". Und so leben in ihren Gesprächen mit dem Fremden Personen aus Paulas Umfeld wieder auf, wie Herr Schurig, ihr "Mansardennachbar", in den sie einst verliebt war - oder eben auch nicht - oder Paulas Mutter. Die ist mal Inhaberin eines Lebensmittelladens, mal Boutiquebesitzerin, so dass der Fremde nur erstaunt reagieren kann: "Entschuldigung, ihre Mutter hatte eine Boutique? Ja, sagte ich. Meine Mutter war ein Tausendsassa. Hier ein Lebensmittelladen, da eine Boutique oder eine Wäscherei mit Heißmangel, mal war sie Blumenverkäuferin, mal Zeitschriftenvertreterin".

Es sind Erzählungen und unzählige skurrile Situationen, aus denen sich allmählich die Geschichte der Kindheit Paulas in den späten fünfziger und sechziger Jahren in einer zerrütteten Kleinbürgerfamilie zusammensetzt. Die Gespräche auf dem Friedhof fördern Erinnerungen an die unglückliche Ehe der Eltern, Paulas eigene gescheiterte Ehe sowie ihre Träume und Verluste zutage. Als sei es eine stillschweigende Übereinkunft, treffen sich Paula und der Pfefferminzbonbonvertreter jeden Tag auf dem Friedhof. Die Grabstätte der Mutter wird zu Paulas Mikrokosmos, einem Kontakt- und Zufluchtspunkt aus der häuslichen Einsamkeit und der Ausgangspunkt einer Reise zu sich selbst. Denn wenn Paula gerade nicht in den Gesprächen mit dem Fremden und in den Geschichten, die sie ihm erzählt, ihr Leben verarbeitet, flüchtet sie sich an ihren Schreibtisch. Abend für Abend widmet sie sich der Übersetzung eines englischen Schauerromans aus dem 19. Jahrhundert, der in seiner phantastischen Exzentrik an E.A. Poe und H.P. Lovecraft erinnert. Matthew, Arachnologe und Protagonist des Romans, fühlt sich wie seine Übersetzerin Paula einsam und isoliert und leidet an Verfolgungswahn. Es ist stets, als schaute sie in einen Spiegel, wenn sich Paula über das Manuskript beugt. Die Parallelen zwischen der Biographie Matthews und der ihrigen kommentiert sie zwar trocken, doch nicht ohne Mitgefühl: "Matthew tat mir leid. Ein Kind, das einer so exzentrischen und depressiven Mutter ausgeliefert war, konnte nur mit größten Verstörungen und Deformationen erwachsen werden". In ihrer Isolation baut sie langsam gar eine persönliche Beziehung zu Matthew auf, empfindet und spricht mit ihm.

Allmählich dringt die Kunst, hier in Form der literarischen Fiktion, in das reale Leben Paulas ein. Ihren vorläufigen Höhepunkt findet das Verschmelzen von Empirie und Phantasie, als Spinnen aus Matthews Welt ihre erfundene Existenz in schwarzen Buchstaben auf weißem Papier hinter sich lassen und plötzlich Wirklichkeit werden: "Eine Spinne auf dem Manuskript von ›Spider's Dance‹, das war trivial, und doch hockte, nein thronte sie dort und hatte Besitz ergriffen von meiner Arbeit. Ich stand wie paralysiert vor dem Schreibtisch und starrte das Tier an. Matthew, flüsterte ich, bitte hilf mir". Einmal mehr gerät Kulessas Roman zur impliziten Metanarration, wenn sie mit der Übersetzung von "Spider's Dance" auf die Schwierigkeiten einer Textentstehung verweist, deren Reiz sich in der wechselseitigen Spannung einer kohärenten Erzählung und der Fragilität inneren Erlebens gründet.

