Vom Leben ausgezählt

Clemens Meyer: Die Nacht, die Lichter. Stories
Von Christian Mohorko

Es ist Nacht, als der farbige Boxer durch die Straßen einer ostdeutschen Stadt hetzt. Er presst sich an die Fassaden verfallener Häuser, schleicht durch dunkle Gassen in heruntergekommenen Vierteln und schiebt sich am Schein der Laternen vorbei wie ein Verbrecher: Und alles nur, damit sie ihn nicht finden. Er ist auf der Flucht, auf der Flucht vor den Schlägern, die es auf ihn und sein Geld abgesehen haben. "Er hatte acht lange und harte Runden gekämpft, aber er hatte mindestens Luft für zwölf." Sie werden ihn nicht kriegen, da ist er sich sicher. Er ist nicht nach Deutschland gekommen, um auf der Straße zu kämpfen, sagt er sich. Die harte Zeit im Ghetto von Rotterdam liegt schon lange zurück, das ist vorbei. Jetzt muss er eine Familie ernähren.

Der Boxer ist eine der vielen geschlagenen, vom Leben besiegten Figuren in Clemens Meyers Erzählband Die Nacht, die Lichter. Das Buch umfasst fünfzehn Kurzgeschichten, und auf dem Umschlag steht in blauer Schrift vom Titel abgesetzt: "Stories". Dass Clemens Meyer Hemingway - ebenfalls Box-Liebhaber - verehrt, daraus macht er kein Geheimnis. Und so dürfte der Band ein weiteres Indiz dafür sein, dass Meyer der amerikanischen Erzähltradition mit ihren short stories näher steht, von ihr mehr gelernt hat als von der deutschen Literatur. Denn Meyers Geschichten sind anders: Sie sind Grenzgänge. Da ist die Grenze zwischen dem bürgerlichen Leben und dem Abdriften in gesellschaftliche Randbereiche, die er nachzeichnet. Verlierer, das sind die Figuren, über die er schreibt - jedoch keineswegs Versager: Asyl-Bewerber, Junkies, Hartz-IV-Empfänger, abgehalfterte Boxer, sogar ehemalige Lehrer und abgestürzte Künstler. Den Ausruf einiger Feuilletonisten "Unterschicht!" will Meyer allerdings nicht gelten lassen, denn er findet sogar dort noch Unterschiede, wo andere längst nicht mehr hinsehen wollen. So streift er mit einem schnoddrigen, lakonischen Tonfall an der Seite dieser Schicksale durch ihren Kosmos am Rande der Gesellschaft, ohne den Finger zu heben oder ein Urteil zu sprechen.

Es sind Figuren, die sich mit ihrer Situation abgefunden haben und in der Trostlosigkeit einfach weitermachen. Wie der schwarze Boxer aus Holland. Einer, der zum Verlieren eingekauft wird, der keine Ambitionen mehr auf die große Karriere im Ring hat: "Ein Auslaufmodell, dachte er, ein Oldtimer, aber noch ganz gut in Schuss". Und dann geschieht etwas, das für fast alle Erzählungen des Bandes symptomatisch ist: Ein Licht flackert auf, der Verlierer wird für einen kurzen Moment zum Gewinner. Er hat seine Chance genutzt und einen talentierten Mann in Ostdeutschland vorzeitig geschlagen. Doch die Freude über den unerwarteten Sieg währt nicht lang, denn die Hebel der lokalen Boxmafia setzen sich langsam in Bewegung und fordern ihren Tribut. In einer Atmosphäre der Bedrohung und der Fremdenfeindlichkeit ist der schwarze Boxer gezwungen, im Schutz der Nacht die Flucht zu ergreifen. Am Ende jedoch bleibt ihm nach seinem Erfolg und der Gewissheit, dass der Kampf weitergehen muss, nur der Traum vom eigenen Boxstudio. Ich bin noch da! heißt diese Story, die vielleicht am versöhnlichsten ist. Und ihr Titel klingt wie eine Ansage.

Dass Meyer sich ständig an diese Grenze von Hoffnung und Verzweiflung heranschreibt, davon zeugt eine andere Geschichte: Von Hunden und Pferden. Um die lebensnotwendige, aber teure Operation seines Hundes Piet bezahlen zu können, steckt der mittel- und arbeitslose Rolf seine Stütze in Pferdewetten. Dann gewinnt er mit der Hilfe eines Wettkumpanen tatsächlich genug Geld, um seinen Hund retten zu können. Doch es gehört zweifellos zu den Stärken dieser Erzählung, dass dem Leser ein Happy End verweigert wird. Stattdessen wird ihm ein offenes Ende serviert, das sich gewaschen hat: Auf dem Heimweg von der Pferderennbahn tauchen hinter Rolf drei Männer auf. Genug Raum für düstere Vorahnungen und dunkle Gedanken. Die Hoffnung auf einen guten Ausgang für Rolf und Piet will man allerdings nicht aufgeben. Aber den Beigeschmack des Tragischen vergisst man nicht so schnell.

In der Erzählung In den Gängen wird diese bittersüße Note besonders deutlich: Der Erzähler Christian räumt nachts Regale in einem großen Supermarkt ein. Schon bald macht er sich mit seinem Kollegen Bruno bekannt und verliebt sich in die hübsche Marion. Wenn Bruno etwa von einem ruhigen und bürgerlichen Dasein auf dem Lande erzählt, und wenn Christian, ganz anders als die meisten Figuren des Erzählbandes, ein relativ geregeltes Leben führt, dann klingt das wie ein Bruch mit all den anderen Schicksalen der "Stories". Doch selbst hinter dem kleinbürgerlichen Anstrich kommt das Unglück langsam zum Vorschein: Marion wird von ihrem Mann verprügelt, die Angestellten koksen auf der Toilette und Bruno nimmt sich unvermittelt das Leben. Dass sich Christian und Marion vor diesem tragischen Hintergrund doch noch näher kommen, gibt der Geschichte ihren doppeldeutigen, weil gleichzeitig versöhnenden wie tragischen Charakter: Mit der Hydraulikanlage von Brunos Gabelstapler, dem Heben und Senken der Gabel, erzeugt Christian unter der Anweisung Marions ein Geräusch, das sich wie das Rauschen des Meeres anhört. Ein Geräusch, dem sich beide schließlich hingeben: "Du musst still sein. Ganz still sein. Das Rauschen hörst du, wie das Meer."

Traum und Sehnsucht, das sind bestimmende, immer wiederkehrende Motive der Erzählungen: Die Sehnsucht nach dem fernen Südamerika, nach dem Meer, dem Abenteuer, dem Seitensprung, dem eigenen Gym oder der Aufenthaltsgenehmigung - so anziehend und verheißungsvoll wie der Schein eines Lichtes in der Nacht. Meyer beschreibt den kargen Alltag seiner Figuren zwischen "klirrenden Bierflaschen" und leeren Schnapsgläsern, harten Trainingseinheiten und Drogenentzug, und damit die Spannung zwischen ihren Träumen und dieser kaum zu verkraftenden Realität wie schon in seinem Debütroman Als wir träumten. Aber es gibt sie eben, bei aller Tragik, diese wenigen Momente des Glücks.

Dass einige Kurzgeschichten bei genauerem Hinsehen in der Qualität etwas abfallen, ist verzeihlich. Es scheint so, als schlage Meyer gelegentlich einen Haken zu viel. In Es kommt ein Schiff wirbelt er die Chronologie der Erzählung all zu sehr durcheinander; die Geschichte verliert an jener Geradlinigkeit, die an anderen Stellen eine so tragende Rolle spielt. Doch das schmälert die Stärke anderer Storys keineswegs. Im Gegenteil, es kräftigt ihr Profil. Denn Meyer schreibt gerade dann am besten, wenn man seinen sorgfältig komponierten Texten nicht anmerkt, dass sie gemacht sind. So wirkt dieser Erzählband wie ein gutes Sparring: Man boxt zwar keinen Wettkampf, aber man bekommt eine Ahnung davon, wie es ist, in den Ring zu steigen, bis an die eigenen Grenzen zu gehen - und vielleicht ausgezählt zu werden.

Clemens Meyer: Die Nacht, die Lichter. Stories. Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2008. 266 S. 18,90 €.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

 
Creative Commons License
Diese Inhalte sind unter einer Creative Commons-Lizenz lizenziert.