Trotz vieler narrativer Finessen und der Vielschichtigkeit der sich zu einem sorgfältig durchkomponierten Roman verwebenden Erzählstränge vermag Kulessa den Leser nicht immer ganz zu überzeugen: Ihre Wortspiele etwa bewegen sich stellenweise am Rande des Trivialen, wenn es in einem der unzähligen Gespräche zwischen Paula und dem Fremden heißt: "»Irgendwie trägt man doch immer einen Sack mit Schuldgefühlen herum, oder?« »Wie schwer ist ihr Sack?« »Ich kann keine Säcke tragen,« sagte ich, »ich hab es im Kreuz«". Manche Naturbeschreibung leidet unter überladener Metaphorik: "Es donnert, sagte ich zu dem Mann. Wieso donnert es? Der Himmel hatte sich zugezogen, und aus den schwarzen Wolken tropften Tränen, die sich mit meinen vermischten, und das Himmelsgrollen legte sich über mein Herzgrollen".

Mit Wetterverhältnissen, die sich an die Stimmungen der Figuren anpassen, haben nicht zuletzt besonders Groschenromane Teile der lesenden Bevölkerung erobert. Bei einem Text von erzählerischer Größe wie Der Große Schwarze Akt hingegen lesen sich solche abgedroschenen Phrasen eher als stilistische Missgriffe. Doch es ist ein Faux-pas, den man Kulessa rasch verzeiht, wenn man wieder eintaucht in das (Spinnen-)Netz aus Phantasie und Wirklichkeit. Und als sei deren Ununterscheidbarkeit mit der Verselbständigung der Spinnen aus dem Romanmanuskript heraus noch nicht auf die Spitze getrieben, erhält die Kunst nun vollends Einzug ins Reale. Es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass das titelgebende Gemälde des französischen Malers Jean Fautrier genau in der Romanmitte und damit in Spiegelstellung in Paulas Kopf auftaucht. Nicht nur die Personen aus ihren Geschichten kommen Paula als schwarze, nackte Frau aus dem dunklen Kolorit entgegen, am Bildrand kann sie ihren eigenen Namen entdecken. In den Bildern Fautriers begegnet Paula den "Hieroglyphen des Schmerzes", die sich zuvor auch in den Gesprächen mit dem Fremden spiegelten.

Fautriers Gemälde, der Große Schwarze Akt, ist kaum zu erkennen, nahezu unfassbar. Genau so unfassbar wie die Figuren im gleichnamigen Roman. Wer im Großen Schwarzen Akt außer Paula überhaupt real ist, enthält Kulessa den Lesern vor. Und darauf, dass auf die Phantasie kein Verlass und dass die Wirklichkeit erst recht nicht fassbar ist, verweist nicht zuletzt der fremde Zuhörer mit den Pfefferminzbonbons, Paulas "Friedhofstherapeut", der sich am Ende scheinbar im Nichts auflöst und von heute auf morgen nicht mehr in ihrem Leben auftaucht. Die Gespräche auf der symbolischen Freud'schen Friedhofscouch allerdings haben Paula beflügelt, ihr Leben zu ordnen und die Einsamkeit zu durchbrechen. Bei der Friedhofsverwaltung kümmert sie sich um Abhilfe für den umgefallenen Grabstein, und im Friedhofscafé trifft sie auf einen weiteren Fremden, den Gastroenterologen Hans-Jürgen Bender. Eine erfolgreiche Kontaktsuche, bei der man sich - ganz nonchalant und den anderen skurrilen Gesprächsthemen analog - über die Notwendigkeit von Darmspiegelungen unterhält. Eine absurde Begebenheit eben, die, ebenso wie der gesamte Roman, zeigt, dass viele Wege aus der Traurigkeit und Isolation führen. Das wahre Leben erscheint manchmal paradox und merkwürdig, und so kann auch ein eigentümlicher Ort wie der Friedhof eine heilende Wirkung ausüben.

Hanne Kulessa: Der Große Schwarze Akt. Roman. Bonn: Weidle 2008. 215 S. 21 €.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

 
Creative Commons License
Diese Inhalte sind unter einer Creative Commons-Lizenz lizenziert.